Verfügbare Zeit

„Du hast doch Zeit“, höre ich oft und denke: `Du doch auch!´ Wir haben alle dieselbe Menge verfügbarer Zeit, wir füllen sie nur unterschiedlich:

Wer feste Arbeitszeiten und einen Chef hat, kann nur über einen Teil seiner Stunden frei verfügen.

Ich arbeite zu Hause und habe keinen Chef. Allein mein eigener Anspruch treibt mich durch meine Tage. Termine kann ich deshalb besser einrichten als andere. Aber auch ich verfüge nur über eine begrenzte Anzahl an Stunden. Sie vergehen unaufhaltsam – ob ich `arbeite´, lese, Sport treibe oder mich mit einer Freundin treffe.

Ich kann schieben, einrichten und mich verfügbar machen. Ganz frei verfügen kann ich über meine Zeit trotzdem nicht – auch wenn es von außen betrachtet so wirken kann.

Wunderbares Auge

„Ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge, die macht beide der Herr.“
Sprüche 20, 12

Bei einem morgendlichen Gang über die Felder kommt die Sonne direkt von vorn und blendet mich. Ich kann den Weg vor mir trotzdem gut erkennen: Meine Augenlider sorgen für ein wenig Schatten; die Pupillen lassen genau die richtige Menge Licht durch. 

Würde ich die Szene fotografieren wollen, hier und jetzt: Es fiele mir nicht so leicht. Ich müsste mich anstrengen, damit das Foto dem Original möglichst ähnlich würde – und herumstellen an Lichtempfindlichkeit, Belichtungszeit und Brennweite. Oder aber mir gelingt ein Zufallstreffer.

Mein Auge dagegen scheint sich nicht anstrengen zu müssen: Es stellt sich – von mir unbemerkt und unbeeinflusst – blitzschnell ein auf wechselndes Licht, verschiedene Entfernungen oder Bewegung.

„Kommt her und sehet an die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern.“
Psalm 66, 5

Demut – Theorie und Praxis

Wikipedia oder der Duden definiert Demut als eine tiefe Bescheidenheit, die Bereitschaft zu dienen und das Bewusstsein, an das vollkommen Göttliche nicht heranzureichen. Die Aussage stimmt, klingt aber ein bisschen abgehoben; ich muss den Satz zweimal lesen. 

In meinen Worten bedeutet Demut: Ich realisiere, akzeptiere und gebe zu, dass ich von ganz viel nur ganz wenig weiß. Bisweilen irre ich, werde Fehler machen und brauche Hilfe – wie jeder andere auch. Die Aussage stimmt auch und ist einfach zu verstehen.

Erster Schritt zur Demut: Ich übertrage diese Aussage in ein entsprechendes Verhalten. 

Nur für den Moment

Jemand, den wir schätzen, kann fast alles sagen – oder singen. Herbert Grönemeyers „Der Mond ist aufgegangen“ ist ein Beispiel dafür: Wenn er singt: „Verschon` uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen“, hören auch Menschen andächtig zu, die normalerweise mit Gott nichts am Hut haben und guten Schlaf für eine Selbstverständlichkeit halten. Aus seinem Mund klingt das Lied nicht nur schön und wahr, sondern sorgt bei den meisten für eine Gänsehaut.

Es ist aber auch ein wunderbarer Text: „Siehst du den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen – und ist doch rund und schön. So sind gar manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht seh`n.“ `Stimmt´, denken die Zuhörer: `Ab morgen gehen wir mit offenen Augen und einem weiten Geist durch die Welt.´ Aber morgen werden die meisten vergessen haben, was Herbert heute so eindrücklich singt. Sie werden wieder belächeln, was sie nicht sehen, greifen oder erklären können – und Gott ist eben auch eine solche „Sache“… 

Ich weiß auch was!

