Vergesslich

Ich bringe ein Kind zum Startpunkt zur Klassenfahrt und will auf dem Rückweg mittelalten Gouda und Gelierzucker besorgen. Ich notiere mir beides, stecke den Zettel in meine Jackentasche – lasse diese dann aber wegen der Wärme zu Hause liegen. Im Supermarkt frage ich mich, wo mein Einkaufszettel ist und bleibe irritiert und ratlos stehen. Ich weiß zwar, dass ich zwei Dinge kaufen wollte, aber mir fällt weder das eine noch das andere ein. Unsicher streife ich durch die Gänge und schnappe mir eine Packung Mozzarella: wenigstens etwas, denke ich. Ein schwacher Trost, denn eigentlich möchte ich nicht ohne meine `Beute´ wieder abziehen: Spätestens zu Hause werde ich mich ärgern, dass ich noch einmal los muss. Währenddessen nähere ich mich der Käsetheke – in der gut sichtbar mittelalter Gouda liegt. Erleichterung macht sich breit; Stirn und Hirn entspannen sich, so dass mir zehn Sekunden später auch der Gelierzucker wieder einfällt: Gerade nochmal gut gegangen!

Halbwertzeit von Nachrichten

Nachrichten werden nicht dadurch bedeutsamer oder gar wahrer, dass sie jeden Tag in der Zeitung stehen. Sie wirken zwar dringlich, wenn sie täglich wiederholt werden – wichtig für unser persönliches Leben sind sie deshalb aber nicht automatisch. Deutlich wird das auch im wunderbaren Film `News of the world´ mit Tom Hanks und Helena Zengel: Ein ehemaliger Captain reist im 19. Jahrhundert durch Amerikas Wilden Westen und liest Menschen, die nicht lesen können, Zeitungsartikel vor. Natürlich sind diese Nachrichten dann immer schon veraltet – und außerdem nur ein klitzekleiner Ausschnitt der weltweiten Wirklichkeit. Sie dienen deshalb auch weniger der Information als der Abwechslung, die in der amerikanischen Prärie ansonsten eher rar ist: Die Leseabende sind auch wegen der unterhaltsamen Vortragsweise durch den Captain gut besucht. Ihren alltäglichen Kleinkram jedoch schaffen die Bewohner des Wilden Westens sehr gut, ohne immerzu bestens informiert zu sein.

Wenn wir ehrlich sind: Es geht uns ähnlich. Die Zeitungslektüre heute taugt höchstens dazu, uns in Angst und Schrecken zu versetzen: `… hier ein Hurrikan, dort ein Waldbrand und dann ein Erdbeben – man könnte meinen, wir rasten von einer Katastrophe in die nächste´ las ich kürzlich in einem Kommentar. Ebenso wahr sei, `… dass heute zehnmal weniger Menschen durch Naturkatastrophen sterben als vor hundert Jahren. Solche Nachrichten verbreiten sich aber langsamer.´

Je nachdem, wie wir beschaffen sind, lösen die negativen Informationen etwas aus in uns: Angst, (Des-)Interesse, Zweifel oder resigniertes Kopfschütteln – meist mit geringer Halbwertzeit. Ähnliches gilt für positive Nachrichten, schätze ich: wenn wir zum Beispiel Fußball-Weltmeister werden, EIN Erdbebenopfer nach 70 Stunden noch gerettet wird oder im kolumbianischen Dschungel vier Kinder erst einen Flugzeugabsturz und dann auch noch die 40 Tage danach allein überleben. Wir sind im Moment begeistert, aber schon morgen sind auch diese Highlights gestrig – und werden überlagert von dem, was dann Dringliches in der Zeitung steht.

Trotz alldem, was (täglich) in der großen weiten Welt geschieht, leben die meisten von uns (täglich) gerade so weiter wie bisher. Das ist normal und liegt auch daran, dass wir eben genug zu tun haben. Emotional lassen wir uns hauptsächlich von dem berühren, was auf unserer kleinen Scholle tatsächlich passiert – und das ist für manche herausfordernd genug.

Zugehörig

Beim Laufen: An einer Kreuzung kommt von links ein mittelgroßes Läuferfeld – begleitet von Rettungswagen vorn und Service-Wagen hinten. Ich flitze vor dem Tross über die Straße und hebe spontan zum Winken den Arm; einige winken zurück. Obwohl ich niemanden kenne, fühle ich mich ihnen zugehörig: Schließlich laufen sie ebenso wie ich. Das ist, als würde man auf der Autobahn am anderen Ende der Republik ein Auto mit heimatlichem Kennzeichen sehen … oder in Schottland beim Wandern deutsche Urlauber treffen … oder mitten in Afrika einen Mitteleuropäer. Wir fühlen uns dazugehörig, sobald wir jemandem begegnen, mit dem wir eine gemeinsame Schnittmenge haben – und sei sie auch noch so klein, äußerlich und letztlich unbedeutend.

