Nebensächlich

Beim Laufen auf einem Feldweg begegnen mir zwei spazierende Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern: Einer – ich kenne ihn nicht – kommt mir entgegen, der andere ist mir bekannt und geht vor mir her. Ich halte mich auf der Seite des mir bekannten Gespanns und nähere mich relativ zügig. Normalerweise registrieren mich die Hunde immer deutlich früher als ihre Herrchen; ich bin für die Tiere meist die willkommene Ablenkung beim ansonsten unspektakulären Gassigehen. Nach den Hunden reagieren die Halter und spannen die Leinen, um einer ungestümen Begegnung zwischen Jogger und Hund vorzubeugen.

Heute ist es anders: Ich werde überhaupt nicht beachtet! Beide Hunde haben nur Augen (und Nasen?) für einander, die Menschen sind offenbar ebenso konzentriert darauf, wie das Treffen ihrer Lieblinge ausgehen wird. Beim Vorbeilaufen bedanke ich mich reflexartig und sage „Hallo“. Alles völlig überflüssig: Ich bin hier und jetzt total nebensächlich.

Kein Dauerzustand

Große Trauer erschüttert uns, große Freude genauso. Und obwohl unerwartete Todesfälle oder die Geburt eines Kindes uns lebenslang prägen, besteht die große Herausforderung darin, uns von derart emotionsgeladenen Ereignissen nicht definieren zu lassen. Weder große Trauer noch überwältigende Freude haben langfristig die Herrschaft über unsere Persönlichkeit – auch wenn die mit ihnen verbundenen Gefühle uns nie ganz verlassen werden. Menschen, die tiefes Leid erfahren, dürfen darin nicht verharren – sonst verzweifeln sie und werden bitter. Und auch große Glücksgefühle verlieren mit der Zeit ihren Zauber und werden überlagert von mehr oder weniger banalen Erfahrungen: Das Leben spielt sich ab in den Niederungen des ganz gewöhnlichen Alltags. Wie wir dort gleichermaßen ernsthaft und lebensfroh bleiben können – darin zeigt sich, wer wir sind.

Was noch bleibt…

Dankbarkeit macht großzügig,
Großzügigkeit macht dankbar,
Ehrlichkeit – ohne Liebe – verletzt,
Ehrlichkeit – mit Liebe – klärt Beziehungen,
Hilfsbereitschaft freut,
Gastfreundschaft entspannt,
Vertrauen macht mutig,
Misstrauen zersetzt,
Neid vergiftet,
Gelassenheit entspannt,
Spontaneität ist einladend (manchmal auch anstrengend),
Zufriedenheit lässt staunen,
Kompetenz beruhigt,
Arroganz nervt,
Hochmut verärgert,
Disziplin macht erfolgreich (und manchmal hart),
Fragen erweitern den Horizont.

Reisevorbereitungen als Lebensschule

Um mich für meine England-Reise im Herbst zu rüsten, lese ich das Buch „Watching the English“ von Kate Fox. Es löst in mir Erheiterung aus, Erstaunen und ist so umfassend geschrieben, dass ich WEISS: Ich werde die unausgesprochenen Regeln des (verbalen) britischen Umgangs auf jeden Fall brechen. Und – die Briten werden höflich genug sein, mich das nicht spüren zu lassen.

