Ebenso oder eben anders

Aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wirkt fast jedes Ding und fast jede Situation anders. Nur vollkommen symmetrische Objekte wie zum Beispiel Kugeln sehen aus jeder Perspektive gleich aus. Und eine Situation ist höchstens dann eindeutig, wenn maximal ich selbst beteiligt bin. Sobald mehrere Menschen `im Spiel´ sind, wird es kompliziert: Niemand nimmt etwas ebenso wahr wie ich, versteht Bemerkungen ebenso wie ich, bewertet Aussagen ebenso wie ich oder reagiert ebenso wie ich. Niemand. Ich lebe ganz klar in meiner eigenen Wahrheit – und das geht allen anderen Menschen ebenso. Jede dieser Wahrheiten ist (irgendwie) wahr. Es wäre viel gewonnen, wäre mir das ebenso klar wie meine eigene Sichtweise!

Wie warm?

Nach den eiskalten Tagen gehe ich – viel zu warm angezogen – spazieren und treffe andere – viel zu warm angezogene – Spaziergänger. Wir sind uns einig: Es sind zwar `nur´ sechs Grad, die fühlen sich aber an wie 16 Grad. Ich genieße es, dass ich nicht mehr friere: weil mein Körper sich an die Eiseskälte gewöhnt hatte. Wer bei minus 11 Grad draußen war, dem erscheinen 6 Grad dann eben als warm.

Noch einige Tage später sind es tatsächlich 16 Grad, die sich auch wie 16 Grad anfühlen. Ich bin nicht mehr zu warm angezogen; allerdings gewöhnt mein Körper sich jetzt wieder an frühlingshafte Temperaturen. Ich könnte mich darüber freuen, tue es aber nicht. Denn der Winter ist noch nicht vorbei; es wird wieder kälter, und dann werde ich wieder frieren. Diese wechselhaften Temperaturen kenne ich schon: Sie haben nicht viel mit einem allgemeinen Klimawandel zu tun, sondern mit der Gegend, in der ich wohne. Seit über 25 Jahren erlebe ich im Winter schwankende Temperaturen, oft Regen, nur manchmal Minustemperaturen, selten Schnee – und das alles von Oktober bis März.

Nur kein Druck?

In Niedersachsen denken Politiker ernsthaft darüber nach, die Schulnoten abzuschaffen. Nur in den Abschlussjahrgängen 9, 10 und 13 seien Zensuren weiterhin zwingend nötig, meinen sie. In allen anderen Klassenstufen wären Lernentwicklungsberichte die bessere Alternative: Diese würden `den Leistungsdruck reduzieren, den viele Schüler empfänden´. Leistungsdruck ist in diesem Zusammenhang und für diese Menschen eindeutig negativ konnotiert – und das wundert und erschreckt mich zugleich.

Druck braucht es zum Beispiel, damit wunderschöne Diamanten entstehen. Zeitdruck hilft mir dabei, meine Anstrengungen zu intensivieren und mich besser auf ein Ziel zu fokussieren. Und wenn ein gewisser Erwartungsdruck auf mir lastet, mobilisiere ich Energien, von denen ich vorher nicht wusste, dass sie in mir stecken.

Das Gegenteil von Druck ist vollkommene Freiheit. Aber sind wir freiwillig bereit, uns anzustrengen und etwas RICHTIG GUT zu machen? Oder geben wir uns stattdessen mit einer gewissen Mittelmäßigkeit zufrieden, wenn der Ansporn eines klaren Ergebnisses fehlt? Ein Leben ohne Druck, ohne Auseinandersetzung, ohne Ziele – das ist ein Leben, in dem Beliebigkeit herrscht. Das klingt noch nicht einmal positiv und ist es auch nicht.

Wer sich `stets bemüht hat´, kann damit acht Schuljahre lang höchst zufrieden sein. Spätestens dann wird daraus maximal eine 5 oder 6. Eine Schulkarriere voller ermutigender Lernentwicklungsberichte könnte so mit einer Vollbremsung enden oder direkt vor der Wand. Wie Schülerlein ohne Vorwarnung mit dem Druck dieses Aufpralls zurechtkommen soll, ist mir ein Rätsel.

Altersgerecht

Meine Schwester feiert dieses Jahr in kleiner Runde und sehr ruhig Silvester – gegen ihre sonstigen Gepflogenheiten. „Das wird bestimmt … schön!“, will ich sagen, denn, was sie beschreibt, würde mir auch gefallen. Sie unterbricht mich aber und sagt: „… altersgerecht, das ist altersgerechtes Feiern.“ Es klingt ein ganz kleines bisschen abfällig – zumal ich deutlich jünger bin als meine Schwester und schon lange so feiere.

Glücklicherweise fühle ich mich nicht so, als hätte ich all die Jahre etwas verpasst.

Brief an meine Freundin

Wir werden beide älter: Es dauert alles etwas länger, manche Dinge sind uns inzwischen zu anstrengend. Du schaust mich an und sagst, du könntest zum Beispiel nicht joggen gehen – wie ich. Ich schaue dich an und sage, ich könnte nicht den ganzen Tag im Stall arbeiten, nebenbei ein Zimmer renovieren und mittags pünktlich das Essen auf dem Tisch haben – wie du.

Ich kann manches, was du nicht könntest; und du kannst eine Menge, was ich nicht könnte. Dabei würden wir beide fast alles lernen oder uns daran gewöhnen, wenn wir es einübten. Es gibt für alles ein erstes Mal, und das ist immer ungewohnt und anstrengend. Mit der Zeit wird man besser, bekommt Routine und erledigt das Gelernte mit weniger Anstrengung als am Anfang.

