Von der Hoffnung …

Ich bin mit dem Rad unterwegs: zur Schneiderin, dann Geld abheben und Blumen holen für eine Freundin, die Geburtstag hat. Auf dem Weg zu ihr muss ich eine Brücke passieren. Dort wird gebaut; nur eine Spur steht zur Verfügung. Neben der Bedarfsampel steht ein Schild, dass Fußgängern und Radfahrern die Weiterfahrt untersagt. Da stehe ich mit meinem Blumenstrauß in der Hand und frage mich, wie ich weiterkomme. Nur ein anderer Weg über den Fluss kommt alternativ in Frage: ein Umweg von etwa acht Kilometern – mit dem Rad jetzt viel zu weit. Soll ich einfach trotz des Schildes fix über die Brücke radeln? Auf der abgesperrten Spur ist Platz; Bauarbeiter sind nicht zu sehen. Letztlich traue ich mich aber nicht, das Verbotsschild zu ignorieren. Zu tief sitzt der Drang, offizielle Regelungen befolgen zu müssen.

Ich schiebe das auf meine frühe Sozialisierung im Osten Deutschlands: „Kommen Sie bitte zur Klärung eines Sachverhalts mit auf die Polizeistation.“ Obwohl ich weiß, dass mir das hier auf keinen Fall passieren wird, spüre ich ein Grundgefühl aus Angst und Unsicherheit, sobald etwas nach `illegal´ klingt.

Also radele ich – frustriert mit mir selbst – nach Hause und hole das Auto. Wieder an der Brücke, kommt mir eine Fußgängerin entgegen: fröhlich telefonierend. Im Gegensatz zu mir hat sie sich durch das Schild nicht bremsen lassen. Ich bewundere sie und nehme mir vor, es ihr beim nächsten Mal gleichzutun. Vielleicht gelingt es mir ja dann, meine Prägung zu überwinden. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

So macht man das!

Wir leben in einem freien Land. Unsere Freiheit ist uns wichtig und die der anderen auch. Das Schlüsselwort heißt tolerant, aber sind wir das wirklich? Es existieren viele Regeln für unser Zusammenleben, denn ohne geht es nicht – im Straßenverkehr, im Einkaufsladen, in Beziehungen. Vor allem der ungeschriebenen Grundsätze sind wir uns nicht immer bewusst; trotzdem halten wir uns normalerweise an sie: Wir gehen nicht nackt auf die Straße; wir entschuldigen uns, wenn wir jemandem über den Haufen rennen; wir antworten auf Fragen und stellen uns an der Kasse hinten an. Wir bezahlen, ohne zu feilschen; wir verstehen unter Pünktlichkeit einen Korridor von plus/minus 15 Minuten (oder weniger); wir essen keine Hunde oder Katzen und räumen im Bus unseren Platz für ältere Mitbürger. Und so weiter und so fort.

In vielen „großen“ Fragen gibt es in jeder Kultur einen mehr oder weniger klaren Kanon von „So macht man das.“ In Details kommt zusätzlich zu unserem deutschen Erbe noch unsere Familienprägung zum Tragen: Ironie gehört nicht überall zur besten Art, Witze zu machen. „Verschwiegen“ lässt sich unterschiedlich interpretieren und Kommunikationsstrukturen variieren: Sie reichen zum Beispiel von „Ich lasse den anderen in Ruhe ausreden und rede dann erst“, bis hin zu: „Wenn du dir deine Redezeit nicht selbst erkämpfst, kommst du nicht zu Wort.“

Wie wir persönlich gestrickt sind, können wir manchmal kaum richtig benennen. Es wird uns vor allem dann klarer, wenn wir Menschen treffen, deren persönliche Vorstellungen von „So mache ich das!“ zu weit von unseren abweichen. Bin ich höchstens erstaunt und finde es interessant, wenn eine Freundin persönliche Dinge von mir publik macht? Oder bedeutet ein solches Verhalten mindestens das Ende jedes weiteren vertraulichen Gespräches oder sogar das Ende unserer Freundschaft?

Mit vielen Unterschiedlichkeiten können wir leben, glaube ich. Vielleicht denken wir das aber auch nur. Vielleicht ist in Wirklichkeit unsere Zündschnur sehr kurz, wenn jemand unsere persönliche Grenze überschreitet – weil uns erst genau in diesem Moment klar wird, dass wir sie haben. Bestenfalls schießt uns dann ein: „So macht man das – was machst du denn und wie?“, durch den Kopf. Schlimmstenfalls denken wir nicht nur ziemlich intolerant, sondern verhalten uns auch so.