Langmütig

In einer Zeitschrift steht ein Erfahrungsbericht: Zwei – nicht miteinander – verheiratete Menschen lernen sich über ihre Kinder kennen und dann auch lieben. Beide Ehen seien zu dem Zeitpunkt eh schon am Ende gewesen, heißt es; trotzdem bleibt die Frau zunächst bei ihrem Ehemann. Insgesamt dauert es vier Jahre, bis die beiden neuen Partner zusammenziehen und in ihr Patchwork-Leben starten.

Der Gedanke, der den Mann so lange durchhalten und auf seine neue Freundin warten ließ: `Liebe ist langmütig.´ Der Satz ist großartig und steht in der Bibel, (1. Korinther 13, 4). In besagtem Fall klingt er total positiv und ausdauernd und treu und hingegeben und was weiß ich noch – scheint aber leider und offenbar nicht zu gelten für die Liebe zum jeweils ersten Ehe-Partner.

Es ist erstaunlich, wie sich mehr oder weniger ALLES irgendwie schönreden lässt, gern auch mit der Bibel. Von der Liebe heißt es dort außerdem noch, `sie ertragt, glaubt, hofft und duldet alles …. und hört niemals auf´ (1. Korinther 13, 7+8). Ich bin absolut dafür, die Bibel in Lebensfragen zu beherzigen. Aber wir sollten uns nicht nur dann auf sie berufen, wenn wir uns aufmachen zu spannenden neuen Abenteuern. Sie ist eine ebenso gültige und gleichzeitig herausfordernde Orientierungshilfe im manchmal mühselig gewordenen Alltag. Vor allem um der Kinder willen ist der neuen Liebe jedenfalls mehr Langmut zu wünschen als den jeweils vorhergegangen …

Nahtloser Übergang

„Ein Jahr ist wirklich kurz“, sagt der Freund meines Sohnes, der drei Monate vor dem Ende seines FSJ ist, „gerade habe ich damit angefangen und musste alles kennenlernen. Jetzt bin ich richtig da – und schon ist es fast wieder vorbei. Der Übergang war irgendwie nahtlos von Ankommen zu Abschied nehmen.“

Ich denke: 25 Jahre sind wirklich kurz. Gerade habe ich unsere Kinder geboren und durfte Familienleben kennenlernen. Jetzt zieht einer nach dem anderen aus; Familie wie bisher ist schon fast wieder vorbei. Der Übergang scheint irgendwie nahtlos zu sein – und meine Emotionen kommen nicht ganz so schnell hinterher.

Keine Arbeit – und doch zu tun

„Wozu hätte ich denn dann meine Ausbildung gemacht, wenn ich gar nicht arbeiten ginge?“, fragte mich kürzlich eine Frau. Mich regt die Frage ein wenig auf – wahrscheinlich weil ich genau das nicht tue: (meiner Ausbildung gemäß) arbeiten. Dabei kommt mir vieles von dem zugute, was ich während meiner Ausbildungen gelernt habe, weniger fachlich, aber doch irgendwie: Ich kann und muss täglich organisieren, verhandeln, alles Mögliche planen, die Finanzen im Blick behalten, mich durchbeißen, Entscheidungen treffen, Prioritäten setzen, Kompromisse schließen und mehr tun als Dienst nach Vorschrift. Würde es irgendeinen Unterschied machen, wenn ich all das in einem Beruf täte – egal ob meiner Ausbildung gemäß oder artfremd? In den Augen meines Gegenübers wäre es wahrscheinlich legitimer, wenn ich überhaupt berufstätig wäre: Quereinsteiger sind heutzutage geschätzt und modern (und gelten als flexibel).

Ich aber bin noch immer hauptsächlich (nur) zu Hause tätig. Niemand würde das als Arbeit bezeichnen – vor allem weil ich kein Geld damit verdiene. Aber dass ich deshalb nicht arbeite, glaubt nur der, dessen Haushalt sich `von allein´ macht und der nicht mit Kindern zusammenlebt. Dennoch ist Arbeit den Berufstätigen vorbehalten, die das, was ich tue, in ihrer Freizeit erledigen: einkaufen, kochen, sich um die Wäsche kümmern, den Garten pflegen, Kinder erziehen. Denn richtige Arbeit ist (in den Köpfen der Menschen) immer verknüpft damit, Geld zu verdienen. Allerdings greift das meiner Meinung nach zu kurz: Während die Putzfrau meiner Nachbarn arbeitet, putze ich nur mein eigenes Haus. Die Tätigkeit ist dieselbe, wir bezeichnen sie nur unterschiedlich – dabei verändert sie sich nicht oder wird dadurch wertvoller, weil jemand dafür bezahlt wird.

