Weniger ist kein Verlust

In der Gemeinde fällt die Technik aus, direkt vor dem ersten Lied: E-Gitarre, Schlagzeug, Bass, Mikrofone – alles ohne `Saft´. Da der Liedtext schon angeschlagen und das Lied wohl bekannt ist, fangen wir ohne Unterstützung von vorn an zu singen. Das Ergebnis klingt vollmundig und kraftvoll – wunderbar.

Nach der zweiten Strophe ist das Problem behoben und der Strom fließt wieder. Der Gemeindegesang tritt in den Hintergrund; vordergründig spielt und hört man die Band – auch wunderbar, aber anders. Schade, denke ich, in diesem Fall war weniger (von vorn) mehr (von uns). Manchmal bewirkt der Ausfall von Technik keinen Verlust.

Ein Auto

Eine Glühbirne am Auto ist defekt; im nahenden Herbst und Winter sind die vorderen Scheinwerfer wichtiger als an langen, hellen Sommertagen. Wenn wir ohnehin in die Werkstatt müssen, wollen wir gleich die Reifen wechseln lassen – nur die beiden hinteren. Dabei entdecken die Leute in der Werkstatt eine gebrochene Feder, es dauert also länger …

Am nächsten Tag können wir das Auto abholen; der Werkstattinhaber geht mit uns durch die Reparaturleistungen: Das Licht funktioniert wieder, die Räder sind montiert, die alten Reifen entsorgt, die dazugehörigen Felgen im Kofferraum. Die Federn und Stoßdämpfer wurden ausgetauscht – rechts und links; man erneuert nie nur eine Seite. Logisch. Ach ja, es handelte sich nicht um einfache Federn, sondern um verstärkte. Klar, denken wir und erleben mal wieder: Ein Auto ist eine Geldvernichtungsmaschine.

alter weißer mann

An einem Brückengeländer bei uns in der Nähe sind seit kurzem Aufkleber in neon-orange angebracht: `alter weißer mann´ steht da drauf. Was das aussagen soll, frage ich mich – und wem hilft das? Alte weiße Männer müssen herhalten für alles Mögliche: Ihretwegen sind Frauen nicht gleichberechtigt und alle Nicht-Weißen strukturell diskriminiert – was auch immer DAS genau heißt und woran man dieses Phänomen festmacht. Wahrscheinlich ist es sogar kulturelle Aneignung, wenn alte weiße Männer es wagen, sich zum Karneval als Indianer zu verkleiden.

Ihr armen alten weißen Männer, denke ich, ihr tut mir leid: Euch geschieht Unrecht! Zum einen seid ihr gar keine homogene Gruppe; die wenigsten unter euch sind dominant, rassistisch oder kulturell übergriffig. Zum anderen seid ihr aufgewachsen in einer Zeit, in der Dinge so waren, wie sie waren – wie alle anderen Menschen auch. Manches war gut, manches nicht; von manchem haben einige von euch profitiert. Im Großen und Ganzen gestaltet ihr euer Leben nach guten Prinzipien. Euer Arbeitsethos beispielsweise treibt heutigen Chefs Tränen des Neides in die Augen; ihr haltet Frauen die Tür auf – ohne auf deren Hautfarbe zu achten. Wer von euch sich als Indianer verkleidet, hat in jungen Jahren vielleicht Karl May gelesen und Cowboy und Indianer gespielt: Männer aus Fleisch und Blut waren rar in eurer Kindheit, also musstet ihr selbst schnell zu Männern werden. Heute sind viele der Werte von damals verpönt; ihr müsst euch rechtfertigen für das, was lange als `normal´ galt (und der gesamten Gesellschaft nutzte).

Dabei könnt ihr als alte weiße Männer heute nur verlieren: Prallt die Kategorisierung an euch ab – dann geltet ihr als ignorant. Wehrt ihr euch dagegen – bestätigt das euer ohnehin schon schlechtes Image, uneinsichtig zu sein (vielleicht sogar intolerant). Sucht ihr (halb einsichtig, halb verunsichert) nach einem Mittelweg, bringt dieser die Debatte wahrscheinlich nicht zu einem versöhnlichen Ende. Die Deutungshoheit über die letzten Jahre eures Lebens, liebe alte weißer Männer, liegt in der Hand anderer.

