Es
gibt gute Gewohnheiten, über die wir nicht mehr nachdenken müssen:
ein Segen vor dem Verlassen des Hauses, ein Gebet am Essenstisch, ein
Gute-Nacht-Kuss. Manchmal hilft eine gewisse Regelmäßigkeit auch
über Zeiten hinweg, in denen wir uns lieber der
Null-Bock-Einstellung hingeben würden: Einmal die Woche das Bad
putzen, tägliches Zähneputzen, Sport machen.
Traditionen
können Halt sein und zu schönen Erinnerungen werden: Gummibären
auf dem Geburtstagstisch, anstelle des Geburtstagskuchens ein Eis,
jedes Jahr ein frei wählbares Essen am Heiligabend, ein
Neujahrsspaziergang (Länge variierbar).
Wann
wird die schöne Tradition, das hilfreiche Ritual zur sinnentleerten
Hülse? Gute Frage. Die Grenze ist schwer auszumachen. Es ist nicht
immer hilfreich, alles zu hinterfragen; aber wenn mir eine Tradition
nichts mehr bedeutet oder mich sogar nervt, anstrengt, mir zuwider
ist – lasse ich sie dann sein?
Ich
selbst bin mit schönen Traditionen aufgewachsen, aber auch mit
solchen, die zu Zwängen wurden. Daher ist es wichtig für mich,
Dinge nicht allein deshalb zu tun, weil sie immer so waren. Ich koche
keine deutschen Klassiker, wenn sie mir nicht schmecken; bei uns
gibt’s Heiligabend nicht Kartoffelsalat mit Würstchen oder
Bratwürstchen mit Sauerkraut; zu meinem Geburtstag kommen nicht
automatisch immer dieselben Leute – und manchmal feiere ich gar
nicht. Jegliches Starre ist mir ein Gräuel. Andererseits mag ich es
ebensowenig, wenn Altes nicht bewahrt wird, nur um „mit der Zeit zu
gehen“. Es ist nicht schlecht, alte Kirchenlieder zu singen –
deren Texte sind oft beeindruckend gehaltvoll. Auch mag ich es,
Bücher in Papierform zu lesen und die neuen Kommunikationswege
selbstbestimmt zu wählen – oder eben nicht. Ich trage eine Uhr am
Handgelenk, besitze und benutze sowohl Fotoapparat als auch Telefon
sowie einen Küchenkalender und wehre mich dagegen, dass mein
Smartphone alles das für mich sein könnte. Da bin ich total starr
und altmodisch.