Was ich aber über junge Männer an einer Stelle lese, lässt mich innehalten und eine gedankliche Schleife drehen. Es geht um männliche Heranwachsende, die sich normalerweise in Kneipen oder auf Parties laut und leicht aggressiv verhalten, die vielleicht sogar eine gewisse kriminelle Energie mit sich bringen – oder nur zu viel Testosteron. Gehen diese jungen Männer zu einem Pferderennen, benehmen sie sich anders. Kate Fox schreibt über sie (frei übersetzt): „Ihr relativ zivilisiertes Benehmen beim Pferderennen setzt alle landläufigen Überzeugungen zur Ursache von Chaos und Gewalt außer Kraft und beweist, dass es für Horden junger Männer durchaus möglich ist, sich zu versammeln, zu spielen und große Mengen Alkohol zu trinken – und das alles bei einem großen Sportereignis -, ohne sich zu schlagen oder in anderer Weise für Ärger zu sorgen. Sie mögen laut sein und demonstrativ auftreten, aber sie sind nicht aggressiv, sondern bemerkenswert wohlerzogen: Sie halten Frauen die Türen auf, sagen ´Danke` und ´Bitte`, und wenn sie betrunken in dich hineintorkeln, entschuldigen sie sich.“ Und später schlussfolgert sie, woran das liegen könnte: „Wenn junge Männer wie verantwortlich handelnde Menschen behandelt werden, verhalten sie sich als solche. Behandelt man sie als Kinder oder als nicht zurechnungsfähige, wilde und verantwortungslose Biester – verhalten sie sich entsprechend.“

Mir kamen sofort meine größeren Kinder in den Sinn, die sich herantasten ans Erwachsensein. Was traue oder mute ich ihnen zu, inwieweit vertraue ich ihnen? Ich möchte ihr Rumprobieren mit dem Großwerden gern unterstützen und aushalten und bin unsicher, welche Rolle ich dabei spiele. Ich frage mich: Wie hilfreich sind ab einem gewissen Alter Kontrolle und Detailfragen? Müssen wir wirklich über alles reden, nur weil sie ihre Füße noch unter unseren Tisch stellen? Andererseits aber auch: Inwieweit halten sie die Konsequenzen ihres Handelns aus? Der Übergang hin vom Kind zum erwachsenen Gegenüber fällt mir nicht in den Schoß; ich bin darin nicht so gut. Ich finde beides schwierig, das Loslassen und das konsequente „In-die-Pflicht-Nehmen“. Ich probiere noch herum – genau wie meine Kinder…

Was bleibt …

Lob baut auf,
Kritik – unsensibel geäußerte – entmutigt,
Verachtung demütigt,
Begeisterung steckt an,
Wut schüchtert ein,
Gleichgültigkeit verunsichert (und regt auf),
schlechte Laune geht auf die Nerven,
Ermutigung macht zuversichtlich,
Anteilnahme tut gut,
Aufmerksamkeit zeigt Wertschätzung,
Desinteresse macht wütend,
Empathie tröstet,
Schweigen macht leise,
Sprechdurchfall ebenso.

Schwarzfahren?

Ich bin mit der Bahn unterwegs. Weil ich Geld sparen möchte, wähle ich Zugbindung. Verspätung lässt mich meinen ersten Anschlusszug verpassen. Ich muss improvisieren und von der ICE-Verbindung auf eine Regionalbahn umsteigen. Auch der nächste Anschlusszug ist dadurch unerreichbar. Für die letzten Kilometer meiner Reise entscheide ich mich für eine Vorortbahn, die mich meinem Ursprungsziel sehr nahebringt, aber gar nicht dort hält – es ist für meine Freundin egal, an welchem Dorfbahnhof sie mich abholt.

Während ich im letzten Zug sitze, frage ich mich, ob mein Ticket hier überhaupt gilt. Meine Befürchtungen, gegen die Regeln zu verstoßen, lassen sich nur schwer unterdrücken. Zu allem Überfluss befindet sich direkt gegenüber meines Sitzes ein Schild, auf dem steht: „Hier drücken wir kein Auge zu. Fahren ohne gültige Fahrkarte kostet Sie mindestens 60 Euro.“ Mit dem Spruch vor Augen warte ich unentspannt die 15 Minuten ab, die die Fahrt dauert – und hoffe, dass kein Schaffner kommt. Erleichterung durchströmt mich, als die Durchsage für meinen Halt ertönt. Ich gehe zur Tür. Dort steht: „Wir hoffen, Sie hatten eine nette Fahrt mit uns.“ Etwas gequält muss ich lächeln.