Ich bin noch zu jung für alt und außerdem eine Frau; ich teile mit euch nur die Hautfarbe. Aber, frei nach Voltaire: „Ich bin zwar in einem völlig anderen Boot unterwegs, aber ich mache Ihnen gern Platz, damit Sie Ihre eigene Weiterfahrt frei gestalten können.“

PS: Direkt neben den `alter weißer Mann´-Aufklebern hängen andere: `amazon nein danke´. Das passt, finde ich. Alte weiße Männer nutzen Amazon wahrscheinlich ohnehin nicht.

Vom Umgang

In eins der Geschäfte unserer Stadt gehe ich nicht gern. Es hat nichts mit dem Sortiment zu tun oder dem Preis; die jungen Verkäuferinnen sind freundlich. Ich gehe nicht gern dorthin, weil ich ungefragt und stetig geduzt werde. Würden dieselben Frauen mich auf der Straße nach der Uhrzeit oder dem Weg fragen – sie würden mich garantiert siezen. Sobald ich aber `ihr´ Geschäft betrete, nehmen die Damen mich offenbar anders wahr. Bei ihnen gelten andere Regeln und Umgangsformen. Es mag der Gang der Dinge sein oder modern; ich bin wohl einfach zu alt dafür.

Nicht gut

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft spielt manchmal erstaunlich einfalls- und erfolglos – besonders gegen Mannschaften, die ihnen vorab unterlegen schienen: Ein mittelmäßiger Gegner verleitet selbst exzellente Fußballer zu einer schlichten Spielweise; sie bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück.

Unsere polnische Austauschschülerin spricht nur rudimentär Englisch. Im Gespräch mit ihr stottere ich unbeholfener durch meine Sätze, als ich es könnte und gewohnt bin: Ein radebrechender Gesprächspartner verleitet mich zu schlichter Kommunikation; ich bleibe weit hinter meinen eigenen Fähigkeiten zurück.

Vorsicht mit Worten

In mehreren Zeitungsartikeln, die sich mit der vergangenen Corona-Zeit befassen, lese ich von Impfgegnern. Jedesmal klingt es abfällig wie ein Schimpfwort – und steckt Menschen pauschal in eine Schublade. Impfgegnern traut man zu, Alu-Hut-Träger, rechtsradikaler Demonstrant und/oder Corona-Leugner zu sein, gern auch demokratiefeindlich. Sehr wahrscheinlich ist nichts davon wahr, aber das Szenario im Kopf ist eindeutig negativ konnotiert. Dabei wissen wir nicht erst heute: Die mit Impfgegner Titulierten haben weder die Pandemie verlängert noch andere gefährdet und auch keine Umsturzpläne geschmiedet. Schlimmstenfalls erhöhten sie ihr eigenes Ansteckungsrisiko – freiwillig und völlig legitim. Jegliches unfreundliche Kategorisieren war und ist also fehl am Platz.

Im Zusammenhang mit Corona ist das Wort Impfgegner außerdem undifferenziert: Diejenigen, die sich nicht gegen Covid-19 impfen ließen, sind keineswegs alle Gegner des Impfens allgemein. Die Zahl der tatsächlichen Impfgegner, die Impfungen grundsätzlich ablehnen, ist verschwindend gering. Und auch diese bewegen sich in den meisten Fällen auf legalem Boden. Den Begriff Impfgegner hinsichtlich der Pandemie noch immer zu bemühen ist mindestens unglücklich – vielleicht sogar missbräuchlich. Schwarz auf weiß macht es nicht besser.

Weniger ist mehr als zu viel!

`Auf zwei Hochzeiten kann man nicht tanzen´, heißt es, dabei stimmt das gar nicht: Man KANN schon, aber es ist oft keine gute Idee. Denn man wird weder dem ersten noch dem zweiten Gastgeber gerecht – und kommt im Zweifelsfall selbst auch nicht richtig in Stimmung. Ebenso ist es mit einem `zu viel´ an anderen Dingen: Freunde kann man angeblich nie genug haben, aber um zu viele kann man sich schlecht kümmern. Wer sich diversen Hobbys widmet, wird sich in keins richtig investieren. Und ich schätze, man selbst – oder mindestens die innere Balance – bleibt auf der Strecke, wenn man von Termin zu Termin oder Veranstaltung zu Veranstaltung hetzt.

