Keine Chance? Früher anfangen!

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“
Sacharja 4, 6

Sein Sohn fordere Taschengeld ein, halte sich nicht an Absprachen und tue Dinge einfach nicht, erzählt mir ein flüchtiger Bekannter, den ich beim Spazierengehen treffe. Schuld sind aus seiner Sicht die Umstände: Schon die Kleinsten wüssten heutzutage, welche Rechte sie hätten, sagt er: „Was kannst du als Eltern noch erziehen? Die Kinder lassen sich doch von uns schon im Kindergartenalter nichts mehr sagen!“ Er klingt resigniert. So habe ich das nicht erlebt, aber unsere Kinder waren auch immer nur ein paar Stunden fremdbetreut. Die letzte Autorität damals waren wir: Wir haben geprägt, erzählt, diskutiert, Werte vermittelt, Grenzen gesetzt, Konsequenzen folgen lassen … was man so macht eben.

All das war wichtig, denn ein paar Jahre später ist es anders. Bei Teenagern können wir als Eltern tatsächlich weniger ausrichten; sie wollen und müssen sich abgrenzen (dürfen). In der Pubertät prallen unsere Argumente ab, treffen unsere gut(gemeint)en Ratschläge auf taube Ohren, wirken unsere Prinzipien nicht überzeugend, sind unsere Interessen nicht ansteckend, pellen die geliebten `Kleinen´ sich ein Ei auf unsere Bedenken … In dieser Lebensphase müssen sie ihren eigenen Stil finden, ihre eigenen Erfahrungen machen, ihre eigenen Grenzen kennenlernen (und überschreiten), auf ihre eigene Nase fallen – und ihre eigenen Erfolge feiern. Wir können sie liebhaben, nachfragen (in Maßen), ermutigen und für sie beten. Wie sie dann ihr Leben gestalten, liegt nicht in unserer Hand: Gott sei Dank!

Pflegeleicht: nicht so einfach

Ich begegne einer Bekannten; ihre kleine Tochter trägt sie im Tragerucksack vor der Brust. „Und wie läuft es so mit Baby“, frage ich, denn wir haben uns länger nicht gesehen. „Pflegeleicht“, sagt sie lächelnd – und klingt glaubhaft: Die Kleine schläft. Pflegeleicht waren unsere Kinder auch, denke ich, aber normalerweise nutze ich diesen Begriff eher für unseren Garten. Und der ist inzwischen nur deshalb pflegeleicht, weil wir viele Jahre genau darauf hingearbeitet und uns intensiv um ihn gekümmert haben. Wir haben uns Gedanken gemacht und außerdem gepflanzt und rausgerissen, beschnitten und umgesetzt und was weiß ich. Es dauerte, bis der Garten so wurde, wie er jetzt ist: ein Ort, an dem man gern ist und der wenig Korrektur bedarf. Ganz ohne Pflege wäre unser Grundstück heute verwahrlost und zugewuchert – und nicht pflegeleicht, wie ich es verstehe.

Ich schätze, dass für Kinder ähnliches gilt: Auch sie brauchen Eltern, die sich Gedanken machen, prägen und gute Grenzen vermitteln. Nur dann werden sie sich zu Menschen entwickeln, in deren Nähe man gern ist und die immer weniger Korrektur benötigen. Ein pflegeleichtes Kind ist eben nicht ohne Pflege zu haben, sondern im Gegenteil das Ergebnis intensiven Kümmerns – ohne Erfolgsgarantie.

Allein

Auf meinem Spaziergang komme ich am Haus einer Bekannten vorbei; wir kennen uns vom Sehen. Heute wischt sie sich ein paar Tränen ab. Was los sei, frage ich. „Ach, nur Freudentränen, alles gut“, sagt sie, „meine Tochter hat mir gerade geschrieben: Sie hat für ihre Masterarbeit eine 1,0 bekommen!“ Ich gratuliere und bleibe kurz stehen. Im weiteren Gespräch erfahre ich, dass sie mittlerweile allein wohnt. Ihr Sohn ist ebenso erwachsen wie die Tochter; der Mann hat sich vor einigen Jahren von ihr getrennt. Das tut mir leid, aber sie winkt ab: „Es geht mir gut; ich habe meine Ruhe. Nur in solchen Momenten, da fehlt einem doch etwas.“ Ich nehme sie spontan in den Arm; sie bedankt sich.

`Geteiltes Leid ist halbes Leid´, heißt es. Für die schönen Momente unseres Lebens gilt dasselbe: Allein weiß man manchmal nicht, wohin mit seiner Freude. Besser ist es, wenn jemand da ist, der sich mit-freut.

