Wir leben in einem freien Land. Unsere Freiheit ist uns wichtig und die der anderen auch. Das Schlüsselwort heißt tolerant, aber sind wir das wirklich? Es existieren viele Regeln für unser Zusammenleben, denn ohne geht es nicht – im Straßenverkehr, im Einkaufsladen, in Beziehungen. Vor allem der ungeschriebenen Grundsätze sind wir uns nicht immer bewusst; trotzdem halten wir uns normalerweise an sie: Wir gehen nicht nackt auf die Straße; wir entschuldigen uns, wenn wir jemandem über den Haufen rennen; wir antworten auf Fragen und stellen uns an der Kasse hinten an. Wir bezahlen, ohne zu feilschen; wir verstehen unter Pünktlichkeit einen Korridor von plus/minus 15 Minuten (oder weniger); wir essen keine Hunde oder Katzen und räumen im Bus unseren Platz für ältere Mitbürger. Und so weiter und so fort.
In vielen „großen“ Fragen gibt es in jeder Kultur einen mehr oder weniger klaren Kanon von „So macht man das.“ In Details kommt zusätzlich zu unserem deutschen Erbe noch unsere Familienprägung zum Tragen: Ironie gehört nicht überall zur besten Art, Witze zu machen. „Verschwiegen“ lässt sich unterschiedlich interpretieren und Kommunikationsstrukturen variieren: Sie reichen zum Beispiel von „Ich lasse den anderen in Ruhe ausreden und rede dann erst“, bis hin zu: „Wenn du dir deine Redezeit nicht selbst erkämpfst, kommst du nicht zu Wort.“
Wie wir persönlich gestrickt sind, können wir manchmal kaum richtig benennen. Es wird uns vor allem dann klarer, wenn wir Menschen treffen, deren persönliche Vorstellungen von „So mache ich das!“ zu weit von unseren abweichen. Bin ich höchstens erstaunt und finde es interessant, wenn eine Freundin persönliche Dinge von mir publik macht? Oder bedeutet ein solches Verhalten mindestens das Ende jedes weiteren vertraulichen Gespräches oder sogar das Ende unserer Freundschaft?
Mit vielen Unterschiedlichkeiten können wir leben, glaube ich. Vielleicht denken wir das aber auch nur. Vielleicht ist in Wirklichkeit unsere Zündschnur sehr kurz, wenn jemand unsere persönliche Grenze überschreitet – weil uns erst genau in diesem Moment klar wird, dass wir sie haben. Bestenfalls schießt uns dann ein: „So macht man das – was machst du denn und wie?“, durch den Kopf. Schlimmstenfalls denken wir nicht nur ziemlich intolerant, sondern verhalten uns auch so.