Praktikabel oder nicht?

In meiner Schulzeit durchlief ich das Fach ESP – Einführung in die sozialistische Produktion. Ich war dafür regelmäßig in einem Betrieb und sollte am Ende einen Bericht darüber schreiben. In meinem Fall ging es um Qualitätssicherung – genauer gesagt um Kontrollrichtlinien. Konkret kann ich mich an fast überhaupt nichts mehr erinnern. Ich war wochenlang damit beschäftigt, ein existierendes Papier zu überarbeiten, dessen praktischer Nutzen mir schon damals fraglich erschien. Nur eine Tatsache hat sich in mein Gedächtnis gebrannt – der Eindruck, etwas vollkommen Überflüssiges zu tun. Mir war schnell klar: Papier ist geduldig.

Natürlich muss es derartige Richtlinien geben – und einheitliche Standards. Trotzdem achtet der eine Mitarbeiter mehr auf gründliche und gewissenhafte Ausführung und der andere weniger. Nach kurzer Zeit wissen alle genau, was praktikabel ist und was nicht. Dem müssen die Vorgaben standhalten, sonst werden sie nicht umgesetzt – und nicht ernst genommen.

Seit Wochen erhalte ich als Mutter regelmäßig überarbeitete Hygienekonzepte für die Schule. Sie sind seitenlang, präzise und lesen sich wie Anweisungen für Menschen, die mit hochgefährlichen toxischen Substanzen arbeiten. Teilweise gehen sie jedoch an der Realität einer Schule mit mehreren hundert Schülern vollkommen vorüber. „Nach jedem Berühren der Maske sollen mindestens 20 Sekunden die Hände gewaschen werden“, steht da beispielsweise. Ich wage zu behaupten: DAS tut KEIN Schüler; auch der noch so vorsichtige wird nicht jedesmal, wenn er seine Maske berührt hat, zum Waschbecken rennen. Stattdessen wissen nach kurzer Zeit alle genau, was praktikabel ist und was nicht – egal, was im Hygienekonzept steht. Dem müssen die Vorgaben standhalten, sonst werden sie nicht umgesetzt – und nicht ernst genommen. Noch immer gilt: Papier ist geduldig.

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