Blase

Eine jährlich stattfindende Begegnung mit der erweiterten Familie macht mich regelmäßig nachdenklich. Mit meinen fünf Kindern und meiner altmodischen Art, NUR Mutter zu sein und am Berufsleben nicht wirklich teilzunehmen, fühle ich mich auch dort wie ein Auslaufmodell. Offenbar kann ich mich nicht hineinversetzen in dieses andere Leben, das gekennzeichnet ist von einer starken Dominanz des Berufs im Leben. Arbeit – in Form eines Jobs – gehört für die meisten zum Leben; aber bei vielen von ihnen bleibt daneben wenig Raum für andere Dinge. Entweder der Beruf ist zeitlich ausfüllend oder so kräftezehrend, dass Zeitmangel oder eine tiefe Müdigkeit andere Interessen im Keim erstickt. Oder sogar beides.

Es scheint kaum Stellschrauben zu geben. Wenn ich den Erzählungen glauben darf: Weniger arbeiten, weniger verdienen und dafür mehr Zeit zur Verfügung zu haben – so einfach ist es nicht. Es geht nicht nur ums Geld, es geht auch um berufliche Zufriedenheit, um Projekte oder Aufträge, die man gern bekommen würde. Und ein bisschen auch um die Sicherheit des Arbeitsplatzes.

Natürlich arbeitet niemand 24/7, natürlich haben alle Berufstätigen auch ein Privatleben, für das der Rest der Zeit und Kraft eben reichen muss. Mit allen Zwängen und persönlichen Ansprüchen, die man diesbezüglich hat – Beziehungen zu Kindern, Ehepartnern oder Freunden, Hobbys, persönliche Weiterentwicklung. Was (und in welchem Maße) für den Einzelnen zu einem erfüllten Leben dazugehört, ist sehr unterschiedlich.

Meine Fragen waren unbequem oder zu wenig einfühlsam – zumindest empfand ich es so. Ich wollte verstehen, aber das konnte ich nicht vermitteln. Es fehlte die gemeinsame Schnittmenge: Es ist nicht so, dass ich nicht arbeite, aber ich übe keinen Beruf aus und kann nicht mitreden. Dennoch hätte es mich interessiert, wie Berufstätige mit dem Zuviel an Pflicht zurechtkommen. Meine Unwissenheit durch interessiertes Nachfragen zu beseitigen, funktionierte nicht. Stattdessen kam ich mir im Nachhinein zu provokant vor – und vielleicht auch ignorant ob der beruflichen Realitäten in unserem Land.

Wahrscheinlich rede ich wirklich wie die Blinde von der Farbe, denn meine Aufträge scheinen alle frei gewählt – kein Chef sagt, was ich wann tun soll. Ohne Zwänge lebe ich aber noch lange nicht. Trotzdem oder gerade deswegen frage mich von Zeit zu Zeit, ob mein persönlicher Aufgaben-Kanon noch passt. Mein eigener Kampf um ein gutes Maß zwischen Tun und Nichtstun, zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen Pflicht und Kür in meinem Alltag scheint hausgemacht und leicht zu gewinnen – als Nichtberufstätige sitze ich in einer sehr individuellen Blase der Ahnungslosigkeit. Was uns verbindet: Egal wie wir unser Leben gestalten, es geht unaufhaltsam vorbei.

„Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.“
Astrid Lindgren

Wunderbar! Natürlich sind Sätze nicht automatisch richtig und wahr, nur weil Astrid Lindgren sie gesagt hat. Und natürlich hat die Autorin in einer anderen Zeit gelebt – und auch im beschaulicheren Schweden. Aber sie war – ebenso natürlich – eine vielbeschäftigte Frau, und dieser Satz ist ihr (für mich) bewundernswertes Bemühen um gute Prioritäten.

Spontan

Ein Samstag im August. Das Wetter ist wunderbar – spätsommerlich warm, sonnig und windstill. Spontan haben wir die Idee zu grillen und laden dazu ein. Wir telefonieren nicht den ganzen Tag, aber doch häufig. Freunde, Kollegen, Nachbarn – wir arbeiten uns voran von denjenigen, die uns sehr vertraut sind, zu denjenigen, die noch nie bei uns waren: Alle sagen ab. Am Ende schauen wir uns an und wissen, wir haben alles gegeben.

