Mathe?

Für meinen Jüngsten soll ich eine Mathearbeit unterschreiben. „Ich kann Mathe nicht“, sagt er frustriert: Er hat eine 4. Eine 4 ist ausreichend – damit wäre ich auch nicht zufrieden. Spontan denke ich, er sollte beim nächsten Mal vorher mehr Rechnen üben.

Bei näherer Betrachtung sehe ich, dass die von ihm bearbeiteten Aufgaben fast fehlerfrei sind. Trotz der 4 weiß ich deshalb: Er rechnet gut, daran muss er nicht viel ändern.

Allerdings hat er eine Aufgabe übersehen und eine andere nur zu zwei Dritteln bearbeitet. Für die letzte Aufgabe fehlte ihm Zeit. Wegen der 4 weiß ich deshalb auch: Er konzentriert sich nicht genug und arbeitet zu langsam; daran muss er etwas ändern.

Rechnen üben wäre leichter… 

Tatsächlich

Immer wieder werden Autofahrer von ihrem Navigationsgerät in Gräben oder unverhofft auftauchende Weiher gelockt – ich lese in regelmäßigen Abständen davon. Ich gebe zu: Eine elektronische Navigationshilfe ist praktisch. Trotzdem vertraue ich unserem Navi nicht blind. Wohin ich tatsächlich fahre, entscheiden mein Orientierungssinn, der Blick durch die Windschutzscheibe und ein Gespür für `abseits der Straße´.

Jeder hat heutzutage eine Wetter-App auf dem Smartphone; meine liegt oft daneben mit ihren Prognosen für genau meinen Standort. Eine App kann hilfreich sein. Aber ob es tatsächlich regnet (und wie stark), sehe ich, indem ich aus dem Fenster schaue oder vor die Tür trete. 

Ich höre von Leuten ohne Krankheits-Symptome, die sich erst durch einen negativen Corona-Schnelltest sicher genug fühlen, andere Menschen zu treffen. Es mag sein, dass man besonders ansteckend ist, bevor man selbst Symptome spürt. Aber wie ich mich tatsächlich fühle, lasse ich nicht ausschließlich von einem Test bestimmen – sei er auch noch so sensibel.

Unmissverständlich

Wie reagiere ich, wenn einer sich im Ton vergreift und mir Vorwürfe macht? Es ärgert mich (vielleicht zu Recht); meine spontane Reaktion wäre, mich zu verteidigen – unmissverständlich und wahrscheinlich verletzend. Schnell diskutieren wir dann nicht mehr, sondern streiten. Stattdessen kann ich bis zehn zählen, nachfragen und mich bemühen, selbst verständnisvoll zu sein – besser noch: einfühlsam und vorsichtig. Das ist schwierig, denn so fühle ich mich weiterhin missverstanden und ungerechtfertigt beschuldigt. Aber wir bleiben im Gespräch. Manchmal ist das wichtiger, als dass ich unmissverständlich MEINE Meinung äußere (und zum Gegenangriff übergehe). Schließlich hoffe ich darauf, dass Menschen mir gegenüber ebenso einfühlsam und vorsichtig sind – und ab und an darauf verzichten, unmissverständlich IHRE Meinung zu äußern.

Kurze Zündschnur

Jemand in meinem näheren Umfeld hat eine `kurze Zündschnur´. Bei ihm braucht es nicht viel – und schwups geht er in die Luft. Es lässt sich von außen nichts dagegen tun; beschwichtigende Worte sind zwecklos. Meist ist die Explosion schnell wieder vorüber, aber für einen kurzen Moment bringe ich mich besser in Deckung – und verbitte mir jegliches Schmunzeln.

Niemand ist ganz allein

Bei Frederick Buechner lese ich ein Zitat von einem Dr. Donne, das anfängt mit “No man is an island”. (`Niemand ist eine Insel´, was so viel heißen soll wie `Niemand ist ganz allein´.) Buechner selbst schreibt dazu: „Anders ausgedrückt: Die Menschheit ist wie ein riesiges Spinnennetz: Wenn du es irgendwo anfasst, bringst du das ganze Ding zum Zittern. … Dabei ist es egal, wie wir uns anderen gegenüber benehmen – freundlich, gleichgültig oder feindselig: Es bleibt nie folgenlos. Das Leben, das wir anrühren, beeinflusst ein anderes und so weiter. Wir wissen nicht, wo überall oder wie lange dieses Zittern noch spürbar sein wird.“ (Frederick Buechner, A room called remember)

Ich finde diese Vorstellung einerseits tröstlich, andererseits hängt daran eine gewaltige Verantwortung: Wie ich mich EINEM Menschen gegenüber verhalte, bleibt nicht auf uns beide begrenzt. Es zieht seine Kreise über diese Begegnung hinaus – besonders hinsichtlich derer, die uns beiden sehr nahestehen. Werde ich ermutigt oder gelobt, freuen sich alle mit. Anders wirkt es sich aus, wenn mich jemand persönlich angreift und dadurch verletzt. Dann betrifft das meine Leute – sachlich – überhaupt nicht, und hat doch ganz viel mit ihnen zu tun. Vor allem mein Mann und meine Kinder spüren mein `Zittern´. Es kann sogar sein, dass ihnen die Angriffe mehr unter die Haut gehen als mir: Um einen anderen machen wir uns mehr Sorgen als um uns selbst. Sie können mich ermutigen und trösten, nur ganz allein lassen können sie mich nicht – “no man is an island.”

Ein guter Zeitpunkt

Es heißt, wenn es am schönsten ist, sollte man aufhören. Dann tritt man mit einem tollen Gefühl ab – oder bleibt in bester Erinnerung.

