Blamieren – wie geht das?

„Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. … Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.“
Psalm 139, 1+2, 4-6,

Letztens in einem Theaterstück die Frage: „Wie geht denn blamieren?“ Ja, wie geht das? Ein kleines Kind blamiert sich nicht – zumindest merkt es nichts davon. Blamieren ist ein Erwachsenengeschäft, das in jeder Kultur anders aussieht und sich im Laufe der Zeit verändert. Nehme ich an. Während es vor 30 Jahren noch blamabel war, durch eine Prüfung zu fallen oder verdreckte Klamotten zu tragen, sind es heute andere Dinge, die einer Blamage gleichkommen. Nackt durch die Innenstadt zu laufen zum Beispiel, fällt wohl darunter – oder ist das schon wieder mutig?

Für das gesellschaftliche Blamieren haben sich die Grenzen verschoben in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten, das ist wohl normal. „Das macht man nicht“, sah früher anders aus als heute. Aber obwohl wir geprägt werden von der sich wandelnden Gesellschaft, in der wir leben: Im Persönlichen bleibt es eine Blamage, wenn jemand das in mir erkennt, was ich verbergen möchte. In demselben Theaterstück sagt die Person etwas später: „Ich will durchschaut werden. Wer dann trotzdem bei mir bleibt, mag mich wirklich.“ Genau. Obwohl Gott ALLES von mir kennt, bleibt er bei mir. (Kleine) Kinder begreifen das besser als Erwachsene.

Wie viele sind zu viele?

Ich war mit zwei Kindern unterwegs. Wir kommen zurück und werden herzlich empfangen. Beim Abendbrot geht es trubelig und eher laut zu – wie immer. Mein ältester Sohn: „Es war echt wohltuend, als ihr nicht da wart! Keiner hat Klavier gespielt oder Fußball im Wohnzimmer, keiner gesungen. Wir haben auch nicht um Quatsch gestritten oder provoziert.“

Mir fällt der Titel eines Buches ein, der lautet: „Wir waren immer viele“. Es geht darin um die geburtenstärksten Jahrgänge in Deutschland, um 1964 bis 1967. Irgendwie passt er auch zu unserer Familie. Allerdings ist er derzeit eher negativ besetzt: weil man nicht ohne weiteres zu Wort kommt, die letzte Tomate erstritten, viel geteilt und die anderen manchmal einfach nur ertragen werden müssen. Dass eine Familie mit „vielen“ Kindern bereichernd ist und der Einzelne Streiten und Versöhnen täglich einüben kann – das erleben die Kinder momentan noch nicht nur als positiv. Aber vielleicht später in der Retrospektive – wie in dem Buch.

Haustiere mit Gefühlen

Eine Freundin von mir hat Kühe, Rinder und Kälber. Nicht irgendwelche. Ihre Tiere sind in der Lage, Gefühle zu zeigen: Freude über frische Einstreu, Frust über unangenehme Fress-Nachbarn und – wie ich beobachtet habe – Neugier. Letztere Gefühlslage betrifft vor allem die Halbwüchsigen, die altersgemäß noch neugierig sind.

Dieselbe Freundin hat kürzlich schlau festgestellt, dass wir in unserer Gesellschaft heutzutage zwei Dinge tun: Haustiere vermenschlichen und Nutztiere versachlichen. Ich kann nur zustimmen. Auf der einen Seite gibt es Adventskalender für Hunde und Geburtstagskuchen für Katzen; auf der anderen Seite wollen wir zwar Milch trinken, aber weder mit den Gerüchen eines Kuhstalles noch mit den Geräuschen bäuerlicher Landwirtschaft konfrontiert werden.

