Der Bessere möge gewinnen?

Eine Weisheit Dantes lautet: „Möge der Bessere gewinnen.“ Ich stimme ihr ohne Zögern zu – auf den ersten Blick.

Auf den zweiten Blick: Denke ich wirklich so gerecht? Will ich immer, dass der Bessere gewinnt? Wenn Deutschland ausgeschieden ist bei der WM, der EM oder sonstwo – ja, dann kann meinetwegen der Bessere gewinnen. Solange Deutschland dabei ist, freue ich mich immer, wenn wir gewinnen – egal ob wir wirklich besser waren oder nicht. Ich kann auch mit einem unverdienten Sieg gut leben, jedenfalls viel besser als mit einer unverdienten Niederlage! Ebenso geht es mir bei meinen Kindern und ihren Mannschaften: Sie müssen schon grottenschlecht spielen oder unfair oder von Anfang an haushoch unterlegen sein, damit ich eine Niederlage wertneutral oder zufrieden hinnehme – wenn auch hauptsächlich um ihretwillen.

Es gibt sicherlich Bereiche, in denen ist es mir egal. Ob Deutschland beim Anbau von Mangos gut abschneidet zum Beispiel, das ist mir egal, das ist nicht unser Ressort, das können andere besser – und darüber freue ich mich dann auch. Oder wenn mein Sohn den Vorlesewettbewerb nicht gewinnt, auch das kann ich gut aushalten – denn: Vorlesen ist nicht seine größte Stärke, das können andere sicherlich besser. Gewönne er, würde ich mich freuen, klar. Aber eher für ihn; ich liebe ihn auch ohne Sieg, ich bin sowieso stolz auf ihn und freue mich, dass er überhaupt liest.

Wenn es im Rahmen des Erreichbaren erscheint, dass jemand etwas gewinnt, dem ich mich irgendwie verbunden fühle: dann bin ich letztlich immer für denjenigen. Dann bin ich total parteiisch. Auch wenn mir die deutsche Nationalmannschaft nur durch ihre Nationalität nähersteht als die französische, hätte ich mich für die Deutschen sehr gefreut. Persönlich kenne ich in keiner Mannschaft jemanden; jeder hat genauso hart trainiert und genauso viel Geld dabei verdient. Es könnte mir total wurscht sein. Auch ändert sich für mich nichts, das merke ich doch: Heute ist es schon wieder Schnee von vorgestern, dass dieses Jahr die Franzosen Weltmeister geworden sind – nur eine Notiz in der Statistik. Ein Freund von mir kennt sich besser aus als ich. Er sagt, die Franzosen waren dieses Mal einfach besser. Ich schätze allerdings, das ist letztlich egal. Am Ende zählt nur der Sieg. Von wegen „der Bessere möge gewinnen“!

Ich lese viel und trotzdem …

Im Gespräch mit einer Freundin ging mir (und ihr) kürzlich auf, dass ich Wolfgang Herrndorf nicht kenne. Der Name sagte mir nichts. Der Blick meiner Freundin war deutlich: „Das kann nicht wahr sein, die kennt den nicht.“ Der Titel seines bekanntesten Buches „Tschick“ sagte mir dann doch etwas, aber ich hab´s nicht gelesen. Und nur vom Reinschauen – Schullektüre meiner Tochter – habe ich den Autorennamen nicht behalten.

Mir geht’s jetzt gar nicht darum, ob mir durch meine Ignoranz etwas entgangen ist oder nicht. Lektüre ist ohnehin Geschmackssache. Mir geht’s um etwas anderes: Was muss ich gelesen haben als Deutsche in Deutschland im 21. Jahrhundert? Welchen Autor muss ich kennen? Gibt es einen aktuellen Buch-Kanon, der Kulturgut ist, wird, sein sollte?

Grundsätzlich halte ich mich für eine Viel-Leserin – ohne dass ich weiß, wo beim Lesen der Durchschnitt liegt. Ich lese weder Arzt-Romane noch die Gala, auch Fantasy-Bücher sind nicht so meins, ich lese nur selten Krimis und kaum Sachbücher. Und doch lese ich relativ viel – vor allem Romane, gern auch Biografien und geistliche Bücher, am regelmäßigsten Bücher der Bibel. Und: Ich lese gern auf Englisch. Das schränkt mein Wissen um deutsche Literatur natürlich ein. Ob ein Buch auf der Spiegel-Bestseller-Liste steht oder nicht, interessiert mich nicht und ist kein ausschlaggebendes Kriterium. Auch beobachte ich nicht die aktuellen Neuerscheinungen oder die Frankfurter Buchmesse. Von daher bin ich wahrscheinlich nicht up to date, was „man“ so liest.

