Spontane Warte-Zeiten

Einige Leute in meinem Umfeld kommunizieren gern über social media, aber mit eingebauten Pausen. Am Sonntag schreibt mir beispielsweise eine Freundin aus England: „Kann ich von Donnerstagabend bis Samstagmorgen bei euch übernachten?“ Ich muss nicht lange nachdenken und schicke ein „Ja klar!“ zurück. Danach höre ich bis Mittwochabend NICHTS mehr. Also frage ich, wann sie genau kommt (und ob sie vom Bahnhof abgeholt werden möchte), ob wir nur Basisstation sind oder sie am Freitag Zeit mit uns verbringen möchte … solche Dinge halt. Eine Stunde später antwortet sie, dass sie das erst noch klären muss – und ich gehe ins Bett.

Am Donnerstagvormittag weiß ich noch immer nicht, wann genau mein Besuch heute Abend kommt, geschweige denn, wie ich MEINEN Freitag gestalten kann. Ich halte mich für spontan, aber das Warten auf die Spontaneität anderer macht mir zu schaffen.

Flexibel verplant

Ich beobachte bei meinen Kindern den starken Wunsch, ihr eigenes Ding zu machen. Eltern haben dabei wenig zu melden. Das war bei mir in meiner Jugend genauso. Dafür habe ich bei Freunden übernachtet oder nächtliche Fahrten mit dem Rad auf mich genommen. Für weiter entfernte Orte musste ich im Vorfeld planen, wie und mit wem ich diese OHNE die Hilfe meiner Eltern erreichen konnte.

Der Wunsch, ihr eigenes Ding zu machen, ist bei Jugendlichen heute noch derselbe wie zu meiner Zeit. Eltern bleiben noch immer außen vor; nur geplant wird nicht mehr: Für meine Kinder und ihre Freunde ist es ganz normal, Verabredungen erst einige Stunden vorher zu treffen oder wieder abzusagen. Sie seien lieber `spontan´, heißt es dann, `und flexibel´. Allerdings hat diese Flexibilität einen Preis, den ich früher nicht bezahlen wollte oder konnte: `Schnell noch irgendwohin´ oder `mitten in der Nacht zurück´ funktioniert oft nur mit dem Auto. Dafür wird heutzutage sehr spontan auf äußerst flexible Eltern zurückgegriffen. Manchmal sind diese mit ihrer Verfügbarkeit das Einzige, was junge Menschen bei `ihrem eigenen Ding´ selbstverständlich einplanen.

Spontan und flexibel

Meine Tochter kommt nach der zehnten Stunde aus der Schule; mit ihr spült eine alte Bekannte zur Terrassentür herein. Es ist eine der vielen Susannes meiner Generation. Sie sei schon den ganzen Tag mit dem Rad unterwegs und wolle spontan bei mir Rast machen, bevor sie in ein Konzert ganz in meiner Nähe gehen möchte. Wenn´s passt.

Ich bin gerade mit dem Wischeimer bewaffnet im Haus unterwegs: Der Maler bearbeitet mit dem Kärcher unsere Fassade. Aus diesem Anlass wische ich von innen die Rollläden ab, die er von außen abspritzt. Außerdem läuft unter der Haustür munter Wasser in den Flur. Und wegen des am nächsten Tages umschlagenden Wetters würde ich gern noch fix den Rasen mähen … Es passt also nicht 100-prozentig. Aber was soll´s: Diese Susanne habe ich lange nicht gesehen.

Während ich den angefangenen Rollladen fertig putze, ist meine Tochter gastfreundlich und kocht einen Kaffee. Danach setze ich mich dazu und wir erzählen eine Weile. Gegen halb sechs sagt mein Überraschungsgast: „Eine gute Stunde würde ich gern noch bleiben – kann ich etwas helfen?“ Mir fällt nichts ein – ob sie auch eine Weile allein klarkommen würde? Sie nickt fröhlich und setzt sich ans Klavier. Ich bin dankbar, dass sie so unkompliziert ist, und gehe in den Garten. Nach dem Rasenmähen reden wir noch ein bisschen, dann macht Susanne sich auf den Weg zu ihrem Konzert.

Ich mag spontane Gäste, sie sind mir herzlich willkommen – besonders die, die ebenso flexibel auf mich eingehen wie ich auf sie.

Schön spontan

Es klingelt, ich erwarte niemanden. Eine Freundin steht vor der Tür: „Hast du ein bisschen Zeit? Ich dachte, bei dir kann ich spontan vorbeikommen.“ Sie kann; ich sehe es als Kompliment, dass ich jemand bin, bei der sie sich `traut´, einfach so zu klingeln. „Du kannst genauso spontan sagen, dass es dir nicht passt“, schiebt sie hinterher. Ich muss unweigerlich lächeln: Diese Freiheit gefällt mir, auch wenn ich sie heute nicht in Anspruch nehme. Eine halbe Stunde habe ich Zeit – wir trinken einen Kaffee und reden ein bisschen. Der Besuch tut mir gut: Unser Gespräch und ihr spontanes Klingeln zeigen mir, wer ich für sie bin.

Festlegen

Am Nachmittag bitte ich meine Tochter, einen Freund zu fragen, ob er sie abends mit dem Rad begleiten würde. Ihre Antwort: „Wieso jetzt schon? Ich möchte nicht diejenige sein, die jemand anderen zwingt, sich festzulegen. Die Jugend von heute mag das nicht so gern, sich festlegen.“ Aha, denke ich, das mag sie also nicht, die Jugend von heute. Was ich sage, ist: „Ich möchte aber schon am Nachmittag wissen, ob ich abends einen Fahrdienst übernehmen muss oder nicht. Das Mittelalter würde sich gern festlegen.“ Daraufhin verdreht die Jugend von heute leicht die Augen: Das Mittelalter von heute ist ihr nicht spontan und flexibel genug …

Ob das mit „Generationenkonflikt“ gemeint ist?

Spontan

Ein Samstag im August. Das Wetter ist wunderbar – spätsommerlich warm, sonnig und windstill. Spontan haben wir die Idee zu grillen und laden dazu ein. Wir telefonieren nicht den ganzen Tag, aber doch häufig. Freunde, Kollegen, Nachbarn – wir arbeiten uns voran von denjenigen, die uns sehr vertraut sind, zu denjenigen, die noch nie bei uns waren: Alle sagen ab. Am Ende schauen wir uns an und wissen, wir haben alles gegeben.

Wir waren zu spontan. Jedenfalls ist das unser Trost. Alle Absagen klangen nach Bedauern: „Schon was anderes vor!“ „Zu kaputt.“ „Noch so viel vorzubereiten für den Gottesdienst morgen.“ Manch potentieller Gast war nicht erreichbar. Wir nehmen es nicht persönlich; der Abend wird auch ohne Besuch sehr schön – entspannt und familiär. Wahrscheinlich lag es nicht an uns, es sollte einfach nicht sein.

Keine 24 Stunden später: Nach dem Gottesdienst nehmen wir spontan(!) alte Freunde mit zu uns, um das angefangene Gespräch in unserem Garten fortzusetzen. Sie gehen mit – und noch ein paar andere. Es wird ein besonderer Nachmittag, wir gehen nach fünf Stunden alle beschenkt auseinander. Wahrscheinlich lag es wieder nicht an uns, es sollte einfach so sein.