Gespür

Langes Wochenende durch bewegliche Feiertage, schlechtes Wetter: Die Kinder sind den ganzen Tag zu Hause, lungern rum und reden viel. Wir haben kaum Raum fürs Alleinsein. Nachmittags muss der Jüngste zu einem Geburtstag, wir bringen ihn zu Fuß dorthin. Er redet die ganze Zeit, kommentiert alles, erklärt, erzählt, fragt. Ich bin leicht angestrengt und schmunzele über die Komik der Situation: Wir haben das Haus verlassen, können aber die Beschallung nicht abschütteln. Gerade redet er von einem Kran – und wie viel leichter dieser zu bedienen ist (per Fernbedienung) als ein Helikopter. Irgendwann kann ich das Lachen nicht zurückhalten. Er sagt: „Naja, der Kran kann ja nicht fliegen.“ Ich lache mich schlapp, sage „Genau“, bin aber entbunden davon, zu sagen, warum ich eigentlich lache.

Abends im Bett gibt es wieder Gelächter, weil mein Sohn kurz vor dem Einschlafen zum x-ten Mal seine Geburtstagswünsche schildert – in aller Ausführlichkeit. Er: „Du lachst wie heute Morgen, als wir an dem Kran vorbei gingen und du lachen musstest, weil der nicht fliegen kann. … Ich dachte, du lachst, weil ich durchgehend rede.“ Die Schläue und Sensibilität dieses Kindes machen mich ganz schwach!!!

Gesprächsfluss

Mein großer Sohn ist ein guter Beobachter, sensibel noch dazu. Nach einer von ihm beobachteten Begegnung bemerkte er kürzlich: „Papa, wenn du immer `Warum?´ fragst mittendrin, dann unterbricht das den Gesprächsfluss. Du kannst doch einfach mal zuhören und nicken – auch wenn der andere Mist erzählt.“ Er hat recht, Nachfragen unterbrechen den Gesprächsfluss. Und in dem speziellen Fall war der Gesprächspartner einer, den der Einwurf `Warum siehst du das so? Ich sehe das anders.´ aus dem Konzept gebracht und verunsichert hat.

Wie geht es mir damit? Ich wünsche mir eine ehrliche Reaktion. Ich wünsche mir aber auch eine mir angenehme, liebevolle Reaktion. Eine Bestätigung meiner Kommentare ist angenehm. Aber ist das `Lass sie nur reden …´ in den Gedanken meines Gegenübers wirklich liebevoll? Auch wenn ich es nicht mitbekomme? Will ich es immer wissen, wenn ich Quatsch erzähle, gedankenlos daherrede, unüberlegt (und vielleicht unbewusst) beurteile?

Von Sokrates stammt der Rat, dass alles, was gesagt wird, durch drei Siebe gehen soll: Ist es wahr, ist es gut, ist es nötig? Das ist sicher eine hilfreiche Richtlinie für jedes Gespräch. Nur: Was mache ich, wenn wahr und gut einander auszuschließen scheinen? Wenn der andere meine gütige Zurechtweisung gar nicht als gut empfinden kann, sondern sich zurückgewiesen und nicht wertgeschätzt fühlt? Dann muss ich ihn vielleicht einfach mal in den Arm nehmen.

Vorfreude ist die schönste Freude?

Warten auf Weihnachten. Vorfreude ist die schönste Freude! Ich weiß nicht, ob mein jüngster Sohn diese Aussage bestätigen würde. Er freut sich noch sehr über Geschenke. Zwar hat er schon erlebt, dass die tatsächliche Erfüllung eines Wunsches der Anfang vom Ende der Begeisterung über die gewünschte Sache ist. Dennoch fiebert er dem Ende der Vorfreude entgegen. Er könnte auch ohne sie leben. Für ein Kind ist das normal.