Viel zu lesen, ist nicht dasselbe wie Belesensein. Viel zu lesen, sorgt nicht dafür, dass ich die wichtigen Autoren kenne. (Wer auch immer festlegt, welcher Autor wichtig ist und welcher nicht.) Viel zu lesen, macht mich wahrscheinlich noch nicht einmal besonders schlau. Höchstens rechtschreibsicher, aber auch das ist nicht garantiert. Viel zu lesen macht mir Spaß, entspannt mich und erweitert meinen Horizont. Was ich lese, entscheidet darüber, in welche Richtung er erweitert wird. Dass ich Wolfgang Herrndorf nicht kenne, heißt nicht, dass ich die falschen Bücher lese. Auch wenn ich das einen klitzekleinen Augenblick gedacht habe.

Was wir in Gesprächen finden – manchmal

„Ein jeder hat zuerst in seiner Sache recht; kommt aber der andere zu Wort, findet sich´s.“
Sprüche 18, 17

Findet sich`s? Das kann ich nicht bestätigen. Solange ich mich nur mit mir selbst unterhalte – vielleicht. Da habe ich recht, ist alles logisch und ganz einfach. Sobald ich anderen Gesprächszeit einräume, wird es komplizierter. Da wird widersprochen, unangreifbar argumentiert, aus einem mir fremden Blickwinkel betrachtet oder einfach aneinander vorbei geredet. Da findet sich dann gar nichts mehr – am wenigstens ein gemeinsamer Nenner.

Gute Kommunikation ist kein Selbstläufer, jedenfalls nicht bei uns im Haus: Wir provozieren, was das Zeug hält, geben nur ungern nach, unterbrechen lautstark und oft. Von „findet sich´s“ keine Spur. Erst nach langer Suche und erbitterten Kämpfen kommen Einigungen zustande: „Geh endlich raus aus meinem Zimmer!“ „Warum?“ „Geh einfach raus!“

Aber auch wir erleben Sternstunden. Eine unserer Töchter, die Kaninchenbesitzerin, geht nicht so gern allein in den Keller und noch weniger gern im Dunkeln raus zum letzten Füttern. „Kommt einer mit?“, fragt sie dann. Es kann Streit gegeben haben vorher oder auch gleichgültiges Stillschweigen. Einer geht immer mit, keiner lacht sie aus, keiner überlässt sie ihrer Angst – da findet sich´s dann doch: Die Liebe zu ihr, das Verständnis für sie, die Hilfe in ihrer Not: „Los, ich komm´ mit!“

Alleinunterhalter

Die Frau, die ab und an meine Zähne reinigt, ist geduldig. Und kommunikationsfreudig, auch wenn ich manchmal nicht antworten kann. „Mmh, mmh“, „Häh?“, so oder ähnlich lauten die meisten meiner Kommentare zu ihren Informationen. Nicht dass mich nichts davon interessiert, was sie erzählt. Aber es ist nun einmal schwierig, mit geöffnetem Mund klar zu artikulieren. Zudem halten sich die Möglichkeiten in Grenzen, selbst richtungsweisend ins Gespräch einzugreifen. Sehr bedauerlich. Bevor ich etwas sagen kann, ist sie schon beim nächsten Thema – dabei hatte ich zum ersten noch einen richtig guten Gedanken.

Wahrscheinlich fehlen ihr meine Kommentare überhaupt nicht. Sie ist es gewohnt, dass ihre Patienten wenig bis gar nicht reden. Sie rechnet mit meiner Sprachlosigkeit und wirkt so, als könne sie besser damit leben als ich.

Luxus – braucht keiner und trotzdem erstrebenswert?

Kürzlich hatte ich ein kurzes Gespräch mit einer flüchtigen Bekannten, einer jungen Mutter. Es ging darum, was für die Vereinbarung von Familie und Beruf besser ist: in der Nähe der Eltern bleiben – auf dem Land – und weite Wege haben oder aber wegziehen – in Stadtnähe, kürzere Wege haben und keine Großeltern am Ort. Ihre Tochter ist anderthalb. Es gibt keine Standardlösung – wie immer.

Als ich sagte, ich sei noch immer hauptsächlich zu Hause und mein Jüngster sei neun Jahre alt, kam eine überraschende Antwort: „Luxus“, sagte sie. Diese Bemerkung schwingt in mir nach, denn in diesem Zusammenhang ist das Wort noch nie (und wenn, dann nur äußerst selten) gefallen.