Ich höre einen Vortrag und werde den Inhalt komplett vergessen. Nur die Rednerin selbst hinterlässt einen bleibenden Eindruck bei mir: Sie erzählt von ihrem Mann, der viel weiß, alles gründlich durchdenkt und noch dazu überzeugend argumentiert: „Seien Sie mal mit so jemandem verheiratet – das ist anstrengend!“ Ich lächle wissend – und fühle mich verstanden. Gleich im Anschluss sagt sie fast trotzig diesen Satz: „Aber ich weiß auch was!“ Mein wissendes Lächeln wird zu einem staunenden Grinsen. Ihr Selbstverständnis begeistert mich.

Oft schon habe ich in Gesprächen verzweifelt nach Argumenten gesucht, die erklären, was ich meine, und entkräften, was der andere meint. Ohne Erfolg. Es mag sein, dass ich einfach nicht gut argumentieren kann; wahrscheinlicher ist, dass sich nicht alles begründen lässt. „Ich weiß auch was!“, denke ich dann, genau wie diese Frau; aber mir fehlt der Mut, es auszusprechen. Denn: Ich weiß nicht im Verstand, sondern woanders. Die guten und klugen Argumente meines Gesprächspartners zählen dort nicht – und können mich nicht überzeugen. Genauso wenig wie mein unbegründetes Wissen den anderen beeindruckt.

In solchen Momenten mache ich leicht einen Rückzieher und gebe mich geschlagen. Mir fehlen buchstäblich die Worte – aber wie soll man sich ohne diese verstehen? Bei der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner ist „Ich weiß auch was!“ nicht die beste Lösung, aber vielleicht manchmal die einzig mögliche. Noch besser wäre: „Du weißt auch was!“

Nur kurz …

„´Nur kurz`, schrieb sie und es folgte ein Roman“, bemerkt ein Bekannter zu einem meiner Briefe. Ich fühle mich ertappt: Zwar kann ich mich kurz fassen, aber nicht immer. „Nur kurz“ denke ich, wenn ich voller Energie stecke und wenig Zeit habe. Dann schreibe ich schnell eine Mail oder einen Brief – meist „länger als gedacht“. „Wirklich kurz“ kostet Zeit und Muße. Jedenfalls bei mir.

Was heißt schon pünktlich?

Eine meine Töchter kommt fast immer auf den letzten Drücker. Mich dagegen bezeichnet sie als überpünktlich. Darüber nachsinnend sagt sie: „Ich bin immer pünktlich.“ Kurze reflektierende Pause und dann: „Ich bin fast immer pünktlich.“ Kulmination: „Ich bin immer so pünktlich, wie ich sein will. Ich bin mein-pünktlich.“

Wir sind gemeinsam unterwegs und schlagen drei Minuten vor der Zeit am Ziel auf: „Jetzt sind wir dein-pünktlich. Mein-pünktlich ist in zehn Minuten.“

Alles eine Frage der Definition.

Glücklicherweise

Meine Freundin ist 80 und glücklicherweise körperlich und geistig topfit. Sie lebt allein und kommt super zurecht. Vor zwei Tagen ist sie die Treppe hinunter gestürzt und liegt im Krankenhaus. Ich bin erschrocken: In dem Alter verursachen Treppenstürze manchmal Knochenbrüche, die eine andere Lebensphase einleiten. Ihre Tochter schreibt in einer SMS: „`Glücklicherweise´ hat sie sich nur den Oberschenkel gebrochen und nicht den Oberschenkelhals.“

Für die Zukunft sind verschiedene Szenarien denkbar: Entweder meine Freundin wird irgendwann glücklicherweise wieder allein zurechtkommen oder eine andere Lösung finden.

„Glücklicherweise“ ist nicht dasselbe wie „optimal“, sondern hängt sehr stark von Umständen und Perspektive ab. Beide können sich schnell verändern – glücklicherweise in verschiedene Richtungen.

