alter weißer mann

An einem Brückengeländer bei uns in der Nähe sind seit kurzem Aufkleber in neon-orange angebracht: `alter weißer mann´ steht da drauf. Was das aussagen soll, frage ich mich – und wem hilft das? Alte weiße Männer müssen herhalten für alles Mögliche: Ihretwegen sind Frauen nicht gleichberechtigt und alle Nicht-Weißen strukturell diskriminiert – was auch immer DAS genau heißt und woran man dieses Phänomen festmacht. Wahrscheinlich ist es sogar kulturelle Aneignung, wenn alte weiße Männer es wagen, sich zum Karneval als Indianer zu verkleiden.

Ihr armen alten weißen Männer, denke ich, ihr tut mir leid: Euch geschieht Unrecht! Zum einen seid ihr gar keine homogene Gruppe; die wenigsten unter euch sind dominant, rassistisch oder kulturell übergriffig. Zum anderen seid ihr aufgewachsen in einer Zeit, in der Dinge so waren, wie sie waren – wie alle anderen Menschen auch. Manches war gut, manches nicht; von manchem haben einige von euch profitiert. Im Großen und Ganzen gestaltet ihr euer Leben nach guten Prinzipien. Euer Arbeitsethos beispielsweise treibt heutigen Chefs Tränen des Neides in die Augen; ihr haltet Frauen die Tür auf – ohne auf deren Hautfarbe zu achten. Wer von euch sich als Indianer verkleidet, hat in jungen Jahren vielleicht Karl May gelesen und Cowboy und Indianer gespielt: Männer aus Fleisch und Blut waren rar in eurer Kindheit, also musstet ihr selbst schnell zu Männern werden. Heute sind viele der Werte von damals verpönt; ihr müsst euch rechtfertigen für das, was lange als `normal´ galt (und der gesamten Gesellschaft nutzte).

Dabei könnt ihr als alte weiße Männer heute nur verlieren: Prallt die Kategorisierung an euch ab – dann geltet ihr als ignorant. Wehrt ihr euch dagegen – bestätigt das euer ohnehin schon schlechtes Image, uneinsichtig zu sein (vielleicht sogar intolerant). Sucht ihr (halb einsichtig, halb verunsichert) nach einem Mittelweg, bringt dieser die Debatte wahrscheinlich nicht zu einem versöhnlichen Ende. Die Deutungshoheit über die letzten Jahre eures Lebens, liebe alte weißer Männer, liegt in der Hand anderer.

Ich bin noch zu jung für alt und außerdem eine Frau; ich teile mit euch nur die Hautfarbe. Aber, frei nach Voltaire: „Ich bin zwar in einem völlig anderen Boot unterwegs, aber ich mache Ihnen gern Platz, damit Sie Ihre eigene Weiterfahrt frei gestalten können.“

PS: Direkt neben den `alter weißer Mann´-Aufklebern hängen andere: `amazon nein danke´. Das passt, finde ich. Alte weiße Männer nutzen Amazon wahrscheinlich ohnehin nicht.

Hoffentlich!

Bei der Abi-Entlassung unseres Sohnes spricht erst der silberne, dann der goldene Abiturient. Beide sehen entsprechend (alt) aus, wirken und reden jedoch erfrischend unkonventionell und kurzweilig. `25 Jahre Abi´, denke ich, `das ist ganz schön lange her.´ Ich fange an nachzurechnen: Bei mir sind es 34 Jahre, fast auf den Tag genau. Wahrscheinlich sehe auch ich entsprechend aus – und kann nur hoffen, ebenso erfrischend und kurzweilig zu wirken und zu reden wie die beiden.

Einstellungssache

In gewisser Hinsicht war es früher leichter, alt zu sein. Meine Großmütter wurden beide (fast) 90 Jahre alt. Verglichen mit heute waren sie in ihrem Leben nicht viel unterwegs. In ihren letzten Jahren wurden sie körperlich unbeweglicher, ohne dass sich das stark auf ihren Alltag auswirkte: Bis fast zuletzt konnten sie machen, was ihnen in ihrem ganzen Leben wichtig war – sich selbst versorgen, Menschen begegnen (in Maßen), ein paar Schritte vor die Tür.

