Erwartungen und Wünsche

Erwartungen darf man spüren, zur Kenntnis nehmen und dann erfüllen oder auch nicht. Das klingt ganz einfach, ist es aber nicht – je nachdem, um wessen Erwartungen es geht und in welcher Beziehung wir zu der Person stehen. Dasselbe gilt, wenn jemand sich etwas von uns wünscht. Auch Wünschen kann man sich verweigern, aber das ist meist noch schwerer …

Erwartungen

Den Erwartungen anderer kann man entsprechen oder nicht. Ich persönlich übe mich noch immer darin, mich von den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Erwartungen anderer frei zu machen. Meine Kinder ermutige ich dazu, das ebenso zu tun. Ob sie meinem Rat folgen oder nicht, bleibt ihre Entscheidung. Sollten sie auf mich hören, würden sie folglich in Zukunft immer seltener das tun, was ich von ihnen erwarte. Ich hoffe, ich kann praktisch damit ebenso gut leben, wie ich es mir theoretisch vorstelle. Es hilft sicherlich, wenn ich mich dafür jetzt schon von meinen Erwartungen an andere befreie.

Frei, anders zu sein

Ich habe Kinder, die noch zu Hause wohnen. Ich weiß, dass sie größer werden und selbständiger und ich sie irgendwann ziehen lassen muss. Natürlich wünsche ich mir, dass sie zu lebenstüchtigen Menschen werden. Was auch immer im Leben vor ihnen liegt – wenn sie mich lassen, werde ich Anteil daran nehmen. Was auch immer sie machen werden – ich werde sie lieben, weil ich ihre Mutter bin.

Gern möchte ich meine Töchter und Söhne entlassen in ein selbstbestimmtes Leben. Irgendwann werden sie selbst am besten wissen, wie sie leben möchten, welche Prioritäten und Ansichten sie haben, für welche Überzeugungen sie kämpfen wollen. Sie sollen ihr Leben frei gestalten dürfen. Ich will ihnen nichts vorschreiben.

Ich wollte mir irgendwann auch nichts mehr vorschreiben lassen von meinen Eltern, wollte meine eigenen Entscheidungen treffen, meine eigenen Freunde haben und auf meine Weise Beziehungen pflegen. In manchem habe ich mich bewusst oder unbewusst nach dem gerichtet, was ich von zu Hause kannte; in manchem habe ich mich bewusst oder unbewusst von dem Vorgelebten distanziert.

Weil es mir schwerfällt, mich von Erwartungen anderer zu emanzipieren, ist es mir besonders wichtig, meinen Kinder gegenüber keine konkreten Erwartungen zu formulieren. Was nicht heißt, dass ich nicht doch ziemlich klare Vorstellungen habe, was gut für sie wäre und richtig und schön. Ich formuliere (vor allem auch nonverbal) Maßstäbe: „Jesus liebt dich, Sport ist toll, Bücher sind horizonterweiternd, Musik kann Emotionen freisetzen, Beziehungen zu Menschen sind überhaupt das allerwichtigste und werden am besten so und so gepflegt. Und so weiter und so fort.“ Insgeheim knüpfe ich daran die Erwartung, dass sie diese Dinge ähnlich sehen und handhaben. Die entscheidende Frage ist wohl die: Was passiert mit unserer Beziehung, wenn meine (unausgesprochenen, aber doch konkreten) Erwartungen nicht erfüllt werden? Sind meine Kinder wirklich frei? Dürfen sie anders sein?

Erwartungen sind toll – und anstrengend.

Vor einer Woche habe ich einen Brief geschrieben, ehrlich und herausfordernd. Seither warte ich auf eine Antwort, ich erwarte eine Antwort. Ich denke,  ich bin ganz offen für jede Reaktion meines Gegenübers. Aber ich rechne damit, dass überhaupt etwas zurückkommt. Bisher bin ich enttäuscht.

Bei jedem Gespräch, das ich anfange: Irgendetwas erwarte ich immer. Dass man mir zuhört, dass sich Fragen klären oder eine Diskussion angestoßen wird. Dass Beziehung entsteht. Manchmal werde ich enttäuscht, manchmal befriedigt. Je festgelegter meine Erwartung ist, umso leichter kann ich enttäuscht werden – negativ ausgedrückt. Je klarer meine Erwartung ist, umso mutiger bin ich – positiv ausgedrückt.

Auf der anderen Seite: Wenn mich jemand etwas fragt oder bittet, fühle ich mich unter Druck gesetzt – negativ ausgesetzt. Oder aber ich bin dankbar für die Klarheit in der Formulierung – positiv ausgedrückt.

Wie frei ich bin, wie stark ich bin, wie genau ich mich kenne und weiß, was ich will: All das bestimmt meine Antwort auf eine Anfrage. Entspreche ich dieser oder lehne ich sie ab? Winde ich mich wortgewaltig nichtssagend oder ignoriere ich?

Ich muss zugeben, dass ich es schöner finde, wenn meinen Erwartungen entsprochen wird. Auf Ablehnung bin ich schlecht vorbereitet. Anders herum kann ich schlecht „Nein“ sagen, auch wenn das meine ehrliche Antwort ist. An Gelegenheiten zum Üben mangelt es nicht: Fast täglich werde ich konfrontiert mit dem, was der Brite so schön „conflict of interests“ nennt. Es scheint ein normaler Zustand zu sein, sobald Menschen irgendwie miteinander in Kontakt treten. Trotzdem macht mich das Warten dieses Mal ganz kribbelig. Je länger ich ohne Antwort bleibe, umso größer wird die Sache, um die es in meinem Brief ging. Damit hatte ich am allerwenigsten gerechnet!