Die Kühe meiner Freundin haben Ohrmarken – wie alle anderen Kühe in Deutschland – und Namen – wie nur vergleichsweise wenige andere Kühe in Deutschland. Sie erhalten keine Geburtstagstorte, aber die neu geborenen Kälber werden nicht sofort von der Mutter getrennt. Meine Freundin will eine gute Milchleistung. Sie weiß, dass ihre Kühe dafür artgerecht gehalten werden müssen und sorgt dafür. Aber sie behandelt ihre Kühe eben nicht nur wie Unternehmenskapital, sondern gesteht ihnen eine Würde zu. Sie hat ihre Kühe im Blick. Wie sie das macht? Es ist nicht zu beschreiben, aber sie kann gar nicht anders. Und ihre Kühe können nicht anders, als sich würdevoll zu verhalten – sichtlich froh über neue Einstreu, stur, wenn es um Fress-Nachbarn geht und in jungen Jahren eben auch altersgerecht neugierig…

Jesus sehen

In einem Theaterstück ging es kürzlich darum, wie wir Jesus wahrnehmen können. „Siehst du Jesus jetzt direkt vor dir?“, lautete die Frage, „Ich sehe ihn nicht.“ Die Antwort: „Nicht mit diesen Augen, du musst die anderen nehmen!“

Natürlich fällt mir da die Stelle aus dem „Kleinen Prinzen“ ein, in der es heißt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Jesus ist für die Augen allzuoft unsichtbar – und trotzdem ist er da. Nur mit den anderen Augen nehmen wir ihn wahr.

Welche anderen Augen sind das? Wie kann ich sie nehmen? Manchmal ist das echt schwierig. Da möchte ich Jesus gern sehen in dem Wunsch, den er mir erfüllt, in der Krankheit, die er heilt, in der Veränderung, die ein Mensch erfährt – der sie aus meiner Sicht so nötig hatte. Wahrscheinlicher ist, dass ich Jesus sehe in einer tiefen Zufriedenheit, die mich staunen lässt. Ich kann Jesus erleben in der echten Aussöhnung mit einem Menschen oder wenn ich menschlich versage und mich dennoch geliebt weiß. Jesus ist es auch, der mir inneren Frieden schenkt, wenn eine Krankheit nicht verschwindet oder eine Bewerbung fehlschlägt. Jesus ist wahrnehmbar – nicht in der Veränderung unangenehmer Umstände, sondern mitten in ihnen. Die Augen dafür sind nicht die in meinem Kopf.

Abschied von zwei Seiten

In dem Lied „Je vole“ aus dem Film `Verstehen Sie die Beliers´ geht es um den Abschied einer Tochter von ihren Eltern – ein bewegendes Lied mit einem bewegenden Text: „Liebe Eltern, ich gehe. Heute Abend werdet ihr kein Kind mehr haben. Ich fliege, ich fliege (davon).“ Es ist der Tochter Paula schwergefallen, sich zum Weggehen zu entscheiden: Für ihre taubstummen Eltern war sie das Sprachrohr zur hörenden Umwelt war. Aber letztlich tut Paula es doch, sie zieht weg, nach Paris und geht dort auf eine Schule für Gesang. Das erwähnte Lied singt sie bei der Aufnahmeprüfung. Ihre Eltern sind dabei, verstehen „Je vole“ aber erst, als Paula es in Gebärdensprache übersetzt. Paula singt ernsthaft und mit Herzblut, aber man spürt ihr die Freude ab: Der Abschied ist nötig, sie nimmt ihn gern in Kauf.

Ich erinnere mich selbst noch sehr gut an meinen eigenen Auszug von zu Hause und an das Gefühl von Vorfreude auf das Neue, auf das Alleinsein, auf die Selbständig- und Unabhängigkeit. Es war auch ein wenig Unsicherheit im Spiel, aber vor allem das Gefühl von Freiheit: Dass der Auszug des jüngsten Kindes bei meinen Eltern sicherlich auch für Schmerz gesorgt hat – es war mir nicht bewusst.

Die Filmszene ist besonders und geht mir ans Herz. Ich kann sie nicht anschauen, ohne mit den Eltern zu weinen, auch wenn diese den Schritt ihrer Tochter letztlich gutheißen. Und es ist ja so, dass es für beide Seiten Trennung bedeutet, für beide hört das Vertraute auf – und doch ist das Abschiednehmen verschieden.

