Das Eigentliche

„Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen? Ich, der Herr, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und gebe einem jeden nach seinem Tun, nach den Früchten seiner Werke.“
Jeremia 17, 9+10

Bei Frederick Buechner las ich kürzlich etwas über „the deepest self“. Seiner Ansicht nach existiert in uns ein „Ich“, das uns ausmacht und letztlich unwandelbar ist. Andere nennen es den Kern eines Menschen, seine eigentliche Persönlichkeit, die Summe seiner Charaktereigenschaften etc. Buechner schreibt über dieses „Ich“, dass aus ihm unsere Weisheit und unsere eigentliche Stärke kommen, dass unsere ehrlichsten Gebete dort ihren Ursprung haben, unsere besten Träume und glücklichsten Momente da beginnen.

Ich fand diese Gedanken zum einen äußerst tröstlich, zum anderen stimmten sie mich nachdenklich: Habe ich Zugang zu meinem Innersten? Wieviel davon ist für andere zu erkennen? Denn: Ich muss das eigentliche „Ich“ in mir ja auch leben lassen, ihm Raum geben. Um diesen Raum kämpfen jedoch allerhand „Dinge“: Umstände, Erwartungen anderer, Prägungen (derer ich mir sehr oft gar nicht bewusst bin) und am meisten wohl mein eigenes Wunsch-Ich. Und das weicht bisweilen ab von dem, was da ist.

Mein „Ich“, mein Herz(?) ist ein trotzig und verzagt Ding. Trotzig, weil es ganz eigen ist; verzagt, weil ihm viel Unsicherheit innewohnt: Bin ich das wirklich? Ich brauche Mut, es anzuschauen. Es ist nicht alles schön, was mich im Innersten ausmacht. Meine Motive sind nicht besonders rein und ehrlich und haben eben nicht immer den Anderen im Blick. Mich in meiner ganzen Fülle anzusehen, kann herausfordernd sein. Gern würde ich mich in meiner Selbstbetrachtung auf die „tollen“ Aspekte beschränken, aber die machen das Bild nicht vollständig. Ich glaube aber, dass nur dann mein wahres „Ich“ sichtbar wird, wenn ich auch meiner wahren Sturheit, Ungeduld, Selbstbezogenheit … nicht aus dem Weg gehe. Das Gesamtpaket bin ich, auch wenn mir einzelne Bereiche fremd sind oder nicht gefallen.

Es erfordert Mut, wirklich ehrlich zu sein; und zumindest in meinem Leben gibt es keinen Menschen, den ich so nah ran lasse, dem ich wirklich alles von mir offenbare. Vielleicht ist das auch nicht nötig, aber gleichzeitig spüre ich einen starken Wunsch in mir, verstanden zu werden und nichts verbergen zu müssen. Befriedigt wird dieser Wunsch für mich nur in der Begegnung mit Gott: Gott hält mich in Gänze aus – und hat mich dennoch lieb. Er ist der Einzige; kein Mensch kann das für mich sein, was Gott für mich ist. Ich erlebe diesen Gott oft als unnahbar und fern und allmächtig; aber ich erlebe ihn eben auch als freundlich und barmherzig. Er sieht mein Herz, mein Innerstes und zuckt nicht zurück, erschrickt nicht, wendet sich nicht ab. Dadurch lädt Gott mich ein, mich selbst auszuhalten und anzunehmen. Mit allem, was da ist. Meine Stärken und Schwächen zusammen will Gott gebrauchen und Früchte schenken, von denen in der Bibel die Rede ist. Buechner beschreibt sie so: „Aus diesem tiefsten „Ich“ kommen auch all die Momente, in denen wir besser oder stärker oder mutiger oder weiser sind, als wir eigentlich sind.“

Liken, disliken, haten

„Wer unvorsichtig herausfährt mit Worten, sticht wie ein Schwert; aber die Zunge der Weisen bringt Heilung.“
Sprüche 12, 18

„Ich verstehe das nicht: Haben die nichts besseres zu tun, als youtube-Videos zu schauen, die sie nicht mögen, und diese dann hinterher zu ´haten`?“, kommentiert meine 14-jährige Tochter das Verhalten von Internet-Nutzern, die sich – meist im Schutze der Anonymität – geradezu verächtlich über die kreativen Bemühungen anderer Internet-Nutzer auslassen.