Luxus ist laut Wikipedia etwas, was man nicht braucht, was teuer ist und nicht für jeden erschwinglich – und deshalb für viele erstrebenswert. In unserer Gesellschaft scheint es mir erstrebenswert zu sein, arbeiten zu gehen – für Männer und Frauen und auch für Mütter. Das Zuhause-Sein mit Kindern wird immer mehr zu einer zeitlich begrenzten Zwischenphase, die nicht das Eigentliche ist. Das Eigentliche ist der Beruf, der Job, das Geld, das man damit verdient, die Anerkennung, die man damit bekommt. Zumindest ist das mein Eindruck.

Für unsere Familie gilt: Was wir an Geld haben, reicht für das, was wir uns leisten wollen, obwohl ich kaum etwas verdiene. Ist das Luxus? Ich empfinde unser Leben nicht als luxuriös in materiellem Sinn. In anderer Hinsicht schon. Ob die Kinder es nun wollen oder nicht: Unser Zuhause ist wie eine Basisstation, die immer besetzt ist. Trotzdem werden unsere Kinder mit zunehmendem Alter selbständiger und organisieren sich ohne meine Hilfe. Meine Präsenz wirkt wie Luxus – nice to have, aber nicht wirklich nötig. Ich bezweifle, dass dieser Zustand ebenso erstrebenswert ist wie Luxus im herkömmlichen Sinn. Vielleicht klang die Bemerkung deshalb so merkwürdig in meinem Ohr…

Erwartungen sind toll – und anstrengend.

Vor einer Woche habe ich einen Brief geschrieben, ehrlich und herausfordernd. Seither warte ich auf eine Antwort, ich erwarte eine Antwort. Ich denke,  ich bin ganz offen für jede Reaktion meines Gegenübers. Aber ich rechne damit, dass überhaupt etwas zurückkommt. Bisher bin ich enttäuscht.

Bei jedem Gespräch, das ich anfange: Irgendetwas erwarte ich immer. Dass man mir zuhört, dass sich Fragen klären oder eine Diskussion angestoßen wird. Dass Beziehung entsteht. Manchmal werde ich enttäuscht, manchmal befriedigt. Je festgelegter meine Erwartung ist, umso leichter kann ich enttäuscht werden – negativ ausgedrückt. Je klarer meine Erwartung ist, umso mutiger bin ich – positiv ausgedrückt.

Auf der anderen Seite: Wenn mich jemand etwas fragt oder bittet, fühle ich mich unter Druck gesetzt – negativ ausgesetzt. Oder aber ich bin dankbar für die Klarheit in der Formulierung – positiv ausgedrückt.

Wie frei ich bin, wie stark ich bin, wie genau ich mich kenne und weiß, was ich will: All das bestimmt meine Antwort auf eine Anfrage. Entspreche ich dieser oder lehne ich sie ab? Winde ich mich wortgewaltig nichtssagend oder ignoriere ich?

Ich muss zugeben, dass ich es schöner finde, wenn meinen Erwartungen entsprochen wird. Auf Ablehnung bin ich schlecht vorbereitet. Anders herum kann ich schlecht „Nein“ sagen, auch wenn das meine ehrliche Antwort ist. An Gelegenheiten zum Üben mangelt es nicht: Fast täglich werde ich konfrontiert mit dem, was der Brite so schön „conflict of interests“ nennt. Es scheint ein normaler Zustand zu sein, sobald Menschen irgendwie miteinander in Kontakt treten. Trotzdem macht mich das Warten dieses Mal ganz kribbelig. Je länger ich ohne Antwort bleibe, umso größer wird die Sache, um die es in meinem Brief ging. Damit hatte ich am allerwenigsten gerechnet!

Einladung erwünscht – nur nicht zum Kaffeetrinken

Als ganze Familie werden wir nicht oft eingeladen, noch seltener zu einem Kaffeetrinken. Das ist einerseits schade, andererseits gut so: Kaffeetrinken ist für uns eine Herausforderung. Es sei denn, es findet draußen statt und ist eine offene Veranstaltung ohne Sitzzwang. Kaffeetrinken, damit verbinden wir: schlecht gelüftete Räume, viel zu viel Kuchen, schleppende Konversation oder alle reden durcheinander und dazu noch ständiges Geschirrgeklapper. Der Kaffee selbst kommt in dieser Negativliste gar nicht vor, der ist nicht das Problem.

Auch mancher Kuchen kann sehr lecker sein, das gebe ich zu. Es hat eher mit dem Drumherum zu tun. Ich habe nichts dagegen, nachmittags Menschen zu treffen und etwas mit ihnen zu TUN: spazieren gehen, eine Runde Skat, Doppelkopf oder Kniffel spielen, quatschen, einen Film schauen. Vieles ist möglich – eventuell sogar mit einer Tasse Kaffee. Nur die Veranstaltung „Kaffeetrinken“ als Hauptattraktion, die passt nicht so wirklich zu uns.