Menschen in meinem Alter umgehen die Vorfreude durch eine gewisse Instant-Befriedigung. Wer wartet denn schon Weihnachten oder den Geburtstag ab, um sich Wünsche erfüllen zu lassen? Die meisten von uns haben genug Geld und kaufen sich schnell und spontan, was sie haben möchten. Dabei stimmt es – Vorfreude ist eine sehr schöne und intensive Freude. Es stimmt aber auch: Neues ist morgen schon alt. Moden kommen und gehen, Sofas nutzen sich ab; Dinge verlieren ihren Glanz, wenn ich nicht mehr von ihnen träume, sondern sie besitze.

Es ist nicht so, dass ich keine materiellen Wünsche habe. Unter anderem kaufe ich mir gern Bücher – und lese sie dann mit Freude und Gewinn. Mehr und mehr erlebe ich aber auch, das wahr ist, was schon Dietrich Bonhoeffer wusste: „Es gibt erfülltes Leben trotz unerfüllter Wünsche.“ Es liegt eine unglaubliche Kraft darin, sich genügen zu lassen an dem, was schon da ist. Es liegt Kraft im Heute. Und manchmal erfährt das unspektakuläre Heute eine Aufhellung durch die Vorfreude auf etwas Besonderes. Manchmal auch durch das Besondere selbst.

Was wäre, wenn?

„Mama, was würdest du machen, wenn ich dich nicht zu meiner Hochzeit einladen würde?“ Eine meiner Töchter liebt solcherart Fragen. Hypothetisch, provokant und für mich überraschend in den Raum geworfen. Irgendwie scheinen meine Antworten auf diese Fragen ihr weiterzuhelfen – sie stellt sie immer wieder. Ja, was? Ich überlege. „Wenn nur ich nicht eingeladen wäre, alle anderen aber schon, das wäre schwierig für mich. Wenn du heimlich heiraten und nicht feiern würdest, das wäre etwas anderes.“

Schwierig für mich? Das ist sicherlich untertrieben. Ich wäre sehr traurig, aber nicht über eine verpasste Hochzeit. Das Ereignis wäre es nicht, was mir fehlen würde, sondern die nicht existierende Beziehung zu meiner Tochter. Was würde ich also machen? Wenn möglich: Beziehung bauen. Ich hoffe, in dieser Frage bleibt es bei der Hypothese.

Schlagseitig

Tolerant sollen wir sein. Gleichzeitig aber auch Profil zeigen. Das wird nicht nur von Politikern erwartet, sondern von jedem. Dabei ist es total schwer, eine gute Mischung zu finden. Eine, die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht wird und mir selbst trotzdem eine eigene (klare) Meinung erlaubt. Leichter ist es, Schlagseite zu haben und auf der einen oder anderen Seite vom Pferd zu fallen: Der Alte Fritz schlug vor, jeder solle „nach seiner Fasson selig“ werden. Das funktioniert im echten Leben nur solange, wie meine Glückseligkeit die meines Nachbarn nicht ausschließt. Wenn der eine am Samstagnachmittag Steine für seine Hofeinfahrt flext, kann der andere eben nicht auf der Terrasse die Ruhe genießen. Und wenn man darüber nicht reden kann, ärgert sich einer und ist nicht selig.

Eine klare Position dagegen gilt schnell als arrogant. Besonders schwierige Pflaster sind Ausländer, die Lage in Israel und Palästina sowie gern auch Glaubensfragen. Leicht wird eine feste Überzeugung gleichgesetzt mit Intoleranz. Mich in komplexen Fragen zu positionieren, ist mutig, aber unpopulär und macht mich sehr angreifbar. Dabei ist die Schwierigkeit nicht die feste Überzeugung an sich, sondern inwiefern sie andere Sichtweisen zulässt. Halte ich die Spannung aus, auf keinen gemeinsamen Nenner zu kommen mit Menschen, die mir wichtig sind? Es kommt einem Drahtseilakt gleich. Sich oben zu halten, ist anstrengend, aber für die Beziehung gut. Leichter ist es abzustürzen – entweder die Differenzen unter den Teppich zu kehren oder im Streit zu enden. Das ist schlagseitig und tut der Beziehung nicht gut.

