Ganz oder gar nicht

Mein Sohn hatte letztens Küchendienst und hat dabei Musik gehört. Nicht oft teile ich den Geschmack meiner Söhne auf diesem Gebiet, diesmal aber schon: Das Lied fiel unter die Kategorie „Gute Laune-Musik“. Interessanterweise hören wir Musik unterschiedlich: Mein Sohn braucht eine Geräuschkulisse beim Abwaschen, Tischdecken etc. – Musik als Hintergrund. Für mich ist Musik ungeeignet als Beigabe. Wenn ich sie mag, nimmt sie mich gefangen – Körper und Geist, daneben geht nicht viel anderes. Gefällt sie mir nicht, stört sie eher. Musik geht bei mir nur ganz oder gar nicht.

Fit, ziemlich fit, ganz fit?

Als ich studiert habe, mit Mitte 20, war ich fit und bin sehr regelmäßig zehn Kilometer in 50 Minuten gelaufen. Mit Mitte 30 benötigte ich (fürs Sportabzeichen) für drei Kilometer 12 Minuten, ohne auf die Zeit überhaupt zu achten. (Und hielt mich für ziemlich fit.) Vergangenes Jahr habe ich für dieselbe Distanz 15 Minuten gebraucht – und war hinterher fix und fertig. Heute würde ich sagen: „Für mein Alter“ bin ich noch ganz fit.

Ich kann meinen persönlichen Kräfteverfall diffus spüren, minutiös dokumentieren und verbal relativieren.

Was man in der Schule lernt – und was nicht

Mein jüngster Sohn kann sprechen und zuhören. Das hat er zu Hause gelernt, neben vielen anderen Dingen, die nichts mit der deutschen Sprache zu tun haben. Er weiß, dass man miteinander reden kann – direkt oder per Telefon. Für andere Kommunikationswege und auch, um noch mehr zu lernen, muss man schreiben und lesen können. Das – und viele andere Dinge – lernt er in der Schule, er ist in der vierten Klasse. Deutschunterricht ist wichtig, aber auch mühsam, denn unsere Sprache hat viele Worte und ein kompliziertes Regelwerk. Wir helfen ihm, indem er zu Hause redet, liest und manchmal etwas schreibt.

Heute kam er aus der Schule nach Hause und sagte als erstes: „Mama, das war so cool – wir hatten keinen Deutschunterricht.“ „Wieso? Kannst du schon alles oder war die Lehrerin krank?“ „Nein, wir hatten stattdessen Klassenrat, weil XY gemobbt wird. Über WhatsApp, da werden von anderen Mitschülern blöde Sachen über sie ins Internet gestellt. Das kann jetzt die ganze Welt sehen – naja, vielleicht nicht die GANZE, aber doch ziemlich viele Leute. Und die Dinge bleiben ja da stehen, weißt du?“

Ja, weiß ich. Noch bevor die Kinder heutzutage wissen, wie man richtig Schreckschraube schreibt, bezeichnen sie einander so und schlimmer – aber nicht mehr direkt von Angesicht zu Angesicht, sondern von einem mobilen Handgerät zum nächsten. Und „alle Welt“ kann daran teilhaben. Es ist wichtig, dass die Kinder darüber sprechen – keine Frage. Aber ich denke, für diese Lernfelder sind die Eltern zuständig. Deutschunterricht hilft Kindern, gut mit ihrer Muttersprache umzugehen. Eltern helfen ihren Kinder, gut miteinander umzugehen. Wenn es sein muss auch mittels eines Gerätes, das Kinder bedienen können, ohne lesen und schreiben zu können.

Schule kann sich nicht um die gesamte Erziehung kümmern – auch wenn wir gern jemanden hätten, den wir für alles verantwortlich machen können.

Was willst du mir damit sagen?

„Du siehst blass aus mit der Mütze“, habe ich beim Laufen meinem Mann zugeraunt. Warum? Ich weiß es nicht. Es war mir schon vor ein paar Tagen aufgefallen, als wir uns anzogen: Die schwarze Mütze macht ihn blass, zumal er mitten im Winter ohnehin nicht soviel Farbe im Gesicht hat.

