Real?

`Be real´ ist eine neue Erfindung der Zeitvernichter: Man fotografiert etwas und richtet gleichzeitig die Kamera auf sich selbst. Die beiden Bilder zusammen sind ein `be real´ – ein Abbild meiner momentanen Realität – und werden für die digitale Gemeinschaft ins Netz gestellt. Es dauert maximal zwei Minuten. Ich finde das weder spannend noch lustig noch besonders real. Ich weiß, wie wenig aussagekräftig ein Foto ohne Kontext ist – und wie mangelhaft eine Momentaufnahme die Gesamtsituation beschreibt. 

„Ich muss noch mein `be real´ für heute machen“, sagt meine Tochter. Dabei spielt sich die Realität fernab ihres Handy-Displays ab – und vorzugsweise in der Zeit, während sie nicht mit einem `be real´ beschäftigt ist.

Vom Tanzen

Ich komme von einem Termin nach Hause; meine Tochter schnippelt Salat; in der Küche läuft Musik. Sogleich helfe ich bei dem, was fürs Abendbrot noch gebraucht wird. Kurz darauf erschallt ein Lied, das mir in die Füße fährt. Glücklicherweise hindert mich ein wenig Bewegung nicht daran, die Bratwürstchen in der Pfanne zu wenden. In solchen Momenten bin ich mir ganz sicher: Im tiefsten Innern bin ich eine Tänzerin.

Immer online?

Ein Journalist macht aus einem Geschehen eine Nachricht. Das Wichtige kommt zuerst und ausführlich, das Unwichtige später und kurz, manches findet nie den Weg in die Öffentlichkeit. Was zur Nachricht wird, sollte schnell verfügbar sein, verständlich aufbereitet und so umfassend wie nötig. Dabei konkurrieren viele verschiedenen Medien um viele Leser: je mehr, desto besser. Wer im Nachrichten-Geschäft tätig ist, müsse daher `immer online´ sein, erzählt mir ein Bekannter – und möglichst schneller als die Konkurrenz.

`Immer online´: Ich frage mich, ob das etwas für mich wäre. Während ich darüber nachdenke und bete, kommen mir Argumente dafür und dagegen in den Sinn. Der Umgang mit Worten reizt mich, es ist sicherlich horizonterweiternd, ich bekäme Geld dafür … Andererseits möchte ich nur für Menschen `immer online´, also jederzeit erreichbar, sein: nämlich für meine Kinder und meinen Mann. Von ihnen lasse ich gern meine Tage bestimmen und gestalten. Vieles von dem, was in der Welt geschieht, betrifft mein tägliches Leben nicht wirklich – auch wenn es sich noch so bedeutungsvoll liest.

Ebenso oder eben anders

Aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wirkt fast jedes Ding und fast jede Situation anders. Nur vollkommen symmetrische Objekte wie zum Beispiel Kugeln sehen aus jeder Perspektive gleich aus. Und eine Situation ist höchstens dann eindeutig, wenn maximal ich selbst beteiligt bin. Sobald mehrere Menschen `im Spiel´ sind, wird es kompliziert: Niemand nimmt etwas ebenso wahr wie ich, versteht Bemerkungen ebenso wie ich, bewertet Aussagen ebenso wie ich oder reagiert ebenso wie ich. Niemand. Ich lebe ganz klar in meiner eigenen Wahrheit – und das geht allen anderen Menschen ebenso. Jede dieser Wahrheiten ist (irgendwie) wahr. Es wäre viel gewonnen, wäre mir das ebenso klar wie meine eigene Sichtweise!

Wie warm?

Nach den eiskalten Tagen gehe ich – viel zu warm angezogen – spazieren und treffe andere – viel zu warm angezogene – Spaziergänger. Wir sind uns einig: Es sind zwar `nur´ sechs Grad, die fühlen sich aber an wie 16 Grad. Ich genieße es, dass ich nicht mehr friere: weil mein Körper sich an die Eiseskälte gewöhnt hatte. Wer bei minus 11 Grad draußen war, dem erscheinen 6 Grad dann eben als warm.

Noch einige Tage später sind es tatsächlich 16 Grad, die sich auch wie 16 Grad anfühlen. Ich bin nicht mehr zu warm angezogen; allerdings gewöhnt mein Körper sich jetzt wieder an frühlingshafte Temperaturen. Ich könnte mich darüber freuen, tue es aber nicht. Denn der Winter ist noch nicht vorbei; es wird wieder kälter, und dann werde ich wieder frieren. Diese wechselhaften Temperaturen kenne ich schon: Sie haben nicht viel mit einem allgemeinen Klimawandel zu tun, sondern mit der Gegend, in der ich wohne. Seit über 25 Jahren erlebe ich im Winter schwankende Temperaturen, oft Regen, nur manchmal Minustemperaturen, selten Schnee – und das alles von Oktober bis März.

Nur kein Druck?

In Niedersachsen denken Politiker ernsthaft darüber nach, die Schulnoten abzuschaffen. Nur in den Abschlussjahrgängen 9, 10 und 13 seien Zensuren weiterhin zwingend nötig, meinen sie. In allen anderen Klassenstufen wären Lernentwicklungsberichte die bessere Alternative: Diese würden `den Leistungsdruck reduzieren, den viele Schüler empfänden´. Leistungsdruck ist in diesem Zusammenhang und für diese Menschen eindeutig negativ konnotiert – und das wundert und erschreckt mich zugleich.

Druck braucht es zum Beispiel, damit wunderschöne Diamanten entstehen. Zeitdruck hilft mir dabei, meine Anstrengungen zu intensivieren und mich besser auf ein Ziel zu fokussieren. Und wenn ein gewisser Erwartungsdruck auf mir lastet, mobilisiere ich Energien, von denen ich vorher nicht wusste, dass sie in mir stecken.

Das Gegenteil von Druck ist vollkommene Freiheit. Aber sind wir freiwillig bereit, uns anzustrengen und etwas RICHTIG GUT zu machen? Oder geben wir uns stattdessen mit einer gewissen Mittelmäßigkeit zufrieden, wenn der Ansporn eines klaren Ergebnisses fehlt? Ein Leben ohne Druck, ohne Auseinandersetzung, ohne Ziele – das ist ein Leben, in dem Beliebigkeit herrscht. Das klingt noch nicht einmal positiv und ist es auch nicht.

Wer sich `stets bemüht hat´, kann damit acht Schuljahre lang höchst zufrieden sein. Spätestens dann wird daraus maximal eine 5 oder 6. Eine Schulkarriere voller ermutigender Lernentwicklungsberichte könnte so mit einer Vollbremsung enden oder direkt vor der Wand. Wie Schülerlein ohne Vorwarnung mit dem Druck dieses Aufpralls zurechtkommen soll, ist mir ein Rätsel.