Reichlich

„Wer reichlich gibt, wird gelabt, und wer reichlich tränkt, der wird auch getränkt werden.“
Sprüche 11, 25

Ich habe nicht viel Geld, das ich weggeben kann. (Wobei das natürlich sehr relativ ist – wieviel ist viel? Aber das ist ein anderes Thema.) Etwas, wovon ich viel habe, bin ich selbst. Mein ICH ist mein Kapital. Damit kann ich großzügig umgehen oder knausrig – wie jeder, der Geld im Überfluss hat. Also gilt dieser Vers auch für mich.

Der größte Teil meines Seins „tränkt“ meine Familie, direkt und indirekt. Ein kleinerer Teil fließt in Beziehungen zu anderen Menschen. Ganz objektiv bleibt insgesamt wenig Kraft und Zeit für mich selbst, für meine eigenen Interessen, die nicht nur mit Wäsche, Essen, Putzen und Gemeinschaft zu tun haben. Subjektiv schenkt Gott mir reichlich, was ich brauche – wie er das macht, bleibt sein Geheimnis. Ich bin trotz Zeitmangels kreativ und effektiv, fühle mich inspiriert und nicht betrogen um irgendetwas. Ich werde „getränkt“ – auch wenn ich die Zeit zum Schreiben als umkämpft empfinde, die Zeit zum Lesen und Alleinsein ebenso. Mein Kapital, mein ICH ist immer noch da. Gott selbst achtet darauf.

Berufung

Ich wollte nie Lehrerin werden. Ich wollte auch nie als Lehrerin arbeiten – und will es noch immer nicht. Trotzdem habe ich jahrelang gelehrt – hauptsächlich durch mein Vorbild, manchmal wortgewaltig:
„Du musst mit dem Fahrrad auf der rechten Seite fahren.
Wenn man einen Fehler gemacht hat, entschuldigt man sich – auch wenn es schwerfällt.
Zu einem Gespräch gehört, dass man nicht unterbricht und zuhören kann.“
Und so weiter und so fort.

Alles habe ich begleitet mit Lob und Ermutigung:
„Ja, so ist es gut.
Ich fand das wirklich mutig von dir.
Du kannst toll verlieren, das bewundere ich.“
Und so weiter und so fort.

Manches habe ich korrigiert:
„Den Topf musst du noch einmal abspülen.
Lästern macht vielleicht Spaß, aber nicht lästern ist besser.
Ohne Übung geht es nicht.“
Und so weiter und so fort.

Ob ich die Kinder damit halbwegs auf ihr Leben vorbereitet habe – wir werden es sehen. Eine Grundausstattung haben sie, irgendwann lasse ich sie ziehen. Ich übernehme keine andere Klasse. Höchstens die Enkelkinder ein ganz bisschen, falls es welche geben sollte. Dazwischen mach´ ich Ferien.

Vom Miteinander

„Wir können nicht miteinander reden.
Wir können nicht miteinander.
Wir wollen nicht.“

An dem Punkt kann der einzige Ausweg sein, dass einer einen Schritt macht – weg vom WIR – und sagt:

„Ich will versuchen, mit dir zu reden.
Ich will es versuchen mit dir.“

Dann besteht eine große Chance, dass der andere reagiert:

„Ich auch.“

Von hier ist es nicht mehr so weit zu:

„Wir wollen.
Wir wollen miteinander.
Wir können miteinander reden.“

Fazit: Der erste Schritt ist der halbe Weg!

Solche Tage

Es gibt solche und solche Tage. Die einen sind gut oder besser – zufriedenstellend ermüdend, ausgefüllt, durchzogen von Teil-Erfolgen und Gelächter. Idealerweise: Wir streiten kaum, ich schaffe, was ich mir vornehme, und habe Zeiten der Muße.

