Der Herbst, der Herbst … 

„Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß“, so fängt der Herbsttag an bei Rilke. Traurig geht das Gedicht zu Ende: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben …“ 

Der Herbst ist da. Noch sind die Blätter nicht braun, gelb oder orange, sondern hängen dunkelgrün an den Bäumen. Aber es regnet öfter, der Himmel hängt voller Wolken – und vor allem ist es kalt. Muss ja, ich weiß. Trotzdem sind diese ersten Herbsttage nach dem Sommer jedes Mal gewöhnungsbedürftig für ein Sommerkind wie mich.

Zweimal Herbst

Von weitem sieht ein Herbstwald wie ein wunderbares Ganzes aus. Im Sonnenlicht leuchtet alles in einer Mischung aus letztem Grün, Gold und Rot. Kommt man näher heran, sieht man die weniger wunderbaren Details: Die meisten Blätter haben dunkelbraune Flecken und sind eingerissen. Jedes Blatt ist weniger golden strahlend als einfach nur gelb oder welk.

Zum einen: Beides gehört zum Herbst – aus der Ferne überzeugt die Optik, nahe dran riecht´s leicht moderig und raschelt beim Durchlaufen.

Zum anderen: Viele kleine mangelhafte Details sorgen gemeinsam für ein wunderbares Gesamtbild.

Neue Sicht

Der Sommer ist vorbei; es ist kalt, nass und wolkig-dunkel. Bis gestern dachte ich deshalb mit Grauen an die kommenden sechs Monate, bis es zumindest ansatzweise wieder T-Shirt-warm sein wird.

Seit heute sehe ich: Die Blätter sind zu einem beträchtlichen Teil schon gelb oder orange, einige fallen runter. Der Wind weht ungestüm, es regnet den ganzen Tag mehr oder weniger stark, die Sonne (ohnehin nicht sichtbar, weil hinter Wolken verborgen) wird sich um 18 Uhr weitgehend verabschiedet haben. Plötzlich bin ich mitten drin – im Herbst.

Mit dieser neuen Sicht kommt tatsächlich Freude auf: Drinnen ist´s gemütlich, der Garten kommt zur Ruhe; ich habe noch mehr Zeit für Bücher und Briefe. Und wenn ich doch nach draußen gehe, ist das Nach-Hause-Kommen umso schöner!