Es ist nicht so, dass meiner Tochter alles gefällt – keineswegs. Sie ist durchaus in der Lage, sich kritisch zu äußern. Aber es liegt ihr fern, etwas verbal runterzumachen. Sie weiß schon, wie sehr abfällige Äußerungen schmerzen. Und sie weiß, dass Lob ermutigt.

Alltag, Extras, Pausen

„Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnetet den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.“
1. Mose 2, 2+3

In meinem Leben gibt es Alltag – normales Geschehen, wiederkehrend und in großem Maße vorhersehbar. Es gibt Extras – geplanter oder ungeplanter Besuch, Kultur (unregelmäßig), Unternehmungen. Und es gibt Pausen – zweckfreie Zeit, die nur stattfindet, wenn ich sie einplane. Alle drei wechseln sich ab, ein bisschen zufällig.

Alltag ist der Hauptanteil, kostet Kraft, macht im Idealfall Spaß und umfasst alles, was ich MUSS. Extras sind weniger häufig, kosten manchmal Geld, immer Zeit und Kraft und sind in der Regel, was ich WILL. Pausen sind seltener, kosten nichts und sind weder MUSS noch WILL. Sie fallen unter die Kategorie SCHLAU.

Ganz ohne Alltag geht es nicht, ganz ohne Extras schon. Ganz ohne Pausen geht es eine ganze Weile – allerdings nur scheinbar. Extras und Pausen stehen in direkter Konkurrenz um meine Zeit. Die Kunst ist, eine gute Balance zu finden.

Am Alltag gibt’s wenig zu rütteln. Extras durchbrechen auf erfrischende Weise den Alltagstrott und machen das Gesamtpaket leichter und aufregender. Oft häufen sich verschiedene Extras an; das ist schade, aber nicht zu ändern. Es kann immer noch schön und belebend sein. Extras bergen allerdings die Gefahr einer gewissen Dominanz: Sie verdrängen die Pausen. Nach einer gewissen Zeit verlieren die Extras dadurch ihre belebende Wirkung und entwickeln eine eigene Schwere, die den Alltagsdruck erhöht. Nicht gut. Einzige Lösung? Extras streichen – so schwer es fällt.

Wenn ich eine Weile auf Extras verzichte, bleibt mehr Zeit für Alltag und Pausen. Die Lücke, die entsteht, darf ich füllen mit Pausen, nicht mit Alltag. Pausen sind erholsam. Wiederum nach einer gewissen Zeit werden Pausen langweilig. Diese Phase will ich aushalten – und dann die eine oder andere Pause füllen mit Extras.

Ich möchte es zwar nicht (wahrhaben), aber es passiert immer wieder, dass mir selbst schöne Dinge zu viel werden. Deshalb: Es lebe die Pause – komme was wolle!

Entwaffnet – verbal

„Eine linde Antwort stillt den Zorn; aber ein hartes Wort erregt Grimm.“
Sprüche 15, 1

Es gibt wiederkehrende Gesprächsmuster bei uns: Ich bitte meinen Mann um die Erledigung einer – meist handwerklichen – Gefälligkeit. Er sagt, ich solle ihm einen Zettel schreiben. Eine Weile geschieht nichts. Einige Zeit später bringe ich mein Anliegen nochmals vor – mit mäßigem Erfolg. Schließlich suche ich das Gespräch oder besser die Auseinandersetzung und bereite mich innerlich vor aufs Schimpfen. Ich hole tief Luft und möchte mich aufregen darüber, dass eine Sache von zehn Minuten drei Anläufe von mir braucht. Und mein Mann? Entwaffnet mich. Mit einem Satz: „Süße, ich mach´ das am besten gleich – es gibt Dinge, die sollte man sofort erledigen!“

Reichlich

„Wer reichlich gibt, wird gelabt, und wer reichlich tränkt, der wird auch getränkt werden.“
Sprüche 11, 25

Ich habe nicht viel Geld, das ich weggeben kann. (Wobei das natürlich sehr relativ ist – wieviel ist viel? Aber das ist ein anderes Thema.) Etwas, wovon ich viel habe, bin ich selbst. Mein ICH ist mein Kapital. Damit kann ich großzügig umgehen oder knausrig – wie jeder, der Geld im Überfluss hat. Also gilt dieser Vers auch für mich.

