Ich kenne meine Kinder gut. Denke ich. Ich kenne sie schließlich schon ihr Leben lang und bin noch viel mit ihnen zusammen. Größtenteils durch meine Zuwendung sind sie zu dem geworden, was sie heute sind. Einige ihrer Eigenarten und Angewohnheiten leben sie nur in Familie aus. Grund dafür sind das Vertrauen und die besondere Wahrhaftigkeit, die innerhalb von Familie existieren: Es gibt Teile ihrer Persönlichkeit, die teilen unsere Kinder explizit lieber (oder sogar nur) mit uns Eltern und Geschwistern als mit anderen. Kenne ich sie also gut?
Kürzlich kam ich ins Wohnzimmer und es lief Musik, ziemlich laut. Das ist an sich nicht ungewöhnlich und wunderte mich nicht. Dass aber einer meiner Söhne ohne Text- oder Melodie-Unsicherheiten mitsang – überraschte mich. Dass er sich noch dazu mit ausgeprägtem Rhythmus-Gefühl sehr geschmeidig bewegte – ließ mich staunen. SO hatte ich ihn noch nie wahrgenommen, DIESE Seite an ihm war mir bislang verborgen.
Ich ahnte zwar, dass meine Kindern sich bei Feiern und unter Gleichaltrigen anders benehmen als zu Hause. Klar. Jetzt weiß ich, dass sie Teile ihrer Persönlichkeit explizit lieber (oder sogar nur) mit anderen teilen als mit uns.
Das Zusammenleben mit Kindern ist wie ein Abschiednehmen auf Raten. Ich bin dankbar, wenn ich einen kleinen Teil davon wahrnehme, wer und wie sie außerhalb und unabhängig von der elterlichen Obhut sind. Der größere Teil bleibt mir zunehmend verborgen: Mein Kind, das unbekannte Wesen.