Seine Reaktion: „Aha. Interessant. Was willst du mir damit sagen? Es könnte sein, dass du mich motivieren möchtest, mir eine andersfarbige Mütze zu kaufen. Vielleicht sollte ich auch – um der Optik willen – ganz auf eine Kopfbedeckung verzichten? Was – und vor allem wen!!! – interessieren meine abgefrorenen Ohren! Oder aber du wunderst dich, dass ich überhaupt blass bin, und machst dir Sorgen? Es könnte auch sein, dass du mir mitteilen möchtest, dass ich wirklich nicht gut aussehe und doch mal etwas dagegen tun könnte – was auch immer das sein könnte.“

Abgesehen davon, dass ich während des Laufens – im Gegensatz zu sonstigen Gelegenheiten – nur höchst selten zu langen Debatten aufgelegt bin, glaube ich: Mein Satz war eine lapidar dahingeworfene Bemerkung, ganz ohne Sinn und Verstand und vor allem ohne ein anvisiertes Ziel. Aus Sicht meines Mannes gibt es das nicht – zweckfreie Kommentare. Irgendeine Motivation steckt hinter jeder Aussage. Wenn das stimmt, muss ich bekennen: Ich kenne meine Motive nicht, ich werde aus mir selbst nicht schlau. Und obwohl ich weiß, welches Gedankenkarussell ich bisweilen bei meinem Mann auslöse, schwappen derartige Sätze immer wieder aus mir heraus. Ohne dass ich genau weiß, was ich mit ihnen sagen will. Wahrscheinlich vor allem dieses: „Du siehst blass aus mit der Mütze!“

Tutorials

Manchmal brauchen wir Hilfe. Wir können jemanden fragen, in Lexika schauen und seit einigen Jahren vermehrt „das Internet befragen“. Dort gibt es Antworten auf alle möglichen Fragen, Gebrauchsanweisungen zu allen möglichen Themen. Diese heißen Tutorials und es gibt sie gesprochen oder schriftlich. Wenn man etwas nicht weiß, sucht man sich eins und schwups – versteht man hinterher mehr. An sich ist das eine super Sache: Du kannst irgendwo am Rechner sitzen und dich schlau machen darüber, wie man bestimmte exotische Früchte aufschneidet, wie sich aus einer Aloe vera eine Hautlotion herstellen lässt, wie die Nabenschaltung am Fahrrad wieder zusammengebaut wird oder wie Computerprogramme funktionieren. Einige aus unserer Familie haben schon oft auf diese Form der „Nachhilfe“ zugegriffen – mit guten Erfolgen, vor allem was die Zeitersparnis angeht: Sich Dinge selbst beizubringen oder alles auszuprobieren, dauert einfach länger.

In letzter Zeit bin ich selbst des öfteren auf der Suche nach Informationen, die nicht im Lexikon stehen: Internetprogramme zum Beispiel ändern sich so schnell, dass man häufig nur im Netz aktuelle Gebrauchsanweisungen findet. Zudem ist meine persönliche Verständnis-Grenze (von wegen „selbsterklärend“) in technischen Fragen schnell erreicht. Also habe ich gegoogelt, meine Fragen in Chatrooms gestellt und Tutorials angeklickt. Leider musste ich feststellen, dass es Menschen gibt, die ihre Erklärungshilfe anbieten, obwohl sie nicht gut erklären können. Sie mögen sich auskennen auf „ihrem“ Gebiet, aber sie können ihre Ratschläge entweder nicht in Worte fassen oder bereiten sich nicht vernünftig darauf vor. Und das ärgert mich. Ich habe kein Recht, mich zu ärgern – die Informationen sind kostenlos und frei verfügbar. Aber dieser Dilettantismus im Internet, der geht mir auf den Keks. Da dreht jemand ein Video, der schlecht organisiert ist, zu schnell oder zu langsam redet, sich verzettelt und mich am Ende ähnlich ratlos entlässt, wie ich aufgeschlagen bin… (Und, nein, es hilft auch nicht, mehrmals dasselbe zu schauen!)

Die Zeit, die ich sparen will, muss ich dahinein investieren, das Tutorial zu finden, das mir tatsächlich weiterhilft.

