Vom Auftakeln, begrenzt

Ich sehe nicht mehr aus wie 25 oder 35, denn ich bin schon 54. Mit meinem Erscheinungsbild (draußen vor der Tür) gebe ich mir nicht wesentlich mehr Mühe als früher – aber ein bisschen doch: `Wer abtakelt, muss auftakeln´, denke ich jedes Mal, wenn ich:

Gelegenheiten nutze, mich schick zu machen,
auf ausreichend Schlaf achte,
aus der Form geratene Augenbrauen vorsichtig zupfend zurechtstutze,
meine Garderobe altersgerechter auswähle
usw. usf.

Meine Bemühungen sind offenbar nur teilweise erfolgreich: Im Gottesdienst setze ich mich neben eine Freundin. „Du siehst gut aus!“, sagt sie und ich freue mich. Mein Blick fällt auf V., eine Frau Anfang 70 zwei Reihen hinter uns. Man sieht ihr das Alter nicht an, denn sie ist immer dezent geschminkt und äußerst geschmackvoll gekleidet: jung und sportiv, ohne auf jung getrimmt zu wirken. „Ich würde V. gern Konkurrenz machen“, antworte ich – für mich ungewohnt schlagfertig. „Das schaffst du nicht“, kommt es ebenso spontan zurück. Nur einen Moment lang bin ich verwirrt und fühle mich wie ein Ballon, dem die Luft abgelassen wird. Dann ist es wieder gut; ich verspüre weder Enttäuschung noch Neid. Meine Freundin hat recht: V. wird diesbezüglich, ohne es darauf anzulegen, immer in einer anderen Liga spielen. Mein Wunsch und meine Fähigkeit, aufzutakeln, sind begrenzt …

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold?

Immer häufiger passiert es mir, dass Menschen nicht antworten. Bei Briefen ist es mittlerweile ohnehin total unüblich – wer schreibt schon noch Briefe? Aber auch Mails bleiben oft unbeantwortet, selbst wenn das der einzige Kommunikationsweg ist, den wir nutzen. Diese kommunikative Zurückhaltung irritiert und ärgert mich; sie existiert privat und beruflich. Besonders nervig ist sie im Geschäftlichen: Wenn ich eine Rechnung stelle oder eine Arbeit abliefere, kommt von manchem – eine Weile gar nichts. Kein `Es dauert noch, tut mir leid!´, keine Rückmeldung, stattdessen nur Stillschweigen. Erschreckenderweise gewöhne ich mich immer mehr daran und rechne damit, dass ich nicht mit einer Reaktion rechnen kann. 

Kürzlich erfuhr ich, dass es auch anders geht: Eine Bekannte rief mich an wegen eines Jobs. Ich solle darüber nachdenken, sie sei jetzt erstmal im Urlaub. Zwei Wochen später schrieb ich eine Mail, ob wir uns treffen könnten. Umgehend kam die Antwort: „Ja, gern“, hieß es, „ich bringe Ordnung in mein Nach-Urlaubs-Chaos und melde mich in den nächsten Tagen.“ Das tat sie; wir trafen uns und einigten uns auf ein Schnupperarbeiten. Auch den Termin dafür habe ich inzwischen abgemacht, und zwar mit ihrer Kollegin, die sich deswegen bei mir meldete. Ich war jedes Mal überrascht und bin beeindruckt von der verlässlichen Kommunikation. Sie sollte normal sein, wirkt auf mich aber wie ein selten gewordenes Gütesiegel. 

Urlaub in der Heide

Sie blüht nicht mehr die Heide – es macht nichts. Trotzdem gehen wir wandern und genießen Ruhe und Weite bei wunderbarem Herbstwetter: kühl und windig, dabei trocken und sonnig. Anfangs halten wir uns an die beschilderten Wanderwege, später weichen wir davon ab, verlaufen uns aber nur unwesentlich. Das Gebiet ist über 700 Hektar groß; man könnte hier verlorengehen.

Als wir zwei Stunden später wieder an einer Orientierungstafel vorbeikommen, sind wir überrascht, wie klein der Bogen ist, den wir geschlagen haben – und beschließen, dass es reicht. Noch eine halbe Stunde und wir sind wieder beim Auto. Die gut zehn Kilometer sind nicht als Wanderung zu bezeichnen, aber in diese Urlaubswoche passt nichts Größeres. Die restlichen freien Tage füllen wir mit Garten- beziehungsweise Schreibarbeit. Am Ende der Woche wird der Heide-Spaziergang eine der wenigen völlig zweckfreien Beschäftigungen sein. Auch ein Kurz-Urlaub ist toll, finde ich und denke abends sogar, ich hätte Farbe bekommen. Das allerdings erweist sich als Illusion: Meine Tochter sieht nichts!

