Arbeit versus Leben?

Menschen wünschen sich eine vier-Tage-Woche, eine geringere Wochenarbeitszeit oder sonst etwas in der Richtung. Das Ziel ist eine bessere work-life balance, was zu bedeuten scheint, möglichst wenig zu arbeiten und möglichst viel zu leben. Es klingt, als hätte unsere Arbeit nichts zu tun mit unserem Leben, fast so, als würden beide sich gegenseitig ausschließen – als ob ich umso weniger lebe, desto mehr ich arbeite.

Sehe ich meine Arbeit nur als leider notwendiges Übel, um meine Rechnungen zu bezahlen, dann ist die Lösung natürlich, mit minimaler Arbeit maximal Geld zu verdienen. In diesem Fall wären Langzeitarbeitslose die glücklichsten Menschen unter der Sonne – beglichene Rechnungen vorausgesetzt.
Empfinde ich dagegen meine Arbeit als etwas sehr Befriedigendes, dann bin ich (glücklich) rund um die Uhr damit beschäftigt, ohne Zeit zum Leben zu haben. Beide Szenarien sind natürlich Quatsch.

Klüger wäre es, Arbeit als zum Leben zugehörig zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Denn stimmt es einfach nicht, dass wir entweder arbeiten oder leben. Schließlich leben wir rund um die Uhr und arbeiten deutlich länger als von 8 bis 5. Generationen vor uns wussten sehr genau: Leben ist (manchmal harte) Arbeit – auch abseits des Broterwerbs. Daher werde ich, solange ich lebe, höchst selten arbeits-los sein – auch abseits des Broterwerbs. Oft fühle ich mich gerade dann am lebendigsten, wenn ich etwas tue, was einem anderem dient.

Ich bezweifle, dass meine work-life balance sich verbessert, sobald ich weniger arbeite und dafür in der Freizeit mehr erlebe. Ausbalancierter werde ich eher, wenn ich meine Perspektive ändere und dankbar bin, in meinem Leben eine (wie auch immer brauchbare) Arbeit erledigen zu können – egal, ob für Lohn oder nicht. Es ist müßig und nicht besonders schlau, Arbeit und Leben in ein Gleichgewicht bringen zu wollen. Generationen vor uns wussten auch das.

Ein (un)erfülltes Leben

Das neue (geleaste) Auto eines jungen Mannes ist ein echtes Schmuckstück. Natürlich hat es einen Motor sowie die üblichen vier Räder und fährt von A nach B. Zusätzlich enthält es jede Menge Schnickschnack: Sitz- und Lenkradheizung, Spurhalte-Automatik, Bedienung im `Cockpit´ per Touch, Innenraumbeleuchtung mit frei wählbaren Farben … Wir freuen uns mit dem begeisterten Auto-Mieter, machen uns selbst aber wenig aus derartigen Extras. In unseren Augen sind es Gimmicks – lustige oder sonst attraktive Zugaben von geringem materiellem Wert. Diese Extras sind `nice to have´, aber keineswegs notwendig. Nicht nur die Autobranche lebt davon, Antworten auf die ausgefallensten Sehnsüchte anzubieten, ohne dass potentielle Kunden vorher danach gefragt hätten. In vorauseilendem Gehorsam sozusagen und absolut eigennützig; schließlich kostet jedes Extra Geld. Die Standards für eine Grundausstattung verschieben sich: immer und immer weiter. 

Zum einen investieren wir dadurch mehr Geld, als uns lieb ist – und fühlen uns vielleicht ärmer, als wir sind. Zum anderen verlernen wir, mit unerfüllten Träumen zu leben. Das finde ich schade: Es ist eine gute Lebensschule, sich (materiell) begnügen zu müssen und zu erleben, dass man trotzdem sehr zufrieden sein kann. Wie sagte Bonhoeffer so schön? „Es gibt ein erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche!“ 

Mein Zimmer – mein Leben

Das Zimmer meiner Tochter ist selten aufgeräumt – und wenn doch, dann hält dieser Zustand immer nur wenige Tage. Normalerweise herrscht in ihrem Reich Unordnung: Saubere Wäsche stapelt sich auf dem Tisch. Bereits getragene Klamotten, die halb ausgepackte Sporttasche, große und kleine Zettel liegen auf dem Boden herum, benutztes Geschirr … Offene Schubladen ergänzen den Eindruck, als wäre hier kürzlich jemand überstürzt aufgebrochen (oder so). Es stimmt, meine Tochter bricht tatsächlich häufig überstürzt auf – allerdings nicht, weil sie permanent in Eile wäre. Zwar reicht die Fülle ihrer Tage locker für zwei Leben, aber es existieren auch Phasen des Stillstands: Weil meine Tochter meist bis kurz vor knapp die Ruhe weg hat, kann sie selten ebenso ruhig aus dem Haus gehen. Entsprechend chaotisch und unsortiert hinterlässt sie ihr Zimmer – kommt aber hervorragend damit zurecht: „Mein Zimmer ist wie mein Leben“, sagt sie. Nur ab und zu scheint es ihr selbst zu viel zu werden. Dann weicht sie aus ins gut sortierte Zimmer ihrer Schwester oder kommt zu uns nach unten …