Als ich weitergehe, denke ich an die Tochter. Heute will sie mit ihren Freunden feiern und morgen die Mutter besuchen. Kinder allein lebender Eltern fühlen sich unweigerlich verantwortlich, den fehlenden Partner zu ersetzen. Es ist toll, wenn sie das gern tun; aber es kann auch eine Bürde sein.

Kinder

Ich erlebe eine Mutter mit ihrem 17-jährigen Sohn. Er verabschiedet sich mit einem „Bis morgen, kurz nach eins an der Schule“ von ihr. Offensichtlich geht er davon aus, dass sie ihn dort abholen wird. Sie lächelt: „Wir arbeiten noch daran, wie er ohne Rad von der Schule nach Hause kommt.“ Es klingt entspannt und liebevoll. Zum Abschied drückt sie ihm einen Kuss auf die Wange.

Mir ist, als würde ich in einen Spiegel schauen: Auch mich amüsiert es immer wieder, von welchen Gefälligkeiten die Kinder ausgehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Fragen kostet schließlich nichts; es könnte ja klappen – und wenn nicht, finden sie eine andere Lösung. Dabei meinen sie es gar nicht böse; sie suchen nur instinktiv den Weg des geringsten Widerstandes. Erwachsen und selbstständig werden sie trotzdem, es dauert nur seine Zeit. Auch ein noch so erzieherisches `sieh zu, wie du das allein hinbekommst´ beschleunigt diesen Prozess wahrscheinlich kaum. Deshalb fühle ich mich angesichts ihrer Wünsche und Nachfragen nicht ausgenutzt, wenn ich auch innerlich manchmal mit dem Kopf schüttele.

Die Beziehung zu den Kindern war und ist mir immer wichtiger als ein vermeintliches Erziehungsziel; was uns wichtig ist, sehen sie in unserem Leben. Zwar setzen wir klare und bisweilen vergleichsweise enge Grenzen – und die Kinder reiben sich daran wie die Bache am Baum. Dafür dürfen sie selbstverständlich davon ausgehen, dass der heimische Laden ohne ihre Mithilfe läuft. Sie brauchen noch ein paar Jahre, bis sie freiwillig und unaufgefordert die Wäsche abnehmen. Kinder halt.

Jetzt, wo sie älter sind und das Gros an Erziehung schon gelaufen ist, ernten wir: ein respekt- und liebevolles Miteinander trotz unterschiedlicher Ansichten. Sie lieben uns – ob wir ihre Wünsche erfüllen oder nicht; wir lieben sie auch: sowieso.

Keine große Sache

Auf Äpfeln aus dem Supermarkt klebt oft ein kleines Schild – meiner Meinung nach unnötig, aber nicht zu ändern. In jedem Fall muss das Schild abgezogen werden, bevor man den Apfel waschen und essen kann. Es gehört in den Müll; das ist keine große Sache. Dennoch finde ich diese Schildchen fast täglich irgendwo anders: auf der Arbeitsplatte direkt neben der Spüle, auf einem benutzten Frühstücksbrettchen, an der Klinke der Kellertür. Es ist einerseits faszinierend, wie konsequent die Kinder sich der Müllentsorgung in diesem Fall verweigern. Sie wählen den Weg des geringsten Aufwands. Andererseits ist es frustrierend, wie konsequent die Kinder die Müllentsorgung in diesem Fall jemand anderem überlassen – meistens mir. 

Ich sollte die Schildchen konsequent ignorieren, bekomme das aber nicht hin. Es macht mir weniger aus, den Kindern ihren Müll hinterher zu räumen, als den Müll der Kinder in meinem Wohnraum zu ertragen. Konsequent wäre es, die Schildchen direkt in die Zimmer der Kinder zu bringen – so wie ihre anderen Besitztümer, die sie anstrengungslos fast täglich irgendwo liegen lassen. Allerdings scheinen meine (Auf-)Räumaktionen meine Kinder NICHT zu beeindrucken; und der Weg zum Mülleimer ist für mich kürzer. Also entsorge ich die Schildchen selbst, es ist keine große Sache: Ich wähle den Weg des geringsten Aufwands.

Von Kindern und Müttern

Wir fahren selten mit dem Auto durch die Waschanlage, sehr selten. Daher war ich gestern ehrlich überrascht, wie laut es da drin ist – und erinnerte mich an eine ähnlich einprägsame Erfahrung vor einigen Jahren. Damals war mein jüngster, etwa dreijähriger Sohn dabei. Er saß ruhig und erwartungsvoll in seinem Kindersitz, allerdings nur wenige Sekunden. Mit diesem Lärm hatte er nicht gerechnet und fing an zu weinen. Ich nahm ihn auf den Schoß – sofort wurde er wieder still: Kleine Kinder haben kleine Sorgen, gegen die mütterlicher Trost und körperliche Nähe wie eine Wunderwaffe wirken.  Das ist super – auch für die Mutter.