Ein gefühlter Verlust

Der amerikanische Theologe Eugene Peterson ist gestorben. Eine Meldung im Netz, in einer deutschen Zeitung werde ich sie nicht finden. Für mich ist es mehr als eine Meldung, die das Ende eines Lebens markiert. In mir löst die Nachricht seines Todes ein Gefühl des Verlustes aus, obwohl ich Eugene Peterson nicht persönlich gekannt habe. Ich bin traurig über seinen Tod. Seine Bücher begleiten mich seit Jahrzehnten und haben mich herausgefordert und geprägt. Von ihm habe ich mich verstanden gefühlt wie von einem guten Freund. Er hatte die Gabe, theologisch Abstraktes zu durchdringen und verständlich zu formulieren. Dadurch habe ich die Bibel besser verstanden und Hilfen bekommen, meinen eigenen Glauben praktisch werden zu lassen.

Auch zu seinen Lebzeiten bin ich ihm nur in seinen Büchern begegnet, daran wird sich nichts ändern. Dennoch trauere ich, als wäre sein Tod ein tatsächlicher Verlust für mein eigenes Leben. Ist das komisch? Es gab keine Gelegenheit, ihn persönlich kennenzulernen. Ich bin nicht sicher, ob er meinen Brief an ihn diesen Sommer bekommen und gelesen hat. Wahrscheinlicher ist, dass er gar nichts von mir wusste. Unsere Bekanntschaft war absolut einseitig. Dennoch fühlt es sich an, als wäre ein „Freund“ von mir gestorben.

Mehr als ein Buch

Ich habe ein Buch verschenkt, das ich sehr lesenswert fand. Nein, falsch. Mir fällt kaum ein Buch ein, das mich derart bewegt hat. Eine Biographie: schonungslos ehrlich, nicht nach Mitleid heischend, erschütternd, ermutigend war sie und hat mich berührt, herausgefordert, beeindruckt. Derjenige, dem ich es geschenkt habe, fand es „ganz gut“. Seiner Meinung nach gefiel sich der Autobiograph zu sehr selbst.

„Wie bitte?“, denke ich, „ganz gut? Sprechen wir über dasselbe Buch?“ Er hat es anders verstanden als ich – und das enttäuscht mich sehr. Sofort tut mir der Autor leid. Dessen Ehrlichkeit wurde nicht wertgeschätzt, sondern sogar als Eitelkeit interpretiert. Kann es sein, dass ich es war, die etwas missverstanden hat?

Mein Verstand weiß: Es gibt immer Menschen, die etwas mögen, und andere, die dasselbe nicht mögen. Liest man Buchrezensionen, dann merkt man schnell, dass gerade Literatur Geschmacksache ist. Soll doch jeder lesen, was ihn anspricht.

Mein Herz wünscht ich es sich anders: Menschen, die mir etwas bedeuten, sollen bitte meine Begeisterung teilen können. Zumindest für solche Bücher oder wenigstens für dieses Buch – und für den Mut des ehrlichen Menschen, der es geschrieben hat. Dann fühlte auch ich mich von ihnen verstanden…

Anfangen – Routine haben – Aufhören?

Mit 18 habe ich den Führerschein gemacht, in den Jahren danach das Autofahren gelernt. Seit 30 Jahren fahre ich – anfangs weniger, dann mehr, heute ziemlich regelmäßig, aber nicht viel. Ich halte mich für eine gute Autofahrerin, besser als vor 30 Jahren, wahrscheinlich aber nicht mehr ganz so schnell in meinen Reaktionen. Weil ich auch oft Fahrrad fahre oder zu Fuß gehe, habe ich mehrere Perspektiven, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin. Die schnellere Reaktionsgeschwindigkeit eines 20-Jährigen wird von meiner längeren Routine aufgewogen. Denke ich.

Dieser Status quo dauert schon einige Jahre und wird noch einige weitere anhalten. Bleibt es so bis zuletzt? Was ist in 30 Jahren? Noch mehr Erfahrung werde ich haben. Aber ich werde langsamer sein, nicht mehr so wendig – wahrscheinlich – an Leib und Geist.

Werde ich merken, wenn die Routine meine sinkende Reaktionsgeschwindigkeit nicht mehr aufwiegt? Wird es mir bewusst sein, wenn mehr Unsicherheit als Erfahrung im Spiel ist, sobald ich ins Auto steige? Gibt es ihn, diesen einen Moment, ab dem es besser wäre, ich ließe das Auto stehen?

Es gibt keine Pauschalantwort auf diese Fragen. Ich weiß: Unfallverursacher und Unfallopfer sind nicht immer dieselbe Person. In meiner Hand liegt nicht alles. Es ist vor allem Bewahrung, wenn ich heil wieder zu Hause ankomme.