Der größte Teil meines Seins „tränkt“ meine Familie, direkt und indirekt. Ein kleinerer Teil fließt in Beziehungen zu anderen Menschen. Ganz objektiv bleibt insgesamt wenig Kraft und Zeit für mich selbst, für meine eigenen Interessen, die nicht nur mit Wäsche, Essen, Putzen und Gemeinschaft zu tun haben. Subjektiv schenkt Gott mir reichlich, was ich brauche – wie er das macht, bleibt sein Geheimnis. Ich bin trotz Zeitmangels kreativ und effektiv, fühle mich inspiriert und nicht betrogen um irgendetwas. Ich werde „getränkt“ – auch wenn ich die Zeit zum Schreiben als umkämpft empfinde, die Zeit zum Lesen und Alleinsein ebenso. Mein Kapital, mein ICH ist immer noch da. Gott selbst achtet darauf.

Was wir in Gesprächen finden – manchmal

„Ein jeder hat zuerst in seiner Sache recht; kommt aber der andere zu Wort, findet sich´s.“
Sprüche 18, 17

Findet sich`s? Das kann ich nicht bestätigen. Solange ich mich nur mit mir selbst unterhalte – vielleicht. Da habe ich recht, ist alles logisch und ganz einfach. Sobald ich anderen Gesprächszeit einräume, wird es komplizierter. Da wird widersprochen, unangreifbar argumentiert, aus einem mir fremden Blickwinkel betrachtet oder einfach aneinander vorbei geredet. Da findet sich dann gar nichts mehr – am wenigstens ein gemeinsamer Nenner.

Gute Kommunikation ist kein Selbstläufer, jedenfalls nicht bei uns im Haus: Wir provozieren, was das Zeug hält, geben nur ungern nach, unterbrechen lautstark und oft. Von „findet sich´s“ keine Spur. Erst nach langer Suche und erbitterten Kämpfen kommen Einigungen zustande: „Geh endlich raus aus meinem Zimmer!“ „Warum?“ „Geh einfach raus!“

Aber auch wir erleben Sternstunden. Eine unserer Töchter, die Kaninchenbesitzerin, geht nicht so gern allein in den Keller und noch weniger gern im Dunkeln raus zum letzten Füttern. „Kommt einer mit?“, fragt sie dann. Es kann Streit gegeben haben vorher oder auch gleichgültiges Stillschweigen. Einer geht immer mit, keiner lacht sie aus, keiner überlässt sie ihrer Angst – da findet sich´s dann doch: Die Liebe zu ihr, das Verständnis für sie, die Hilfe in ihrer Not: „Los, ich komm´ mit!“

Ein gefühlter Verlust

Der amerikanische Theologe Eugene Peterson ist gestorben. Eine Meldung im Netz, in einer deutschen Zeitung werde ich sie nicht finden. Für mich ist es mehr als eine Meldung, die das Ende eines Lebens markiert. In mir löst die Nachricht seines Todes ein Gefühl des Verlustes aus, obwohl ich Eugene Peterson nicht persönlich gekannt habe. Ich bin traurig über seinen Tod. Seine Bücher begleiten mich seit Jahrzehnten und haben mich herausgefordert und geprägt. Von ihm habe ich mich verstanden gefühlt wie von einem guten Freund. Er hatte die Gabe, theologisch Abstraktes zu durchdringen und verständlich zu formulieren. Dadurch habe ich die Bibel besser verstanden und Hilfen bekommen, meinen eigenen Glauben praktisch werden zu lassen.

Auch zu seinen Lebzeiten bin ich ihm nur in seinen Büchern begegnet, daran wird sich nichts ändern. Dennoch trauere ich, als wäre sein Tod ein tatsächlicher Verlust für mein eigenes Leben. Ist das komisch? Es gab keine Gelegenheit, ihn persönlich kennenzulernen. Ich bin nicht sicher, ob er meinen Brief an ihn diesen Sommer bekommen und gelesen hat. Wahrscheinlicher ist, dass er gar nichts von mir wusste. Unsere Bekanntschaft war absolut einseitig. Dennoch fühlt es sich an, als wäre ein „Freund“ von mir gestorben.

Die Gnade zwischen richtig und gut

„So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Römer 3, 28

Zwischen richtig und falsch liegt in Mathematik manchmal nur eine Zahl, in einem Text ein Wort, in einem Wort ein Buchstabe. Im wahren Leben gibt es neben richtig und falsch unter anderem auch noch gut. Zwischen richtig und gut spielt sich mehr ab, als man auf den ersten Blick denkt: Pünktlich sein oder zu einem privaten Treffen mit der ganzen Familie stressfrei und ohne Streit ankommen. In einer Diskussion nicht nachgeben und Recht behalten oder um Verständnis ringen und das mit dem Recht nicht klären – aber dafür gemeinsam Essen kochen (oder so). Sich der Obrigkeit unterordnen – um jeden Preis – oder sich wie Bonhoeffer für den Widerstand entscheiden – auch um jeden Preis.