Heute kam meine fast 16-jährige Tochter aufgewühlt nach Hause. Sie hat seit Monaten Stress mit einer Person: Manchmal ist diese freundlich, oft aber unberechenbar unfreundlich, genervt und vorwurfsvoll. Meine Tochter belastet diese gestörte Beziehung mal mehr, mal weniger – heute brach sie deswegen in Tränen aus. Ich nahm sie in den Arm, aber ihr Frust und ihre Trauer blieben: Große Kinder haben große Sorgen, gegen die mütterlicher Trost und körperliche Nähe leider nur wenig ausrichten können. Das ist höchst bedauerlich – auch für die Mutter.

Kinder und Wetter

In anderen Landkreisen fällt heute wegen des Wetters die Schule aus – es drohen orkanartige Winde. Auch bei uns ist es stürmisch; von Entfall ist keine Rede. Die Kinder schauen morgens skeptisch aus dem Fenster. „Wir werden nicht ankommen, Papa, kannst du uns mit dem Auto bringen?“, fragen sie. „Ihr müsst den Lenker gut festhalten“, rät er ihnen. Sie kennen solche Ratschläge schon; das Auto ist keine Alternative, zu der wir schnell greifen. Im Winter heißt es: „Der Schnee ist gar nicht so tief“, und angesichts heftiger Regenfälle hat sich ein Satz mittlerweile zum `running gag´ entwickelt: „Das hört gleich auf!“ Also kämpfen die Kinder sich durch den Wind, schieben manchmal ein Stück des Weges durch den Schnee oder werden eben nass. Meist tragen sie unsere Entscheidung mit Fassung und schimpfen vor sich hin: „Wenn ich mal Kinder habe, werde ich das ganz anders machen!“ Warten wir´s ab.

Kindermund

„Wir können Dinge unter der Bettdecke verschwinden lassen, an den Schritten erkenne, wer kommt, und ziemlich glaubhaft so tun, als ob.“ Mit diesem Satz beschreiben meine Kinder den kleinsten gemeinsamen Nenner – von Kindern `strenger Eltern´.

Störfaktor

Unsere großen Söhne sind IMMER hungrig: Sie würden sich gern öfter zwischendrin ein paar Nudeln kochen, ein Lachssteak braten oder (mindestens) vier Eier in die Pfanne schlagen. Wir unterbinden derartige Zwischendurch-Kochversuche meistens, empfehlen einen Apfel, ein Brot oder Müsli und verweisen auf die nächste Mahlzeit.

„Es ist so doof, dass ihr immer zu Hause seid“, findet der Älteste. Er ist fast ein bisschen neidisch auf seinen Freund, dessen Eltern den ganzen Tag arbeiten: „Der kann sich immerzu etwas zu essen machen – wann und was er will.“

Ich lächle über die Entwicklung: Anfangs sind präsente Eltern unabdingbar, in den weiteren Jahren wirklich praktisch (als Ansprechpartner und für Wäsche etc.), bei auf dem Papier erwachsenen Kindern phasenweise fast überflüssig, und gleich danach – im Weg. Es ist der Moment erreicht, in dem die Kinder ausziehen sollten …

Kinder im Haus

Manchmal nervt mich die Lautstärke hier im Haus, das andauernde Reden, die ständige Auseinandersetzung mit den Kindern. Immerzu Menschen um mich herum. Andere Eltern empfehlen mir, ich solle die Zeit genießen, sie gehe unwiederbringlich vorbei. Irgendwann werde ich mich zurücksehnen nach dem Leben mit Kindern im Haus, sagen sie.

Ich weiß nicht. Ich weigere mich, den Auszug der Kinder als das Ende der besten Phase meines Lebens zu betrachten. Vielleicht wird es ohne Kinder auch toll? Anders, aber auch gut: Es wird etwas fehlen, was lange „normal“ war. Etwas anderes wird möglich sein, was heute noch nicht geht. Ist doch auch schön. Jede Phase hat ihre guten und weniger guten Seiten. Ich kann mir gar nicht alles schön reden jetzt; manches ist einfach anstrengend. Darf ich das nicht sagen? Bin ich gleich undankbar, wenn ich benenne, was mir Kräfte entzieht?

Sicher ist es doch möglich, ohne im Haus lebende Kinder ein zufriedenstellendes und erfüllendes Leben zu führen. Eins, in dem der Trubel begrenzt ist, in dem zu viel Zeit zum Lesen da ist und dafür zu wenig verbaler Austausch etc. Es wird etwas fehlen, das werde ich benennen. Aber etwas anderes wird an seine Stelle treten. Hoffe ich. Solange ich mit Haben und Nicht-Haben zufrieden sein kann, ist es doch gut.