PS: Vor einigen Monaten war meine Freundin schon einmal die Treppe hinunter gestürzt. Damals hatte sie sich glücklicherweise nicht ernsthaft verletzt…

Mütter mit Vorsprung

Erziehung ist individuell und nur bedingt aus einem Ratgeber zu lernen. Als Mutter muss ich meinen Stil selbst finden, sozusagen „learning by doing“. Manchmal bin ich ratlos und sehne mich nach Orientierung – auch nach 19 Jahren. Erziehungsbücher sind gut, die Erfahrung anderer Mütter ist oft besser.

In meinem Bekanntenkreis sind einige Mütter, die mir eine Lebensphase voraus sind – Mütter mit Vorsprung: Sie haben früher Kinder bekommen und sind in der Regel etwas älter. Ihre Erfahrung empfinde ich als hilfreich; sie sind abgeklärt und verändern meine Perspektive. Wir begegnen uns auf Augenhöhe – egal, wie viele Lebensphasen diese Mütter mir voraus sind. Auch für sie gilt noch „learning by doing“; sie belehren mich nicht, wir unterhalten uns nur.

Nur einige der Mütter mit Vorsprung halte ich nicht gut aus. Bei ihnen schwebt über jedem Gespräch ein „kenn ich, weiß ich, war ich schon“. Ihnen gegenüber fühle ich mich klein und unerfahren und weiß doch, dass ich es nicht bin. Von ihrer Erfahrung profitiere ich nicht, denn: Ich unterhalte mich nicht gern mit ihnen. 

Mittlerweile bin ich selbst eine Mutter mit Vorsprung. Trotzdem habe ich nicht auf jede Frage eine Antwort – und bleibe „learning by doing“. Das ist auch gut so, denn: Nichts beendet ein Gespräch schneller als „kenn ich, weiß ich, war ich schon“.

Blind und taub

„Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen: `Sie gefallen mir nicht´; ehe die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken wiederkommen nach dem Regen, … und wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leiser wird …“
Prediger 12, 1-2+4

„Betrifft mich nicht“, dachte ich noch vor ein paar Jahren, denn: „Wer schlecht sieht und kaum etwas hört, muss sehr alt sein.“ Heute bin ich zwar noch nicht sehr alt, aber jung auch nicht mehr. Viele Jahre konnte ich alles tun, was ich wollte, ohne ein Nachlassen meiner Kräfte oder Fähigkeiten zu spüren. Einige weitere Jahre hat mein Körper mit Erfahrung und Ausdauer kompensiert, was schwieriger wurde. Die Zeiten sind vorbei. Von mir unbemerkt bin ich angekommen in einem Alter, in dem manches nicht mehr geht: Verspannungen halten sich hartnäckig; in der ersten halben Stunde des Tages begleitet mich eine gewisse Steifheit. Der größte Unterschied zu früher ist jedoch, dass ich ohne Brille nicht mehr lesen kann. Die Baustelle meines Mannes ist eine andere. Seine Sehkraft ist nach wie vor brillant, dafür hört er ein bisschen weniger als früher. 

Auf der Fahrt in den Urlaub platzt eine Tochter heraus mit: „Wen haben wir im Auto? – Blind und Taub!“ Es klingt gemein und ist sehr übertrieben – aber auch ein bisschen wahr. Sie sagt es mit liebevollem Spott in der Stimme und einer gewissen Arroganz. Ein ähnliches Schicksal wie das unsrige ist für sie ausgeschlossen – oder jedenfalls in sehr weiter Ferne. Und für das Selbstverständliche ist man normalerweise nicht besonders dankbar: Es scheint unendlich zur Verfügung zu stehen. Ich verurteile sie nicht; ich verstehe den Satz aus dem Prediger auch erst, seit mein eigener Zenit überschritten ist.

Glücklicherweise gefallen mir die Jahre noch. Mir geht es wunderbar, wenn auch ein wenig gebremster (und mit weniger Sehkraft) als früher. Spätestens heute fange ich damit an, Gott dankbar zu sein für meine guten Tage: Ich habe verstanden, dass sie vergänglich sind.