Paula verlässt, sie ist mutig und entschlossen. Vor allem fühlt sie: Vorfreude, Zuversicht und positive, spannende Erwartung.

Die Eltern werden verlassen. Für sie ist der Abschied mit Trauer verbunden und mit viel Zurückschauen.

Es gibt bei dem Abschied zwischen Kinder und Eltern immer zwei Seiten – verlassen und verlassen werden. Ich stand schon auf der einen, bald stehe ich auf der anderen Seite.

Gerührt

Eine unserer Töchter hat mit ihrem (Mädchen-) Chor ein Lied aufgeführt. Das Lied hieß „I will follow him“, ist aus dem Film Sister Act mit Whoopie Goldberg und dreht sich um Jesus: „I will follow him, follow him wherever he may go! There isn´t an ocean too deep, a mountain so high it can keep, keep me away, away from your love.“ (Ich werde ihm folgen, wohin auch immer er geht; kein Ozean ist zu tief, kein Berg zu hoch, nichts kann mich von seiner Liebe trennen.) Das Lied hat Schwung, und die Mädchen haben das großartig und lebendig umgesetzt – zu recht gab´s im Anschluss begeisterten Applaus.

Ich war gerührt. Gerührt davon, mit wieviel Begeisterung, mit wieviel musikalischem Können und persönlichem Mut die Mädchen vor einer voll besetzten Kirche aufgetreten sind. In solchen Momenten bin ich nah am Wasser gebaut – dass meine Tochter da mittendrin ist und mitmacht: Toll.

Es hat mich aber noch etwas anderes zu Tränen gerührt: der Text. Heißt es doch unter anderem: „I love him, where he goes I follow, he´ll always be my true love, from now until forever… „(Ich liebe ihn, wohin er auch geht, ich folge ihm; er wird immer meine wahre Liebe bleiben, von jetzt an und für immer.) Wie gesagt: Es geht in dem Lied um Jesus! Echt fromm, habe ich gedacht. Ich hoffe, meine Tochter singt das bewusst mit und meint die Worte so.

Wiederkehrend

Ich gratuliere gern schriftlich – zu Geburtstagen, Hochzeitstagen und so weiter. Die Karten, die ich schreibe, sind meist nicht ganz kurz und gehen immer über den Standardwunsch „Herzlichen Glückwunsch zum …“ hinaus. Oft fließt in meine Wünsche hinein, was mir für den Betroffenen wünschenswert erscheint, aber auch, was mir selbst wichtig wäre. Dabei wandeln Wünsche sich im Laufe der Zeit: Über „einen guten Berufseinstieg“ oder „Erfüllung und Nähe in der noch jungen Beziehung“ sind wir in unserem Alter hinaus, bei „beste Gesundheit“ sind wir noch nicht ganz angekommen. Was wir uns wirklich wünschen, wird jedoch mit den vergehenden Jahren überschaubarer.

Während ich also eine weitere Karte schreibe, frage ich mich manchmal, ob ich im vergangenen Jahr dasselbe geschrieben und gewünscht habe: „Gute Prioritäten“ oder „eine gute Mischung aus Arbeit und Freizeit“, „Freude am Job“ oder „einen guten Draht zu den halberwachsenen Kindern“ – all das sind gute Wünsche, aber Jahr für Jahr? Ich kann nur hoffen, dass ein Jahr reicht, meine gut gemeinten Wünsche vom letzten Jahr zu vergessen, und die Karte mittlerweile ohnehin schon wieder den Weg aller Karten gegangen ist – über den Papiermüll, durch die Recycling-Anlage hinein in ein neues Leben als leere Postkarte.

