Falscher Moment

Mein Mann ist nicht so gesprächig wie ich – oder wie ich es mir manchmal wünschen würde. Aber unter anderem beim Laufen erzählt er gern, besonders wenn ich mehr mit der Strecke kämpfe als er: Dann erklärt er, wie das Immunsystem durchs Laufen gestärkt wird, oder erläutert theologische Fragen, die ihn beschäftigen… In diesen Momenten bin ich von seinen Ergüssen eher unbeeindruckt, wenn nicht sogar genervt. Mein Mann möchte mich ablenken und die Stimmung heben. Was er sagt, lenkt mich ab – aber gerade jetzt passt es mir nicht: Ich brauche all meine Konzentration, um aufrecht bis zu Hause durchzuhalten. Daher senkt sich meine Stimmung eher, als dass sie sich hebt.

Kommunikation ist immer gut – außer im falschen Moment.

Richtig, falsch oder anders?

Aus Fehlern lernen wir, heißt es. Aber selbst wenn wir keine Angst hätten, Fehler zu machen – sie sind nicht unser Ziel. Stattdessen bemühen wir uns (vielleicht unbewusst), das vermeintlich Richtige zu tun Dinge. Dabei gibt es oft nicht nur eine „richtige“ Lösung, denn es heißt auch: Viele Wege führen nach Rom. Keiner von ihnen ist nur falsch, keiner nur richtig.

Trotzdem habe ich oft den Eindruck, etwas falsch zu machen – jedesmal, wenn ich mich für eine andere als die scheinbar optimale Alternative entscheide. „In diesen Kategorien denke ich nicht“, sagt jemand, der mir nahesteht. Um „falsch“ oder „richtig“ gehe es abgesehen von ethischen Fragen in den seltensten Fällen. Ich würde das gern glauben – und mutiger anders leben.

„Richtig“

Ich treffe eine Frau aus der Nachbarschaft mit ihrem kleinem Hund. Der Hund ist jung, ungestüm und noch nicht gut erzogen; kurzerhand nimmt sie ihn auf den Arm und setzt ihn in ihren Fahrradkorb. Früher habe sie immer große Hunde gehabt, erzählt sie mir. Ein „richtiger Hund“ habe für sie bei 50 Zentimeter Schulterhöhe angefangen. Heute ist sie froh, dass es auch kleinere Exemplare gibt; ein großer Hund wäre nicht mehr „richtig“ für sie. Die Sicht auf Dinge ändert sich – im Verlauf weniger Jahre: Was heute „richtig“ ist, wird nicht über Nacht „falsch“, kann aber übermorgen unpraktisch sein oder einfach nicht mehr in mein Leben passen.

Schwarzfahren?

Ich bin mit der Bahn unterwegs. Weil ich Geld sparen möchte, wähle ich Zugbindung. Verspätung lässt mich meinen ersten Anschlusszug verpassen. Ich muss improvisieren und von der ICE-Verbindung auf eine Regionalbahn umsteigen. Auch der nächste Anschlusszug ist dadurch unerreichbar. Für die letzten Kilometer meiner Reise entscheide ich mich für eine Vorortbahn, die mich meinem Ursprungsziel sehr nahebringt, aber gar nicht dort hält – es ist für meine Freundin egal, an welchem Dorfbahnhof sie mich abholt.

Während ich im letzten Zug sitze, frage ich mich, ob mein Ticket hier überhaupt gilt. Meine Befürchtungen, gegen die Regeln zu verstoßen, lassen sich nur schwer unterdrücken. Zu allem Überfluss befindet sich direkt gegenüber meines Sitzes ein Schild, auf dem steht: „Hier drücken wir kein Auge zu. Fahren ohne gültige Fahrkarte kostet Sie mindestens 60 Euro.“ Mit dem Spruch vor Augen warte ich unentspannt die 15 Minuten ab, die die Fahrt dauert – und hoffe, dass kein Schaffner kommt. Erleichterung durchströmt mich, als die Durchsage für meinen Halt ertönt. Ich gehe zur Tür. Dort steht: „Wir hoffen, Sie hatten eine nette Fahrt mit uns.“ Etwas gequält muss ich lächeln.

Woher in mir rührt dieses tiefsitzende Bedürfnis, mich korrekt zu verhalten? Bin ich in solchen Fragen sehr deutsch – oder sehr ostdeutsch? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mit einem latenten Schuldgefühl im Zug saß: „Es muss mir die 60 Euro wert sein, zur Not bezahle ich sie.“ Ich hätte nicht diskutiert, ich hätte alles zugegeben – obwohl ich ebenso tiefsitzend wusste, dass mein Handeln kein klassisches Schwarzfahren war. Trotzdem: Tief in mir drin spüre ich in solchen Fällen eine starke Grenze zwischen „richtig“ und „falsch“. Seltener kommt – für mich selbst – ein großzügiges „auch in Ordnung“ zum Einsatz. Das verbrauche ich stattdessen freigebig für andere.

(Fast) alles falsch

Eine unserer Töchter kam kürzlich mit zwei Arbeiten von der Schule nach Hause. Chemie und Physik – wir wussten vorher, dass das nicht ihre starken Fächer sind. Das Ergebnis: in beiden Fällen (fast) alles falsch.

Weil sie ziemlich geplättet war, den Tränen nah, wollte ich trösten, aufbauen, ermutigen.

„Ist nicht so schlimm, nimm´s dir nicht so zu Herzen“, sagte ich. Falsch, denn: „Ich will aber keine 4 auf dem Zeugnis haben, Mama, Chemie ist epochal.“

„Du kannst doch nächstes Mal vorher fragen, damit du das Thema verstehst“, sagte ich. Falsch, denn: „Ich dachte doch, ich hatte es verstanden. Ich dachte, ich kann das!“

„Du kannst ja das Wochenende nutzen, dir von deinem Bruder Chemie und Physik erklären zu lassen“, sagte ich, „oder auch zu mir kommen. Ich gebe mein Bestes.“ Falsch, denn: „Ich kann aber nicht den ganzen Samstag Chemie und Physik lernen. Das verdirbt mir ja das ganze Wochenende.“

Alles, was ich gesagt habe, war falsch. Was wäre richtig gewesen? Ich habe keinen Schimmer. Nächstes Mal halte ich die Klappe – eine Option, die für meine Tochter in ihren Chemie- und Physikarbeiten nicht ohne unangenehme Folgen bleibt.