Unser bestes Stück

Wir haben einen großen Garten. Ringherum wachsen Büsche und Sträucher; im Sommer schaut man überall ins Grüne, das ist schön. Seit ein paar Jahren müssen wir aufpassen, dass uns immergrüne und blatt-abwerfende Büsche gleichermaßen nicht über den Kopf wachsen. Dabei behilflich sind uns verschiedene Gartengeräte: Bei hartnäckigen Verholzungen greifen wir zu Säge oder Axt, für den Rest reichen diverse Scheren. Aber wohin dann mit der Biomasse, die am Boden liegend so viel mehr Raum einzunehmen scheint als an der Pflanze?

Die schiere Menge an Material lässt uns zwei Optionen: jährlich mehrere Fahrten zur Müllumladestation oder hauseigene Weiterverarbeitung. Schon vor über zehn Jahren entschieden wir uns gegen die umständliche Fahrerei und kauften einen kleinen, aber leistungsstarken Gartenhäcksler. Seither ist dieser Nadelöhr und Masse-Bezwinger in einem. Es zerkleinert sich (wie bereits an anderer Stelle erwähnt) langsamer, als es sich abschneidet. Andererseits frisst sich der Häcksler unermüdlich durch festes, biegsames, verholztes oder frisches Schnittgut. Im Herbst steht er für ein paar Tage im Zentrum der Aktivität und bringt uns zum Staunen – unser bestes Stück.

Geteilter Ärger

Im Garten beim Zurückschneiden und Häckseln; die Sonne scheint. Wir kommen gut voran, quatschen ein bisschen, scherzen und nähern uns dem Ende. Als vorletzten Busch für heute stutzt mein Mann eine Korkenzieher-Hasel – großzügig, denn wir hatten sie jahrelang wachsen lassen. Die verdrehten Äste lassen sich nicht gut häckseln und wir kommen gar nicht mehr gut voran. Mein jüngster Sohn und ich häckseln jetzt schweigend und ernst vor uns hin, dann hilft auch mein Mann.

Es ist eine mühselige Angelegenheit, immer mal wieder unterbrochen davon, dass der eine oder andere sich kurz abwendet: Ausdruck mühevoll unterdrückten Frusts. Zwischendurch würde ich am liebsten jemanden anschreien oder alles kurz und klein schlagen. Aber ich tue es nicht, denn niemand und nichts ist schuld an der Misere. Also beiße ich mich durch, genau wie Mann und Sohn.

Ich staune mal wieder, wie viel Ärger in mir steckt: in diesem Fall nur, weil eine Arbeit nicht geschmeidig vorangeht. Es ist gut, diesem Ärger keinen Raum und dadurch auch keine Macht über mich zu geben – und es fällt mir viel leichter, weil wir zu dritt hier stehen. Irgendwann sind wir fertig, denn auch unangenehme Tätigkeiten sind am Ende nur eine Frage von Zeit, Fleiß und Geduld.

Arbeit versus Leben?

Menschen wünschen sich eine vier-Tage-Woche, eine geringere Wochenarbeitszeit oder sonst etwas in der Richtung. Das Ziel ist eine bessere work-life balance, was zu bedeuten scheint, möglichst wenig zu arbeiten und möglichst viel zu leben. Es klingt, als hätte unsere Arbeit nichts zu tun mit unserem Leben, fast so, als würden beide sich gegenseitig ausschließen – als ob ich umso weniger lebe, desto mehr ich arbeite.

Sehe ich meine Arbeit nur als leider notwendiges Übel, um meine Rechnungen zu bezahlen, dann ist die Lösung natürlich, mit minimaler Arbeit maximal Geld zu verdienen. In diesem Fall wären Langzeitarbeitslose die glücklichsten Menschen unter der Sonne – beglichene Rechnungen vorausgesetzt.
Empfinde ich dagegen meine Arbeit als etwas sehr Befriedigendes, dann bin ich (glücklich) rund um die Uhr damit beschäftigt, ohne Zeit zum Leben zu haben. Beide Szenarien sind natürlich Quatsch.

Klüger wäre es, Arbeit als zum Leben zugehörig zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Denn stimmt es einfach nicht, dass wir entweder arbeiten oder leben. Schließlich leben wir rund um die Uhr und arbeiten deutlich länger als von 8 bis 5. Generationen vor uns wussten sehr genau: Leben ist (manchmal harte) Arbeit – auch abseits des Broterwerbs. Daher werde ich, solange ich lebe, höchst selten arbeits-los sein – auch abseits des Broterwerbs. Oft fühle ich mich gerade dann am lebendigsten, wenn ich etwas tue, was einem anderem dient.

Ich bezweifle, dass meine work-life balance sich verbessert, sobald ich weniger arbeite und dafür in der Freizeit mehr erlebe. Ausbalancierter werde ich eher, wenn ich meine Perspektive ändere und dankbar bin, in meinem Leben eine (wie auch immer brauchbare) Arbeit erledigen zu können – egal, ob für Lohn oder nicht. Es ist müßig und nicht besonders schlau, Arbeit und Leben in ein Gleichgewicht bringen zu wollen. Generationen vor uns wussten auch das.