Über den Schatten springen

Ich kann nicht über meinen eigenen Schatten springen. Wenn er auch noch so kurz ist, ich komme nicht drüber. Trotzdem ist die Aussage erstmal positiv belegt – als wäre es schaffbar, ein erstrebenswertes Ziel und würde am Ende belohnt: Wer über seinen Schatten springt, entschuldigt sich zuerst, geht in den Keller eine Gurke holen, obwohl er nicht dran ist, oder gibt eigenes Unvermögen in Gänze zu. Ist man – metaphorisch gesprochen – gesprungen, erwirbt man neues Wissen, einen Freund und vielleicht sogar Respekt für den Mut. Oft jedenfalls.

Manchmal bringt Schattenspringen von all dem nichts. In Computerfragen weiß ich so wenig, dass eine Frage mir nicht neue Erkenntnisse beschert, sondern dem Öffnen der Büchse der Pandora gleichkommt. Plus: Meine Unfähigkeit in Sachen Technik bewirkt bei den „Experten“ um mich herum ein Kopfschütteln. Menschen, die vorher keine Ahnung von den Ausmaßen meiner Ahnungslosigkeit hatten, müssen ihr Bild von mir neu malen – inklusive meines Unwissens, das vorher (verborgen) im Schatten lag.

Zweckentfremdet

Eine meiner Töchter muss zu den Pfadfindern. Auf den letzten Drücker macht sie sich fertig, auf den allerletzten fällt ihr ein, dass sie ihr „Schlaues Buch“ mitnehmen sollte. Sie sucht es, aber in der Eile erfolglos: Sie muss ohne das Buch losziehen. Eine letzte Bitte: Ich könne es in ihrem Schreibtisch suchen und ihrer Freundin vor der Tür mitgeben, die fährt etwas später. Okay.

In bester Absicht gehe ich in ihr Zimmer und schaue mich um. Ihre Schreibtischschubladen sind für eine Überraschung gut: Süßigkeiten-Verpackungen – natürlich alle leer -, anderer Müll und irgendwie alles ohne System. JEDE Schublade enthält Müll und normale Schreibtisch-Utensilien. Frustriert schiebe ich sie wieder zu und finde das „Schlaue Buch“ AUF dem Schreibtisch, ein wenig untergebuddelt, aber da liegt es.

Ich gebe es der Freundin und sage: „Ihr Schreibtisch war total vollgemüllt, ich bin froh, dass ich das Buch trotzdem gefunden habe.“ Die Freundin: „Dazu ist ein Schreibtisch doch da!“

Wenn ich das gewusst hätte! Ich nutze meinen seit Jahrzehnten total zweckentfremdet für Schreibkram, Stifte, Passwort-Listen, Postkarten, Briefumschläge und ähnliches Zeug, was darin entweder nichts oder nur in Verbindung mit leeren Süßigkeiten-Verpackungen etwas zu suchen hat…

Erwachsen geworden?

In der Literatur beobachte ich zunehmend eine Verrohung der Sprache. Anzüglich war gestern, heute muss es anscheinend schon obszön oder vulgär sein, um als „modern“ zu gelten. „Sex sells“ heißt es nicht umsonst. Schade ist das. Manche Bücher würde ich meinen Kindern gern zum Lesen empfehlen können, weil sie eine Thematik bearbeiten, die interessant ist und herausfordernd, provokant auch. Aber entweder man hat es andauernd mit f-Wörtern zu tun, die dann wohl ein bestimmtes Milieu darstellen sollen – als würde das nicht anders gehen. Oder irgendwo mitten in der Lektüre – meist unvermittelt und meines Erachtens nicht wirklich notwendig – finden sich abstoßende Formulierungen, die unter der Gürtellinie anzusiedeln sind.

Vielleicht ist das nicht neu, vielleicht hat es das schon immer gegeben. Vielleicht haben meine Eltern eine sehr sorgfältige Auswahl getroffen, was im Bücherregal stand und was nicht. Ich denke trotzdem, dass vor 35 Jahren mit „jugendfrei“ etwas anderes gemeint war als heute. Die Maßstäbe haben sich verschoben. Die FSK-Einstufung von Filmen ist ja auch in schrecklicher Weise erwachsen geworden.