Ein Reh

Ich gehe laufen. Es dämmert schon ziemlich, ich sollte meine Zeiten besser an die kürzer werdenden Tage anpassen! Obwohl ich die Runde kenne wie meine Westentasche, stolpere ich über irgendeine Bodenwelle, die sich unter dem welken Laub kaum abzeichnet. Gerade noch kann ich mich abfangen und mit ein paar raumgreifenden (schnellen) Schritten Schlimmeres verhindern. Nach dem Schreck macht sich ein gewisser Stolz breit: „Ganz schön beweglich auf deine alten Tage“, denke ich.

Da springt 50 Meter vor mir ein Reh über den Weg – grazil. Als ich ungefähr an der Stelle anlange, schrickt es abseits des Weges auf und wechselt wieder die Seite. Ein großer Satz – vielleicht fünf Meter? Dann zwei „kleinere“ Sprünge, um danach anscheinend ohne Anstrengung über einen anderthalb Meter hohen Maschendrahtzaun (aus Plastik) zu setzen. (Können Rehe nicht schlecht sehen? Zumindest behauptet Wikipedia, das Erkennungsvermögen für unbewegte Gegenstände sei bei Rehen nicht sehr hoch entwickelt.)

Den Rest der Strecke trabe ich dahin. Ein bisschen schleppend kommt es mir vor, nicht wirklich grazil oder anmutig. Immer wieder sehe ich vor mir das Reh, die Leichtigkeit seiner Bewegung, diese weiten Sprünge mit den dünnen Beinchen. Und komme mir behäbig vor.

Mein Mann sagt, sich mit einem Reh zu vergleichen, sei tollkühn. Stimmt.

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