Ein paar Menschen scheinen wie ein Schmetterling von einem Ereignis zum nächsten zu flattern. Aber auch sie brauchen Momente der Besinnung, damit sie nicht den oder das Wichtigste in ihrem Leben vernachlässigen. Selbst wenn wir es nicht hören wollen, bleibt es doch wahr: Unsere Ressourcen sind begrenzt – nicht erst im hohen Alter. Junge Leute haben absolut am meisten Energie und Schwung, setzen sie verschwenderisch ein und leben manchmal gefährlich nah am Limit. Menschen in der Lebensmitte machen ihre nachlassenden Kräfte wett mit Erfahrung und Ausdauer – und kennen und akzeptieren doch (vielleicht zähneknirschend) ihre Grenzen. Für einige meiner älteren Bekannten gilt: „The greatest freedom is having nothing to prove.“ Die größte Freiheit liegt darin, nichts mehr beweisen zu müssen. Das mag wie langweilig und wenig wirken, zeugt aber von mehr – Weisheit, Gelassenheit und Selbstbewusstsein.

Zweite Kasse bitte

Mal wieder bildet sich im Supermarkt eine Schlange an der Kasse. Zwei Rentnerinnen vor mir fordern eine zweite Kasse – erst leise, dann etwas lauter. Eine von ihnen dreht sich verständnissuchend zu mir um, aber ich widerspreche ihr vorsichtig: „Es sind nur ein paar Minuten, die es länger dauert“, sage ich, „die kann man nutzen, um ein bisschen zur Ruhe zu kommen.“ Das habe sie gerade beim Sport schon gemacht, nuschelt sie und wendet sich ab, das brauche sie hier jetzt nicht mehr. Dann öffnet eine weitere Kassiererin die gewünschte zweite Kasse – von der allerdings nur die Leute hinter mir profitieren. Ich wechsele nicht.

Als ich den Supermarkt verlasse, steht eine der beiden Damen noch immer auf dem Parkplatz. Sie unterhält sich: in aller Ruhe.

Begrenzte Medienkompetenz

Mir begegnet eine Schulklasse auf dem Weg irgendwohin; ich schätze, es ist eine fünfte oder sechste Klasse. Das Schüler-Feld ist weit auseinander gezogen: Sie gehen in Gruppen zu zweien oder dreien, wenige sind allein. Die meisten von ihnen starren dabei auf ihr Handy, gesprochen wird kaum. Das können die Eltern doch nicht wollen, denke ich. Es fällt eindeutig nicht unter die oft zitierte Medienkompetenz. Diese ist nämlich nicht dadurch erreichbar, dass Kinder immer mehr und immer früher digitale Geräte benutzen. Kompetent ist jemand, der das tatsächliche Miteinander ebenso souverän beherrscht wie das über Funk. Nicht viel Übung macht hier den Meister, sondern stattdessen Einsicht und Selbstdisziplin. Kinder brauchen dafür Hilfe in Form von Grenzen, wie zum Beispiel Handy-freien Orten oder Zeiten. Als Nebeneffekt entwickeln sie dann Kreativität und Gelassenheit – und können sich an der realen Welt erfreuen, auch wenn in der Hosentasche die digitale lockt.

Allein

Auf meinem Spaziergang komme ich am Haus einer Bekannten vorbei; wir kennen uns vom Sehen. Heute wischt sie sich ein paar Tränen ab. Was los sei, frage ich. „Ach, nur Freudentränen, alles gut“, sagt sie, „meine Tochter hat mir gerade geschrieben: Sie hat für ihre Masterarbeit eine 1,0 bekommen!“ Ich gratuliere und bleibe kurz stehen. Im weiteren Gespräch erfahre ich, dass sie mittlerweile allein wohnt. Ihr Sohn ist ebenso erwachsen wie die Tochter; der Mann hat sich vor einigen Jahren von ihr getrennt. Das tut mir leid, aber sie winkt ab: „Es geht mir gut; ich habe meine Ruhe. Nur in solchen Momenten, da fehlt einem doch etwas.“ Ich nehme sie spontan in den Arm; sie bedankt sich.

`Geteiltes Leid ist halbes Leid´, heißt es. Für die schönen Momente unseres Lebens gilt dasselbe: Allein weiß man manchmal nicht, wohin mit seiner Freude. Besser ist es, wenn jemand da ist, der sich mit-freut.

Als ich weitergehe, denke ich an die Tochter. Heute will sie mit ihren Freunden feiern und morgen die Mutter besuchen. Kinder allein lebender Eltern fühlen sich unweigerlich verantwortlich, den fehlenden Partner zu ersetzen. Es ist toll, wenn sie das gern tun; aber es kann auch eine Bürde sein.