Woher in mir rührt dieses tiefsitzende Bedürfnis, mich korrekt zu verhalten? Bin ich in solchen Fragen sehr deutsch – oder sehr ostdeutsch? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mit einem latenten Schuldgefühl im Zug saß: „Es muss mir die 60 Euro wert sein, zur Not bezahle ich sie.“ Ich hätte nicht diskutiert, ich hätte alles zugegeben – obwohl ich ebenso tiefsitzend wusste, dass mein Handeln kein klassisches Schwarzfahren war. Trotzdem: Tief in mir drin spüre ich in solchen Fällen eine starke Grenze zwischen „richtig“ und „falsch“. Seltener kommt – für mich selbst – ein großzügiges „auch in Ordnung“ zum Einsatz. Das verbrauche ich stattdessen freigebig für andere.

Vom Reden und Hören!

Meiner Beobachtung nach ist es in den seltensten Fällen so, dass ein Gespräch nach klar definierten, alle Beteiligte zufriedenstellende Parameter abläuft. Nur mit wenigen Menschen gelingt ein Dialog nach folgendem Muster: Fragen, zuhören, abwarten, nachfragen, fertig erzählen lassen und dann vielleicht selbst vorsichtig die eigene Position dazu verkünden – aber nur, wenn das gewollt ist. Was ich stattdessen immer wieder erlebe ist: Fragen, aufs Stichwort warten und dann die eigene Geschichte zum Besten geben. In uns steckt ein unbändiger Drang, die eigenen Gedanken loszuwerden. Beim Punkt „zuhören“ wird es für viele schwer. Auch für mich!

Das Problem ist: Das Erzählen von Geschichten macht noch kein Gespräch. Ohne Zuhören geht’s nicht.

Aufgeregt

Vor mir liegt ein beruflicher Termin, bei dem ich überhaupt nicht weiß, was mich erwartet. Ich bin aufgeregt – angespannt und unsicher.

Im Herbst möchte ich allein verreisen, in ein fremdes Land und eine mir unbekannte Gegend. Ich bin aufgeregt – gespannt und neugierig.

In beiden Fällen grummelt mein Bauch, mein Herz schlägt fühlbar, ich bin nervös; in beiden Fällen beruhigen rationale Überlegungen nur bedingt. Beide Ereignisse fordern mich heraus und bringen mich weiter.

Und dennoch sind die Gefühle rund um die Aufregung ganz unterschiedlich.

Allein gelassen

„Da verließen ihn alle und flohen.“
Markus 14, 50

Wenn ich ans Abendmahl denke, merke ich, dass ich das Sterben von Jesus nicht wirklich begriffen habe. Verstanden vielleicht, aber mit dem Herzen erfasst? Ich bezweifle es. Wir reden darüber, was es Jesus gekostet hat, ans Kreuz zu gehen. Aber diese Form der Versöhnung mit Gott an sich, das Konzept Sünde in seiner ganzen Fülle – bleibt mir fremd. Und so verweile ich während des Abendmahls nicht lange beim Tod Jesu, sondern bin schnell bei der Auferstehung. Es ist, als ließe ich Jesus in seinem Sterben allein – ebenso wie die Jünger damals.