Da müssen wir ran: Erdkunde

Das Abendbrot ist fast schon beendet. Unser jüngster Sohn schreibt bald eine Sachkunde-Arbeit und lässt sich abfragen. Es geht um die Bundesländer Deutschlands und ihre Hauptstädte. Er kann alle benennen, nur bei Mainz zögert er ein wenig. Ich bin ganz erstaunt und sehr zufrieden. Im weiteren Gespräch kommen wir auf Erdkunde im allgemeinen – und unsere beiden Töchter offenbaren eklatante Schwächen: „Die Louvre fließt durch Paris“, hört man da; und nicht nur Isar, Lech, Iller und Inn, sondern auch die Ulm fließt rechts der Donau hin. Spätestens bei der Frage „Wann steigen die USA jetzt aus der EU aus?“, merken wir: Da müssen wir ran. Es hilft alles nichts, da müssen wir ran. Gleich als erstes haben wir – statt Gute-Nacht-Geschichte – Stadt, Land, Fluss gespielt…

Auch wenn es dramatisch und erschreckend ist: Ich habe lange nicht mehr so gelacht.

Wiedererkennen

Gesichtserkennung zur Sicherheit, Biometrische Authentifizierung, Iris-Erkennung – all dieser Kram in Sachen Kontrolle und Beobachtung soll uns nutzen, hat aber auch etwas Bedrohliches. Es gibt Heerscharen von Menschen, die sich damit befassen, diese Möglichkeiten heutiger Technik positiv – oder negativ – zu nutzen. Ebenso wie andere Menschengruppen versuchen, dieselben Hilfsmittel erfolgreich zu umschiffen. Ich habe davon wenig Ahnung, die technische Entwicklung in dem Bereich ist faszinierend und erschreckend gleichzeitig – und mir vor allem ein Buch mit sieben Siegeln. Ich habe meine eigenen Wiedererkennungsmechanismen…

Für mich sind Vögel schwer zu unterscheiden. Auf Fotos würde ich nur wenige von ihnen, die „gebräuchlichen“, erkennen und das war´s. Aber ich weiß, dass alle Vögel fliegen – so, wie alle Menschen (bis auf wenige Ausnahmen) gehen. Das Flugverhalten ist sehr individuell, so dass selbst ich Unterschiede wahrnehme, obwohl ich sie nicht konkret beschreiben könnte: Ich sehe, wenn ein Greifvogel seine Runden segelt oder Zugvögel mit langen, ausladenden Flügelbewegungen zielstrebig von Nord nach Süd fliegen. (Wenn sie dann noch schreien, kann ich sogar zwischen Kranichen und Gänsen unterscheiden, aber das nur am Rande.) Das Auf-der-Stelle-Rütteln eines Falken erfreut mein Herz und lässt mich innehalten und gespannt auf den Sturzflug warten. Und mich begeistert es, wie ein Schwan sich scheinbar mühsam, aber doch erfolgreich von der Wasseroberfläche erhebt. Spatzen und all die anderen kleinen flattern eher hektisch durch die Gegend, selbst in der Luft und weit weg von mir angstvoll darauf bedacht, nicht zu lange an einem Ort zu verweilen oder vorhersehbare Flugbahnen zu ziehen. Und die Mauersegler über den Dächern von Heidelberg fliegen und segeln und stürzen wieder anders und – wie ich weiß – nahezu unablässig: Sie schlafen sogar im Flug. Tauben lassen sich ziemlich einzigartig fallen, um dann wieder aufzusteigen; und die bei uns in der Gegend zahlreichen Krähen haben ihren ganz eigenen Stil, sich in der Luft zusammenzurotten.

Ebenso charakteristisch unterschiedlich gehen Menschen. Mein Mann sagt, einer meiner Söhne habe denselben Laufstil wie ich. Die Eigenarten seines (und meines) Ganges könnte ich nicht beschreiben, wiedererkennen würde ich sie aber. Selbst in vielen Jahren noch, da bin ich mir sicher, denn: Ich habe so etwas schon einmal erlebt, vor Jahren bei einem Klassentreffen. Ich war als Organisatorin ziemlich pünktlich, fast alle kamen nach mir an. Alle mussten einen mittellangen Weg zurücklegen zu dem Tisch unter dem Sonnenschirm, an dem ich saß und wartete. Ich hatte alle über zehn Jahre nicht gesehen. Bevor sie nah genug ran waren für die Gesichtserkennung, hatte ich sie schon identifiziert – am Gang.

Wenn wir aus irgendwelchen Gründen nicht erkannt werden wollen, sollten wir neben aller Verkleidung vor allem auf eins achten: Nicht bewegen!