Einer meiner Söhne meint, Jogi Löw hätte nach dem WM-Titel 2014 aufhören sollen: „Mehr konnte er nicht `mitnehmen´, das wäre ein guter Zeitpunkt gewesen“, sagt er. Löw sah das anders, er war noch nicht `satt´, wie man sagt. Jetzt versucht er sich an der EM; das kann gut oder nicht ganz so gut sein – je nachdem, wie diese für Deutschland ausgeht.

Mein ältester Sohn macht sich fertig, sein Elternhaus zu verlassen. Der Zeitpunkt ist gut: Wir verstehen uns sehr gut, mehr kann er von uns kaum mitnehmen. Deshalb `schubsen wir ihn aus dem Nest´, obwohl wir unseren Sohn nicht `satt´ haben: Wir versuchen nicht, noch länger mit ihm zusammen zu leben; das wäre nicht gut – egal, wie sein Leben ausgeht.

Nicht der Rede wert

Ich spüre meinen Kopf – habe aber keine Kopfschmerzen, meine Nase kribbelt – nicht allergisch bedingt, mein Hals ist trocken – obwohl ich viel trinke. Alles deutet darauf hin, dass ich einen ganz normalen Schnupfen bekomme. Vier Kinder doktern schon seit einer Woche mit denselben Symptomen herum: Wie immer gehen diese Erkältungen leicht versetzt durch mindestens zwei Drittel der Familie, meist bleiben nur ein oder zwei von uns ganz verschont. Nach Monaten, in denen viel über Corona und Covid-19 gesprochen wurde, sind wir zum ersten Mal wieder verschnupft. Das fühlt sich merkwürdig banal und vertraut an – nicht der Rede wert: Unser Immunsystem macht sich zur Abwehr bereit.

Es dauert

Die Kühltheke im Supermarkt ist ausgefallen – seit zwei Tagen schon. Am Samstagmorgen bekomme ich hier keine Milch, keine Butter und überhaupt keine Molkerei-Produkte. Das ist ärgerlich, denke ich, korrigiere mich aber sofort: Viel ärgerlicher ist es, dass der Inhalt von zirka zehn Metern Kühltheke in den Müll wandert. Die Mitarbeiterin, die dafür zuständig ist, sieht dementsprechend frustriert aus – und kann natürlich nicht gleichzeitig an der Kasse sitzen. Dort dauert es daher etwas länger, was die Kunden ärgert und die Kassiererin stresst. „Meinetwegen können Sie ganz entspannt sein“, beruhige ich sie, als ich dran bin. Sie schaut mich kurz an: „Heute dauert es solange, wie es dauert; aber dafür haben nicht alle Verständnis.“

`Solange, wie es dauert…´ Das klingt so, als wären die Angestellten hier normalerweise im `Eiltempo´ unterwegs – was weder ihnen selbst noch ihrer Arbeit gut tut. Das klingt auch, als müsste der Einkauf von Lebensmitteln möglichst schnell gehen. Warum? Für den Einkauf von Kleidung oder Mobiliar nehmen wir uns viel Zeit – zumindest lässt der Anblick flanierender Menschen in der Innenstadt dies vermuten. Dabei dauert es lange, bis wir nichts mehr zum Anziehen haben: Einen gefüllten Kühlschrank leer zu futtern geht blitzschnell.

Gleichgewicht

In unserem Garten wächst alles mögliche, gern auch durcheinander. Dort bin ich kein Fan von klaren Abgrenzungen – und scheue den Aufwand, diese dauerhaft zu erhalten. Zunächst sieht das gut aus: Es grünt alles irgendwie gemeinsam, für Unkraut bleibt wenig Platz. Allerdings funktioniert die gemütliche Koexistenz weder ewig noch ganz ohne mein Eingreifen. Früher oder später verändert sich die Schnittmenge weg von einer ausgewogenen Verteilung hin zu dem einen dominanten Typ Pflanze. Leider wird der Garten langweilig, wenn ausschließlich die alles andere überwuchernden Pflanzen darin gedeihen. Spätestens dann steche ich mit dem Spaten in der Hand die Grenzen neu ab – und sorge für ein gutes Gleichgewicht.

Im Zusammenleben ist es genauso: Klare Kante zu zeigen fällt uns schwer und fühlt sich nicht angenehm an. Aber ohne eindeutige Grenzen verändert sich das bunte Miteinander hin zu dem einen dominanten Typ Mensch. Leider wird unsere Gesellschaft langweilig, wenn ausschließlich die alles übertönenden Menschen darin gedeihen. Spätestens dann müssen wir den Mut haben, klare Kante zu zeigen – und für ein gutes Gleichgewicht zu sorgen.

Zwischen Respekt und Desinteresse

„Hausaufgaben in Mathe schreibe ich meistens ab“, erwähnt meine Tochter nebenbei. Ich schaue sie erstaunt an – und entscheide dann, mich nicht dazu zu äußern. Sie wird schon wissen, was sie tut: Schließlich bewältigt sie ihre Aufgaben gut ohne meine Hilfe, braucht also auch keine ungebetenen Ratschläge von mir. Bei diesem Kind ist meine Zurückhaltung ein Zeichen von Respekt – und ganz und gar angebracht.

„Kann ich Mathe abwählen?“, fragt die andere Tochter ungefähr seit einem Jahr. Die Antwort ist ein klares Nein – noch nicht. Ich unterbinde ihre Versuche, sich um Hausaufgaben zu drücken, und verordne ihr täglich eine halbe Stunde Mathe extra. Bei diesem Kind wäre meine Zurückhaltung ein Zeichen von Desinteresse – und ganz und gar unangebracht.

Der Unterschied zwischen Respekt und Desinteresse liegt manchmal nicht darin, was ich tue, sondern warum ich es tue.