Efeu häckseln

Im Herbst beschneiden wir die Büsche und Sträucher in unserem Garten und häckseln, was dabei anfällt. Es ist eine Menge; wir sind jedes Jahr einige Nachmittage damit beschäftigt. Bei gutem Wetter macht diese Arbeit sogar Spaß: Man bewegt sich und ist an der frischen Luft. Kinder und Jugendliche verstehen unter Spaß etwas anderes …

Manche Äste lassen sich problemlos häckseln – gerade Weidenruten, gern leicht verholzt. Andere stellen höhere Ansprüche an die Leistungsfähigkeit des Häckslers und die Geduld der Häckselnden: Stark verzweigte, sehr dicke Äste eignen sich zum Beispiel nicht besonders gut. Ausgesprochen mühsam ist es mit Efeu: Die Ranken sind einfach zu weich und die Blätter sehr saftig – beides verstopft schnell den Häcksler.

Während ich Zweiglein für Zweiglein in unseren zuverlässigen Häcksler stopfe, denke ich: Das Leben ist ebenfalls unterschiedlich `schön´ – manche Phasen sind leichtgängig, manche mühselig. Dazwischen eingestreut liegen Zeiten, in denen man Rückenwind hat, die perfekte Welle erwischt oder alles `wie ein Länderspiel läuft´, wie mein Vater sagen würde.

Obwohl sie so verschieden sind wie Efeu und Weidenruten, ähneln sich die Phasen unseres Lebens: Sie gehen vorbei, entweder quälend langsam oder wie im Flug. Und sie lassen uns alle irgendwie reifen – wahrscheinlich je mühseliger desto deutlicher. (Trotzdem bin ich froh, dass nicht nur Efeu in unserem Garten wächst.)

Vorbei

Nach dem Regen der vergangenen Tage wächst der Löwenzahn am Wegesrand ganz wunderbar: `Super Stelle, um Kaninchenfutter zu flücken´, schießt es mir aus alter Gewohnheit durch den Kopf – obwohl wir schon seit einigen Monaten keine Kaninchen mehr haben. Vorbei, … die Kaninchenphase ist vorbei.

Wir verschenken die Roller, die keiner mehr benutzt; und der Garten ähnelt weniger einem Spielplatz als noch vor drei Jahren: Weg sind das Trampolin, der Sandkasten, die Reckstange und im Sommer der Pool. Mit den beiden Fußballtoren können wir leben – und rücken sie zur Seite, wenn sie keiner braucht. So gefällt uns die Aussicht von der Terrasse besser. Vorbei, … die Kinder-Tobe-Phase ist vorbei.

Die wenigsten Kontakte halten über Jahrzehnte. Im Laufe unseres Lebens verlieren wir Menschen wieder aus den Augen – weil sie wegziehen, die Kinder nicht kompatibel sind oder es doch nicht so gut passt … Vorbei, … manche Beziehungsphasen gehen vorbei.

Alles hat seine Zeit; auch der jetzige Status quo hat sicherlich einige (materielle oder andere) Eigenheiten, die irgendwann der Vergangenheit angehören werden. Vorbei, … das Leben geht vorbei. Uns gehört nur der Moment … 

Leben in der Bude – zwei Seiten

Vier Kinder kommen (nach einer Woche) wieder nach Hause. Die Freude ist groß, wir hatten sie vermisst. Einerseits: Plötzlich ist wieder Leben in der Bude – das Kochen lohnt sich, das Waschen auch. Von Stille und Langeweile sind wir weit entfernt.

Andererseits: Das Leben in der Bude ist laut und wuselig – zum Teil reden alle durcheinander; überall liegt Zeug herum. Die Halbwertzeit des Putzens hat sich dramatisch verkürzt. Von Ordnung und Muße sind wir weit entfernt.