Es ist, als würde ich sagen: „Wie kannst du nur so ein Opfer bringen müssen?“

Jesus ist bewusst ans Kreuz und in den Tod gegangen, obwohl er ahnte, dass viele Menschen sich schwertun würden mit seinem Sterben. Die Erfahrung hatte er zu Lebzeiten zur Genüge gemacht und 2.000 Jahre später ist es noch immer so: Es gibt viele Menschen, die mit Jesus und Glauben und einem Sündenbock für alle nichts anfangen können. Es gibt wahrscheinlich ebensoviele Menschen, die zwar irgendwie an Gott glauben, aber insgeheim das Opfer seines Sohnes ablehnen: „Für mich musst du nicht sterben. Ich komme auch so klar in diesem Leben und mit Gott. Ich nehme dieses gesamte Opfer-Paket einfach nicht in Anspruch.“ Und schließlich sind da diejenigen, die Jesus als Sohn Gottes anerkennen und sein Opfer ebenso, die aber trotzdem weiter versuchen, allein zurecht zu kommen. Sie versuchen insgeheim, allein und aus eigener Kraft gerecht und gut zu sein. Sie sehen mehr die Auferstehung und die Versöhnung mit dem Vater als dieses brutale Sterben. Sie halten diesen Tod nicht aus, jedenfalls nicht wirklich – in seiner ganzen Heftigkeit, in seiner Grausamkeit und in seiner Gottesferne.

Ich zähle mich dazu. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich doch auch von mir aus ziemlich nett bin – barmherzig, freundlich gütig, geduldig… Ich ertrage dieses Sterben für mich nur schwer, ich gehe gern über zum positiven Ende der Auferstehung. Aber ebenso, wie wir als Menschen ganz körperlich durch den Tod noch immer hindurch müssen, durch das Sterben und alles, was damit verbunden ist – ebenso kommt vor der Auferstehung der Tod Jesu. Und vorher seine Einsamkeit, seine Zweifel, seine Angst und die Schmerzen. Dass Jesus das alles für mich erträgt, ist kein schöner Gedanke – und deshalb halte ich diesen nicht lange aus und lasse Jesus in seinem Sterben lieber allein. Ich fühle mich wohler, wenn ich an seine Auferstehung denke und daran glaube, dass sie auch für mich gilt.

Jesus dagegen lässt mich nicht allein, weder im Leben noch im Sterben. Jesus sagt nicht: „Wie kann sie nur?“ Jesus sagt: „Ich hab` dich lieb! Es geht nicht anders, vertraue mir.“

Sommerurlaub

Meine Idee von Sommerurlaub ist eine ganz bestimmte. Warme bis heiße Tage, strahlend blauer Himmel, laue Abende – Draußenwetter für Warmduscher. Besonders wenn ich ins Wasser gehe, brauche ich es heiß: Zu schwierig ist es für mich, nach einer Meerwasser-Abkühlung wieder warm zu werden, wenn das Thermometer 24 Grad zeigt und ein leichter Wind weht.

Dieses Jahr sind wir auf einer Nordsee-Insel. Es ist schön und gut, aber nicht warm, geschweige denn heiß: Die Temperaturen bleiben in stetiger Zuverlässigkeit unter 20 Grad. Das ist – für meine Vorstellungen – nicht sommerlich, sondern fühlt sich durch den dauerhaft wehenden Wind eher herbstlich an. Normalerweise entspricht das Wetter also nicht meinen Erwartungen. Die Lösung? „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung“ mag stimmen, entlockt mir aber nur ein unwirsches Augenverdrehen. Also ziehe ich an, was ich in weiser Voraussicht an dickeren Klamotten mitgebracht habe, und gehe mit dem oder gegen den Wind am Meer spazieren.

In die Nordsee werde ich mich vielleicht zusammen mit ein paar verrückten Kindern stürzen – ganz kurz. Oder gar nicht. Was ich nicht tun werde: Am Strand sitzen, Strandmuschel aufbauen, Badeanzug unter die Fleece-Jacke ziehen, Handtuch bereithalten und auf das Wolkenloch warten. Meine Hoffnung auf diese Art Sommerurlaub stirbt nicht zuletzt, sie ist bereits begraben. Nur so kann ich genießen, was sich uns in Sachen Wetter bietet. Und ich freue mich ehrlich – dass es nicht regnet, dass der Wind mittlerweile schon deutlich weniger geworden ist, dass es ein Volleyballfeld in der Nähe gibt, dass die Kinder sich so gut verstehen…