Anderer Fokus

Ein Freund meines Mannes hat spät Kinder bekommen; das älteste ist acht Jahre, das Jüngste drei Monate alt. Als er noch Single (und kinderlos) war, fielen mir bei ihm unter anderem zwei Eigenschaften auf: Aufgrund einer chronischen Darmerkrankung aß er bewusst langsam und kaute sehr intensiv. Zum anderen erzählte er äußerst ausführlich – die Telefonate zwischen ihm und meinem Mann dauerten oft zwei Stunden. Seit acht Jahren ist beides vorbei. Er isst schneller und fasst sich am Telefon kürzer – oft unvermittelt, weil die Kinder seine Aufmerksamkeit brauchen.

Mich wundert das nicht; ich glaube, dass nichts unser Leben so eindrücklich verändert wie Kinder. Manches, was uns als Kinderlosen wichtig war, gehört für Eltern der Vergangenheit an: Nur die uns besonders wichtigen Dinge pflegen wir auch in einem von Kindern dominierten Alltag. Das fühlt sich manchmal wie ein Verlust an – einerseits.

Andererseits können wir das Leben auch so betrachten wie die junge Frau, mit der ich kürzlich telefonierte. Ihre vier kleinen Kinder sind seit Wochen abwechselnd krank: Magen-Darm, grippale Infekte. In unserem Gespräch war sie trotzdem vor allem dankbar: „Ich bin so froh, dass ich zu Hause sein kann. Früher habe ich die beiden Großen oft zu früh wieder in die Schule geschickt, um wieder arbeiten gehen zu können. Heute empfinde ich mein Zuhause-Sein als Privileg – und die Kinder können sich richtig auskurieren.“ Es ist nicht der Verlust der Arbeitsstelle und Selbstbestimmung, der ihr Denken dominiert. Stattdessen freut sie sich über den neuen Fokus, den ihr Leben durch die Kinder bekommen hat. Ich bin mir sicher, dass diese Anpassungsfähigkeit ihr auch an anderer Stelle helfen wird.

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