Andere Tage fangen normal an und dann kommt sie, die Herausforderung. Verkleidet als überraschende Erkrankung (besonders unangenehm: Magen-Darm-Geschichten), ein Anruf aus der Schule („Ihr Kind hat eine Platzwunde!“), die Waschmaschine pumpt nicht ab, Genervtheit aufgrund von Schlafmangel, Streit mit meinem Liebsten oder ähnliches. Ich stolpere dann so dahin, der Tag gewinnt eine Eigendynamik, die ich nicht kontrollieren kann. Wenn ich abends ins Bett gehe, bleibt ein Rest von „nicht erledigt“ und „fremdbestimmt“. „Huch, was war das?“, ist dann der letzte Gedanke – berechtigt zuversichtlich, dass es morgen besser läuft.

Und dann sind da noch diejenigen Tage, an denen ich selbst zu nichts Lust habe, das Miteinander in der Familie durchzogen ist von Streit und Lärm, ich von einem Kind angelogen werde (und gleich meine gesamte Erziehungsfähigkeit in Frage stelle), das gute nachbarschaftliche Verhältnis durch eine blöde Meinungsverschiedenheit belastet wird, eine volle Ölflasche in der Küche auf dem Boden zerschellt, ich durchs Telefon von der ernsten Erkrankung eines lieben Menschen erfahre, das Auto nicht durch den TÜV kommt, ich mir beim Essenkochen böse in den Finger schneide oder mich beim Bügeln verbrenne …

Meist passiert nicht alles auf einmal, ich weiß. Aber einiges davon geschieht gern mal innerhalb kurzer Zeit. Solche Tage gibt es eben auch. Solche Tage sind eben auch meine Lebenszeit. Sie schmecken mir nicht, sie müssen einfach ertragen werden.

Warten im Supermarkt

Letztens habe ich viel eingekauft. Die Kasse war leer, ich konnte gleich alles aufs Band legen. Die Kunden nach mir – ein älteres Ehepaar im Rentenalter – riefen umgehend nach einer zweiten Kasse. Es dauerte ein bisschen. Eine zweite Kassiererin kam nicht so schnell wie von den Kunden gewünscht. „Welche Kasse öffnen Sie denn?“, in der Frage schwang einiges mit: Eile, Hektik, Ungeduld.

Ich kann es verstehen, ein bisschen: Auch für mich gibt es Schöneres als einzukaufen. Ich lese lieber ein Buch oder gehe eine Runde joggen. Andererseits ist das Einkaufen von Lebensmitteln keine Strafe, sondern ein Privileg: Es gibt ALLES! Das Endergebnis ist wunderbar, denn ich hole nach Hause, was uns schmeckt und satt macht. Wahrscheinlich ist es gar nicht das Einkaufen selbst, was die Leute schnell hinter sich bringen wollen. Die Eile kommt erst in dem Moment, in dem es ans Warten geht. Warten an der Käse- oder Fleischtheke, warten an der Kasse.

Ich möchte diese Wartezeit an sich nicht als „verbrannte Lebenszeit“ verstehen. Manchmal rede ich mit einer Verkäuferin, einer anderen Kundin oder der Frau an der Kasse. In aller Ruhe – ich hatte schon sehr freundliche Begegnungen mit Menschen, die dort arbeiten oder selbst einkaufen. Es ist nicht schlimm, dass wir uns treffen; es kann sogar schön sein. Und selbst wenn ich nur warte, empfinde ich die Zeit nicht als verloren. Ich erlebe sie als einen Moment des Innehaltens. Das bekommt mir besser, als wenn ich der Ungeduld in mir Raum gebe.

Ich schätze, ich brauche kaum länger fürs Einkaufen als diejenigen, die schnell nach einer zweiten Kasse rufen. Letztlich ist es mir egal: Einkaufen und das damit verbundene Warten gehören zu meinem Leben dazu – wie lesen und joggen.