Ihre Kinder leben anders und die Enkel erst recht: Wir sind viel unterwegs und unternehmen andauernd etwas: Ein Kino- oder Konzertbesuch in 30 Kilometer Entfernung – kein Problem. Wir schaffen es zur Not an einem Tag, jemanden zu besuchen, der 250 Kilometer entfernt wohnt; und im Urlaub fliegen wir um die halbe Welt. Diese Form der Mobilität wird im Alter schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Je umtriebiger man in jungen Jahren lebt, umso mehr wird man später `lassen müssen´. Man kann das als höchst bedauerlich empfinden, als eine unwillkommene Einschränkung. Oder aber man akzeptiert es als normalen Lauf der Dinge, erinnert sich gern an Schönes und ist dankbar für das, was `noch geht´. (Und, ja, all das fängt nicht erst mit 80 an.)

Überlebenstraining?

„Ein Überlebenstraining für alle ab 50“ lautet der Untertitel eines Buches, das ich gerade lese. Ich finde es amüsant – aber leider nicht mehr. Ein Teil der Ratschläge zielt darauf ab, sich mit dem eigenen Alter zu arrangieren; weiterhin wimmelt es von Hinweisen, wie sich die äußere Erscheinung „verjüngen“ lässt: Botox spritzen, Haare färben, permanentes Make-up auftragen, Beinenthaarung für 50-jährige ungelenke Frauen, Fingernägel-Styling …

All diese Maßnahmen sind nicht verwerflich; nur finde ich sie für mich absolut nicht hilfreich. „Wie überlebe ich die 50, ohne dass ich so aussehe?“, ist nicht die Frage, auf die ich eine Antwort suche. „Wie werde ich 50 und fühle mich auch so?“, steht viel drängender im Raum. Dass ich nicht mehr jung bin und mich optisch dementsprechend verändere, weiß ich und finde es nicht problematisch. Mein Lebensgefühl dagegen scheint nicht Schritt zu halten mit den verfliegenden Jahren: Als 50-Jährige sollte ich Anzeichen von Altersweisheit zeigen, denke ich. Stattdessen fühle ich mich in mancher Hinsicht unsicherer und weniger kompetent, als mein Alter vermuten lässt. Woran das liegt? Ich weiß mehr als früher; vor allem weiß ich mittlerweile, dass ich ganz viel nicht weiß.

Altersweise sind diejenigen, die viel wissen; als altersstarrsinnig gilt jemand, der meint, alles zu wissen. Die Grenze ist ein feiner Grat. Vom Wissensumfang her nähere ich mich weder dem einen noch dem anderen. Das ist vielleicht nicht das Schlechteste – und es bestätigt, dass man mit 50 zwar „nicht mehr jung“, aber noch lange nicht „alt“ ist. „Überlebenstraining“ kommt später, viel später!

Selbstanalyse: Dazwischen

Einerseits: Ich kann keine Tänzerin mehr werden und bin nicht mehr besonders spritzig unterwegs. Bei einer U40-Party darf ich nicht mehr mitfeiern und werde nicht mehr ohne Probleme eine weitere Fremdsprache lernen. In Bezug auf die digitale Entwicklung gilt für mich: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“

Andererseits: Ich komme noch aus eigener Kraft überall hin und fast nie zu spät. Ich bin grundsätzlich überlebenstauglich und habe aufgrund meiner Lebensdauer eine Menge Erfahrung, auf die ich zurückgreifen kann. Auch weil ich ohne Smartphone aufgewachsen bin, kann ich improvisieren und weiß, dass Lösungen nicht nur im Internet zu finden sind.

Ich bin nicht mehr jung und noch nicht alt, ich bin genau dazwischen.