Das Leben

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen.“
Johannes 6, 33

Ich liebe Pfingstrosen. Bevor meine im Garten blühen, kauft mir mein Mann ein paar für die Vase. Einige davon sehen nach zwei Wochen noch ebenso aus wie am Anfang. Die geschlossenen Knospen verändern sich nicht und wirken tot. Ich kann ihnen nicht helfen, sich zu entfalten. Diesen Lebensprozess muss Gott in Gang setzen, sonst passiert nichts.

Einige Zeit später bringt mir eine Freundin zwei Pfingstrosen aus ihrem Garten mit – anfangs mit fest verschlossenen Knospen. Drei Tage später sehe (und rieche) ich, was in einer Pfingstrose steckt, die lebt.

Nicht nur ein Kalb

Ich gehe über die Felder und sehe meine Freundin winken: „Komm her, ich muss dir etwas zeigen!“, ruft sie mir zu – und strahlt über das ganze Gesicht. Sie klingt, als wäre etwas Besonderes passiert. Dabei erlebt sie jedes Jahr mindestens 50 Geburten; aber auch über die von heute freut sie sich sehr. Im Stall darf ich es bewundern, das neugeborene Kalb. Da liegt es im Stroh, ganz frisch und feucht – und winzig im Vergleich mit seiner 600 Kilogramm schweren Mama. Alles ist super gelaufen bei dieser Geburt; das ist oft so, aber nicht immer. Dieses Mal werden sehr sicher beide überleben, Kuh und Kalb. Das ist natürlich eine schöne Bestätigung für die Bäuerin – die Umstände in diesem Stall sind lebensförderlich. Noch dazu ist ein gesundes Kuh-Kalb ein finanzieller Gewinn. Aber für meine Freundin ist es eben nicht nur das: Sie erlebt ein fröhliches Staunen, die beiden da so liegen zu sehen. Und es ist völlig egal, ob sie das schon hunderte Male miterlebt hat: Für sie bleibt es etwas Besonderes.

Zwei Stunden später bekomme ich eine Nachricht: „Übrigens, Dagmar, da kam noch ein zweites hinterher, noch ein Kuh-Kalb.“ Aber es ist nicht nur ein Kalb, denke ich. Es ist auch schwarz-weiß gefleckte Bestätigung ihrer Arbeit, finanzieller Gewinn – und Anlass zu großer Freude über das Leben.

Das Leben

Das Leben ist kurz und geht schnell vorüber.

Früher waren wir „jung und unerfahren“; heute sind wir plötzlich „die Älteren mit Lebenserfahrung“. Die Jahre dazwischen verliefen unter dem Motto „Versuch macht klug“. Es wird genauso weitergehen. Das Leben bleibt ein Übungsfeld: schwer plan- und nicht vorhersehbar – es hilft, flexibel zu bleiben.

Jüngere dagegen nehmen uns anders wahr – und halten uns vielleicht sogar für klug. Dabei sind wir nur ein bisschen abgeklärter: Heute können wir besser einschätzen als früher, was geht und was nicht. Wir wissen, was wir können und wollen – und wovon wir lieber die Finger lassen. In uns wichtigen Fragen nehmen wir kein Blatt mehr vor den Mund; über Oberflächliches reden wir ungern. Wir halten das Schweigen aus, denn fürs Drumherumreden ist uns unsere Zeit zu schade.

Das Leben ist kurz und geht schnell vorüber.

Vorbereitung (3)

Die Schwester eines Freundes ist an Krebs verstorben. Von der Diagnose bis zum Tod dauerte es nur ein halbes Jahr – das Ende war von Anfang an absehbar. „Da bekommst du eine solche Diagnose, und alles, was dir für die „letzte“ Zeit bleibt, ist, dich auf den Tod vorzubereiten“, sagt mein Mann. Manche nutzen die Zeit anders: Sie verdrängen das Ende bis zum Schluss. Denn es ist schwer, Abschied zu nehmen von Menschen, Orten, Dingen und dem Leben selbst.

Auch ohne Diagnose hat meine „letzte“ Zeit schon angefangen – ich weiß nur nicht, wie lange sie dauert. Ich kann mich nicht jahrzehntelang täglich auf mein Sterben vorbereiten. Aber ich kann täglich versuchen, das Wichtige nicht auf morgen zu verschieben:
um Entschuldigung zu bitten und zu verzeihen,
ehrlich zu bleiben,
mir einen offenen Geist zu bewahren,
Menschen ernst zu nehmen,
Pausen zu machen,
die Stille zu suchen und auszuhalten,
das Gelingen zu sehen und aus dem Scheitern zu lernen,
der Freude Raum zu geben – und der Traurigkeit.