Meine Ausbildung lohnt sich nicht nur dann, wenn ich sie auch für einen Beruf nutze. Was ich heute tue, ist auf jeden Fall Folge meiner Vergangenheit – auch wenn ich die eine oder andere Weiche anders gestellt habe als ursprünglich anvisiert. Zwar muss ich nicht jeden Tag zur Arbeit, aber ich mache mich jeden Tag an die Arbeit. Und ich bin froh, dass ich etwas zu tun habe, was gebraucht wird und mir meist und noch immer so viel Spaß macht!

Körper-Formen

Eine Werbung zeigt eine junge Frau, die von sich sagt, sie fühle sich unwohl in ihrem Körper – wegen zu viel Hüftspecks. Jetzt aber habe sie eine super Lösung gefunden: Sie benutze eine Art Shirt mit `body shaping´-Funktion, so dass (ihre Worte) „es nicht mehr über den Hosenbund quillt“. Das Oberteil enge nicht ein und sei sehr bequem zu tragen – ihr „confidence boost“ für den Tag.

Ich werde nachdenklich. Natürlich gehe auch ich nicht nackt auf die Straße und schätze Klamotten nicht nur wegen ihrer wärmenden Wirkung oder um meine Schamzonen zu bedecken. Auch für mich ist Kleidung ein Mittel, mich selbst (und meinen Körper) vorteilhaft zu präsentieren. Dennoch käme es mir ein wenig wie Selbstbetrug vor, würde ich die Stellen meines Körpers, mit denen es mir nicht gut geht, weg- oder hin-formen – um selbstbewusster auftreten zu können. Langfristig stärkender für mein Selbstwertgefühl wäre es sicher, meine Problemzonen entweder als zu mir gehörig zu akzeptieren oder ihnen buchstäblich zu Leibe zu rücken.

Lebensnah

Ein ehemaliger Lehrer kommt in unserer Zeitung zu Wort. Er kritisiert Schule – sie vermittele Inhalte, die für Schüler nicht relevant seien. „In Mathe habe ich schon lange versucht, möglichst lebensnah zu unterrichten“, sagt er, „Wir haben zum Beispiel ausgerechnet, ob ein Elefant in unser Klassenzimmer passt.“ Das klingt erstmal total praktisch und lebensnah, klar. Meine Güte ist der groß, könnte Schülerlein dann denken, wenn es erfährt, dass nur ein Elefant Platz hat, zwei aber wahrscheinlich Platzangst bekämen. Aber was bitte hat ein afrikanischer Elefant im Klassenzimmern einer deutschen Schule zu suchen? Und: Wie soll er hineinkommen? Durch die Tür passt er schonmal nicht – das weiß ich auch ohne Mathe.

Unter lebensnah fiele bei mir daher eher etwas anderes: Der jährliche Wasserverbrauch pro Kopf in Deutschland liegt bei 297cbm, das sind täglich 0,8cbm (1. Rechnung, 297cbm:365d=0,8cbm/d). Umgerechnet sind das 800 Liter (2. Rechnung, 0,8cbm=800l) oder vier Badewannenfüllungen täglich (3. Rechnung, 800l:200l=4). Nebeninfo: Ein Drittel davon brauchen wir tatsächlich fürs Baden und Duschen, ein Drittel für Toilettengänge, ein Drittel für den gesamten Rest: Wäsche waschen, essen und trinken, kochen, den Garten wässern, putzen …

Wie lange muss ein gebräuchlicher Wasserhahn für diese 800 Liter nonstop laufen? Je nach Durchflussmenge des Wasserhahns (normal sind es 15 Liter pro Minute, bei Spar-Armaturen nur sechs bis sieben Liter pro Minute) ergibt sich die 4. Rechnung, 800l:15l/min=53,33min beziehungsweise 800l:7l/min=114,3min. Das sind eine beziehungsweise zwei Stunden – täglich. Ganz schön lange! Vielleicht würde eine solche Mathestunde den einen oder anderen Schüler dazu motivieren, laufende Wasserhähne schneller zuzudrehen als bisher … Das finde ich lebensnah.

Interessant: Selbstgespräche

„Interessante Selbstgespräche setzen einen klugen Partner voraus.“
Herbert George Wells

Ich will aus dem leeren Haus gehen und murmele vor mich hin: „Also erst in die Stadt: Karstadt und Drogerie … dann wieder zurück Wäsche aufhängen, die Waschmaschine ist dann fertig … dann die beiden Kinder meiner Freundin aus Kindergarten und Schule abholen … könnte klappen, dass ich dann pünktlich VOR meinen eigenen Kindern wieder zu Hause bin …“

Ich bin eindeutig der Typ, der – mit sich allein – Selbstgespräche führt. Sie sind vielleicht nicht interessant, aber es ist interessant, dass ich sie führe.