Zuhause – unvollständige Listen

Ein Bekannter von uns hat in seiner Küche ein Schild, auf dem steht: „Zuhause ist da, wo ich meinen Bauch nicht einziehen muss.“ Schön, habe ich gedacht, das ist schön. Nicht dass es bei uns in der Familie viele Bäuche gäbe, die eingezogen werden müssten, aber die Idee dahinter finde ich gut. Für uns wären andere Sätze treffender:
Zuhause ist da,
wo ich meine Muskeln spielen lassen kann
wo ich mit ungewaschenen Haaren frühstücken kann
wo jeder weinen darf, wenn ihm danach zumute ist, und so laut lachen, wie er will
wo Morgenmuffel sich nicht zusammenreißen müssen
wo ich mich freuen darf wie ein Kind, auch wenn ich schon lange keins mehr bin
wo ich nicht verurteilt werde, wenn ich ehrlich bin
wo ich unsicher sein kann, ohne belächelt zu werden
Letztlich heißt das „Zuhause ist da, wo ich sein darf“, und das ist großartig.

Aber etwas fehlt mir:
Zuhause ist da,
wo Menschen mich daran hindern, mich selbst aufzugeben
wo wir geprägt werden, ohne es zu merken
wo „intern“ bleibt, was „intern“ ist
wo wir mehr ermutigen als korrigieren und uns trotzdem manchmal kaum ertragen können
wo wir verstehen lernen, dass Stärken und Schwächen immer zusammen gehören
wo wir konkurrieren und alle Heimvorteil haben
wo wir Verlieren lernen können – wenn wir wollen
wo es wahrscheinlich genauso viele Grenzen wie Freiräume gibt – für Leib, Geist und Seele
Zuhause ist da, wo ich mich entwickeln darf.

Alltag ist genau richtig

Die Tage, an denen unsere Kinder geboren wurden, sind mir im Gedächtnis wie der Grand Canyon sich in die Landschaft Amerikas gegraben hat: Unvergesslich, unübersehbar, tiefe Einschnitte in meinem Leben. Besondere Tage.

Dann sind da noch die Tage, an denen Dinge passiert sind, die besonders traurig, schwierig, anstrengend waren. Todesfälle oder die bedrohliche Krankheitszeit eines mir sehr nahestehenden Menschen. Bedenkenswerte und nachdenklich machende Tage sind das, von denen einige mir noch Jahre danach sehr gegenwärtig sind.

Die meisten meiner Tage verlaufen jedoch unspektakulär. Sie sind in der Überzahl, und meine Erinnerungen kann ich nur selten an konkreten Daten festmachen. Dennoch machen gerade diese Alltags-Tage mein Leben aus. Die besonderen Momente sind – eben besonders, aber nicht das Eigentliche: Weder dauerhafte Höhenflüge noch dauerhaftes Leid könnte ich gut aushalten. Ich bin für Alltag geschaffen.

Gesprächig

Unser ältester Sohn macht momentan ein Praktikum und geht morgens als Letzter aus dem Haus. Dementsprechend sitzt er allein – mit mir – am Frühstückstisch. Es interessiert mich, wie ihm sein Praktikum gefällt, wie lange er arbeiten muss, ob er nächste Woche tatsächlich die Abteilung noch einmal wechselt und warum er heute Obst mit Müsli isst. Er: „Mama, ich will dir mal was erklären. Es gibt Menschen, die morgens schon sehr gesprächig sind. Zu dieser äh … Sorte Menschen gehöre ich nicht. Wenn die gesprächigen die nicht so gesprächigen morgens ansprechen, ist es für beide anstrengend. Da wäre es dann besser, wenn man einfach mal den Mund hält.“

Ich muss lächeln, denn eine Erinnerung zieht durch mein Hirn: Studienzeiten in Freising. Ich habe nicht nur studiert, sondern auch gearbeitet. Meist bin ich morgens mit einer befreundeten WG-Mitbewohnerin aufgebrochen in unseren Gartenbaubetrieb zum „Schaffen“. Später, als ich geheiratet habe, hat sie mir ein selbst gedichtetes Lied vorgesungen. Auf Schwäbisch, denn sie „schwätzt halt so“. Eine Strophe darin lautet:

„Woisch no, wia mir boide zamma on Jaibling zum ersten Mal gfrühstück hend – es war so gega dreiviertel sechse, dass mir morgens do gsessa send.
Wia an Wasserfall hosch do scho gschprudelt, noch ra Frag aber glei erkennt, dass morgens früh zo sora Uhrzeit net alle Leit so gschprächig send.“

Der Kern der Persönlichkeit ist unveränderlich, vielleicht sogar genetisch. Allerdings scheint Gesprächigkeit nicht dominant vererbt zu werden.