Zwischen `ich kann´ und `du könntest nicht´ liegt also nur eine Zeit des Übens – in unserem Fall sind es zwei verschiedene Lebensstile. Der eine ist nicht besser als der andere: Du bewunderst mich vielleicht; ich bewundere dich auf jeden Fall!

Dringend

Normalerweise haben wir ein Handy, um in dringenden Fällen überall und jederzeit erreichbar zu sein. Aber was ist schon normal? Ich lasse mein Handy drei Tage liegen, ohne es anzurühren. Einer Freundin schreibe ich vorher, sie könne mich in dringenden Fällen gern übers Festnetz erreichen. Es klingt gleichzeitig komisch und gut.

Erschreckende Tyrannei

Vor einigen Monaten war in der Presse von der `Tyrannei der Ungeimpften´ die Rede: ein scharfes Urteil. Man wusste damals manches nicht, was man heute weiß – unter anderem dass gegen Corona geimpfte Menschen andere trotzdem anstecken können. Dazu herrschte ein großer Druck, etwas zu tun, ohne alle Zusammenhänge genau zu kennen. Die Formulierung passte in die Zeit und zu der Atmosphäre, die herrschte. Trotzdem hielt ich sie für mehr als unglücklich: Sie diffamiert und verurteilt Menschen, die etwas NICHT tun – und sie ist unbarmherzig. 

Heute wissen wir mehr. Und deshalb wünschte ich mir im Nachhinein eine Korrektur (nicht nur) dieser übers Ziel hinausschießenden Phrase. Leider passiert das nicht – im Gegenteil!

„Die Tyrannei der Ungeimpften? Dazu stehe ich“, lese ich in einem Interview mit demjenigen, der den Begriff damals prägte. Spätestens jetzt ärgere ich mich. Es war Zeit genug, sich zu informieren und zu reflektieren – wenn schon nicht über manche Entscheidung, dann zumindest über das Wort Tyrannei. Bei Wikipedia heißt es: `Als Tyrannei bezeichnet man in stark abwertendem Sinn eine als illegitim betrachtete Gewalt- und Willkürherrschaft eines Machthabers oder einer Gruppe.´ Diktatoren gelten als tyrannisch – gewaltbereit, willkürlich und oft illegitim an der Macht. Die meisten Ungeimpften dagegen waren weder willkürlich noch übten sie Gewalt aus; sie ließen sich lediglich – ganz legitim – nicht impfen. Dennoch wurden sie abgewertet, ausgegrenzt und wie Geächtete behandelt – offiziell und oft auch im privaten Umfeld. An manches erinnern wir uns kaum noch. Wir vergessen schnell, dabei hat mehr gelitten unsere Gesundheit: Einige Menschen sind sich nicht mehr sicher, dass es legitim ist, eine eigene Meinung zu haben.

Für mich persönlich beinhaltet das Wort Tyrannei weiterhin den Schrecken gewaltbereiter Diktatoren. Gleichzeitig denke ich daran, wie leichtfertig es in den vergangenen zwei Jahren `Otto Normalverbraucher´ von nebenan zugesprochen wurde. Dass sich im Dezember 2022 der eine oder andere noch immer nicht von dieser Formulierung distanziert, geschweige denn dafür entschuldigt, finde ich auf andere Weise erschreckend.

Vom Laufen

Einige Wochen war ich krank – und konnte keinen Sport machen. Dann fühlte ich mich fit genug, meinen Körper in Schwung zu bringen. Aber es war noch sehr, sehr kalt: kein Laufwetter für meine gerade wieder genesenen Atemwege. Ich wich aus aufs Rudergerät. Das war in Ordnung, vielleicht sogar gut, auf jeden Fall fühlte ich mich hinterher frisch und lebendig.

Ein paar Tage später ist es nicht mehr eisig kalt, sondern mild – Laufwetter. `Ich muss mich erst wieder rantasten´, denke ich vorher. Meine Runde kann ich beliebig und spontan verlängern oder abkürzen. Unnötige Überlegungen: Es läuft, ICH laufe, als hätte ich nicht wochenlang ausgesetzt. Beim Laufen fühle ich mich währenddessen schon frisch und lebendig!

Vom Mangel

In der Zeitung lese ich, dass über die nächsten zehn Jahre zu wenige Lehrer da sein werden. Es mangelt an Menschen, die gern unterrichten möchten – woran das wohl liegt? Diese Frage stellt sich unsere Bildungsministerin offenbar nicht. Stattdessen sagt sie, gehe es darum, diesen Mangel in Zukunft zu gestalten. Ich frage mich, was das heißt. Es klingt ein wenig wie `Mangel verwalten´, also sich um das Vorhandene zu kümmern – nur vielleicht auf kreativere Art und Weise. Aber auch ge-stalten kann man nur das oder mit dem, was da ist. Unterm Strich bleibt daher: Über die nächsten zehn Jahre werden zu wenige Lehrer da sein.

Alle Jahre wieder

Wie jedes Jahr Ende Dezember kommt seit einigen Tagen mehr private Post als sonst. Weihnachten schreiben auch Menschen noch Briefe oder Karten, die das sonst nicht tun. Ich freue mich sehr über jeden Gruß; einige sind tatsächlich unerwartet, alle freundlich, zwei oder drei besonders: Solche ehrlichen und wertschätzenden Worte sagen oder schreiben wir uns sehr selten. Brauchen wir einen äußeren Anlass, um loszuwerden, was uns wirklich bewegt? Sind wir zum Jahresende in einer anderen Stimmung als das Jahr über oder haben wir einfach mehr Zeit? Es ist mir egal, ich freue mich einfach – alle Jahre wieder.