Kein Märchen

Es war einmal ein Mensch, der lebte in meiner Stadt. Er war nicht besonders umgänglich – den weichen Kern verbarg eine harte, abweisende Schale. Er war auch sehr allein; in seinem Leben gab es keine Familie und nur wenige Bekannte. Bei unseren Begegnungen wurde mir bewusst, wie ungleich Menschen im Leben zurechtkommen – aufgrund sehr unterschiedlicher Startbedingungen. Ab und zu sahen wir uns, dann zog er einige hundert Kilometer weg, in den Südosten der Republik. Wir blieben in Kontakt: Auf jeden Brief von mir schrieb er ein paar dankbare Zeilen per Mail. Ein paar Jahre hatte er einen Hund; außerdem besuchter er eine ältere Dame in seiner Nachbarschaft, bis diese ins Heim umzog.

Im letzten Jahr erwähnte er ein paar Mal, dass es ihm gesundheitlich nicht gut gehe und er kaum noch aus der Wohnung komme – dann kam plötzlich nichts mehr. Seither misslingt jeder Versuch, ihn zu kontaktieren; Briefe bleiben unbeantwortet, Mails kommen als `unzustellbar´ zurück. Wahrscheinlich ist er verstorben; ich hoffe, er war am Ende nicht so allein, wie sein Leben es vermuten ließ. Ich weiß, dass andere ihn als verletzend und herablassend wahrnahmen. Mir bleibt er ganz anders in Erinnerung: als jemand, der treu war, genügsam und sehr dankbar für freundliches Interesse.

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