Ich war nicht gemeint …

Kurz vor dem Ende meiner Laufrunde muss ich eine Straße kreuzen, auf der viele Autos an der Seite parken. Von vorn kommt ein Mercedes; der Fahrer macht das Aufblendlicht an und will mich offenbar durchlassen. Ich lächle und will mich winkend bedanken, da kommen mir Zweifel – und ich schaue mich um. Siehe da, hinter mir ist ein anderes Auto auf Kollisionskurs, dessen Fahrer eine Ausweichmöglichkeit zwischen den parkenden Autos sucht. IHM will der Mercedes-Fahrer die Vorfahrt gewähren, nicht mir.

Bis die beiden das unter sich ausgemacht haben, bin ich über die Straße und weg. Es wäre sehr aufmerksam und rücksichtsvoll gewesen, denke ich, aber ich war nicht gemeint … 

Gern wieder!

Wir besitzen nur ein Auto und das steht tagsüber auf dem Parkplatz vor dem Büro, in dem mein Mann (seit einigen Monaten) seine Arbeitstage verbringt. Wenn ich während dieser Zeit für irgendetwas ein Auto brauche, muss ich mir eins leihen. Nicht jeder verborgt seinen fahrbaren Untersatz gern und bereitwillig; man hört das an den zögerlichen Reaktionen: Sie sind nicht eindeutig ablehnend, aber weder herzlich noch einladend. Es ist nicht leicht für mich, trotzdem darum zu bitten. Diese Woche fragte ich eine Freundin, die mir bisher aus unerfindlichen Gründen nicht eingefallen war. „Na, klar, wann brauchst du es“, war ihre spontane Antwort und einige Augenblicke später: „Soll ich dich fahren? Dann musst du das Auto nicht holen und wiederbringen.“ Soweit ging meine Bequemlichkeit dann doch nicht: Ich holte das Auto ab und stellte es zwei Stunden später wieder vor ihre Tür. „Gern wieder!“, schrieb sie mir am Abend und ich dachte: Genau!

Mein ostwestfälischer Schatz

In einer Tageszeitung, die ich digital abonniert habe, lese ich einen Artikel über die Ostwestfalen. Mein Mann weist mich darauf hin: Er ist selbst einer, genau wie der Autor. Sie gälten wahlweise als stur oder spröde, steht da, mundfaul oder schüchtern, engstirnig oder langweilig, aber eigentlich seien sie doch ganz nett – still halt. Von Geradlinigkeit und Bodenständigkeit ist die Rede, ebenso von ostwestfälischer Schaffenskraft und Zurückhaltung. „Die Selbstdarstellung ist nicht sein Ding“, lese ich. Und dass die Deutschen auf Vieles verzichten müssten ohne den Erfindergeist und den Fleiß dieses Völkchens in der Provinz zwischen Hannover und Dortmund. Stolz auf seine Erfolge empfinde der Ostwestfale durchaus, teile ihn aber lieber in der Familie als mit der breiten Öffentlichkeit. Und zu guter Letzt: „Neuerungen werden durchweg mit einer gewissen Skepsis betrachtet … Mehr Begeisterung wäre Übermut – und der tut ja bekanntermaßen selten gut. Vielleicht bräuchte Deutschland einfach mehr Ostwestfalen?“

Der Artikel ist wertschätzend und humorvoll geschrieben; in sehr vielen Bemerkungen erkenne ich meinen Mann wieder und seine erweiterte Sippe. So geballt bringt mich die liebevolle Aufzählung ostwestfälischer Eigenarten mehrmals zum Schmunzeln. Am Ende bin ich neu dankbar, dass ich bei der Wahl meines Ehemannes gerade an diesen geraten bin – wundere mich aber nicht: Ich hatte eben schon damals das richtige Gespür für verborgene Schätze.

Der Ritterschlag

Seit einiger Zeit löse ich das ZEIT-Rätsel und schicke meinem Schwiegervater mein Ergebnis per Mail – teilweise mit kleinen Lücken. Gern hilft er mir bei dem, was mir bis zuletzt unklar geblieben ist. Er hat mehr Erfahrung im Um-die-Ecke-Denken und ein breiteres Allgemeinwissen. „Nicht verzweifeln“, schrieb er mir ganz am Anfang und nach meinem dritten gelösten Rätsel: „Du machst dich.“ Vorgestern durchzuckte mich ein Geistesblitz, eine nachträgliche Erklärung für ein Lösungswort, das sich `so ergeben hatte´. Als ich meinen Schwiegervater daran teilhaben ließ, schrieb er zurück: „Eine sehr gute Idee, ich kann viel von dir lernen.“ Der Ritterschlag.