Ich will nicht sagen, dass Regeln dazu da sind, ignoriert zu werden – keinesfalls. Aber Regeln als alleiniger Maßstab erscheinen mir nicht in einen leb-baren Alltag zu münden. Denn: So richtig eindeutig ist „richtig“ oft nicht zu definieren. Was von einer Seite richtig aussieht, kann sich auf der anderen Seite zwar vielleicht nicht falsch, aber auch nicht gut anfühlen. Und dann ist „richtig“ zwar manchmal die einfachere Lösung, aber keine gute. Für „nicht richtig“ brauche ich meistens Mut und immer Vertrauen, dass mir mit Gnade begegnet wird. Bei Gott liegt zwischen richtig und gut Jesus mit seiner Vergebung.

Vom Leben vor dem Sterben

Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Psalm 90, 12

Wenn ich wüsste, wann ich sterben muss – würde ich dann anders leben? Ich weiß, dass ich sterben muss. Ich weiß auch, dass die Zeit bis dahin höchstens in Jahrzehnten zu zählen ist. Und ich empfinde die Zeit als immer schneller vergehend, je älter ich werde. Müsste ich nicht viel bewusster im Wissen um dieses Sterben leben?

Ich wäre (noch) ehrlicher. Ich würde noch mehr von den Aktionen und Aufgaben streichen, die ich für entbehrlich halte. Ich würde mich noch mehr auf die Beziehungen in meinem Leben konzentrieren. Ich würde versuchen, alles zu genießen und bewusst zu gestalten – auch die Dinge, die mir nicht so gut gefallen. Mir mehr Zeit nehmen, abzuwägen, ob etwas wirklich dran ist oder nicht.

Meine Umstände würde ich nicht ändern, keine besondere Reise machen oder noch einen Paragliding-Flug, auch keinen Marathon oder eine Solo-Umseglung der Welt. Ich würde versuchen, den einzelnen Tag zu nehmen, wie er ist, und in ihm Gott suchen. Und ich würde nicht immerzu darüber nachdenken, dass es bald vorbei ist. Im Grunde lebe ich das – in Ansätzen – schon jetzt. Wachstumspotential gibt es immer: Ich halte mich noch nicht für besonders klug.

Hirten und Schafe

Ein Pastor ist ein Hirte. Ich bin ein Schaf. Ich bin zwar nicht so herdenkompatibel wie ein Schaf und auch nicht ganz so ohne eigene Meinung, aber ich bleibe ein Schaf. Wenn ich Orientierung brauche, suche ich einen Hirten – und ich bin froh, wenn dann da ein Hirte ist, dem ich vertrauen kann. Mein eigener Pastor ist glücklicherweise so einer, aber es gibt noch andere Hirten in meinem Leben. Einige kenne ich nur aus Büchern, und sie begleiten mich schon lange. Warum sie in meinen Augen gute Hirten sind? Sie lieben Jesus und die Bibel, suchen dort nach Wegweisung – für sich selbst und die Schafe. Sie sind ehrlich, überlegt, klug und trotzdem bodenständig und praktisch:

„…ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme…“
Dietrich Bonhoeffer

„But if the Christian life means anything at all, it finally has to get into the worlds of what we do between waking and sleeping, into the realm of the routine, ordinary speech, habitual responses, casual reactions.“
Eugene H. Peterson

Meine beiden Hirten – der eine schon tot, gestorben, als er jünger war als ich heute (und so viel reifer), der andere weit weg in den Bergen von Montana. Beide inspirieren und ermutigen mich, sind manchmal Trost, oft Herausforderung für mich in meinem Alltag, in meinem Denken. Ihre Weisheiten sind für mich häufig einprägsamer als die eines Paulus – der immerhin ebenso erfrischende Briefe aus seiner Gefängniszelle geschrieben hat wie Dietrich Bonhoeffer. Liegt vielleicht daran, dass sie sich mehr mit den Gegebenheiten des Lebens heute herumschlagen mussten oder noch herumschlagen. Und weil sie die Bibel nicht nur in eine heutige Sprache übersetzen, sondern auch noch in meine heutigen Umstände.

Das ist wohl das, was ein guter Hirte macht, und da bin ich dann gern ein Schaf.