Wir waren zu spontan. Jedenfalls ist das unser Trost. Alle Absagen klangen nach Bedauern: „Schon was anderes vor!“ „Zu kaputt.“ „Noch so viel vorzubereiten für den Gottesdienst morgen.“ Manch potentieller Gast war nicht erreichbar. Wir nehmen es nicht persönlich; der Abend wird auch ohne Besuch sehr schön – entspannt und familiär. Wahrscheinlich lag es nicht an uns, es sollte einfach nicht sein.

Keine 24 Stunden später: Nach dem Gottesdienst nehmen wir spontan(!) alte Freunde mit zu uns, um das angefangene Gespräch in unserem Garten fortzusetzen. Sie gehen mit – und noch ein paar andere. Es wird ein besonderer Nachmittag, wir gehen nach fünf Stunden alle beschenkt auseinander. Wahrscheinlich lag es wieder nicht an uns, es sollte einfach so sein.

Ungewollte Folgen

Ein Busch in unserem Garten blühte diesen Mai so intensiv wie noch nie zuvor. Offenbar hat das dauernde Zurückschneiden durch meinen Mann – nach vielen eher erfolglosen Versuchen – dieses Jahr dazu geführt, dass überall Blüten kamen und dann auch blühten. Jetzt, im August, fängt es wieder an. Es sind nur die äußersten Spitzen der Äste, die Blüten tragen; aber ich kann mich nicht erinnern, dass dieser Busch überhaupt schon einmal zwei Mal in einem Jahr Blüten trug.

Es ist eindeutig: Mein Mann hat einen grünen Daumen. Ich sollte ihm den Garten in seiner ganzen Fülle überlassen! Ob er sich an dieser Konsequenz ebenso freuen kann wie ich mich über den zweimal blühenden Busch freue – ich bezweifle es. Des einen Freud ist des anderen Leid?

Langfristig

Es ist August; ich habe Arzttermine gemacht – für nächsten Januar.

Zwei Freundinnen werden 50 und haben eingeladen – für Mai und Juni 2020.

Ich werde 50 und bin gefragt worden, wie ich denn dieses denkwürdige Datum begehen möchte – nächsten Sommer.

Die Planungen für ein Familientreffen in einem Jahr werfen schon jetzt ihre Schatten voraus – August 2020.

Könnte diese Planungswut die Ursache sein dafür, dass wir uns um Silvester immer ganz kurzfristig kümmern?

Waffenschein

In der Zeitung stand vor ein paar Tagen, die Niedersachsen würden aufrüsten und auch bundesweit gebe es einen Trend zur Bewaffnung. Es ging um Waffenscheine für alle möglichen – nicht scharfen – Waffen. Ein angenommener Grund für das verstärkte Beantragen von Waffenscheinen ist die von Menschen angestrebte Prophylaxe gegen mögliche Attacken, Terrorangriffe, Überfälle. Schreckschusspistolen sehen echten Schusswaffen wohl täuschend ähnlich, weshalb sie zur Abschreckung sehr gut geeignet sind. Aus nächster Nähe abgefeuert erschrecken sie den „Gegner“ zudem nicht nur, sondern können ihn auch verletzen.

Ich bin unsicher, ob ich mich nicht unsicher genug fühle – aber eine Bewaffnung kam mir bisher noch nicht in den Sinn. Vor allem auch, weil ich mich vor dem Gebrauch einer Schusswaffe ebenso sehr fürchte wie davor, mit einer solchen bedroht zu werden. Mich zu bewaffnen, das ist keine Sache, die ich einfach mal so mache. Wenn ich so ein Ding spontan in die Hand nehmen müsste, in einer Notsituation – ich würde wahrscheinlich auf ganzer Linie versagen. Mich intensiv damit auseinanderzusetzen und auf einen möglichen Waffengebrauch vorzubereiten – die Idee ist mir noch nicht gekommen. Ich lebe in einer Welt, in der eine Waffe nicht zu meinen Gebrauchsgegenständen gehört. Und ich werde mich gegen diese Art der Prophylaxe wehren, solange es geht.

Feiner Unterschied

Wir haben Stühle in der Küche,
die sind teilweise von IKEA
(drei Jahre alt, und wahrscheinlich sind sie nicht die letzten,
auf denen wir sitzen werden)
und teilweise von meiner Oma
(100 Jahre alt, und wahrscheinlich sind wir nicht die Letzten,
die auf ihnen sitzen werden).

Countdown verschoben

Noch zehn Wochen oder so, dann müssen wir ran. Es lässt sich nicht länger vermeiden. Eine unserer Töchter hat sich zum Tanzkurs angemeldet – inklusive Abschlussball MIT Eltern. Das kommt jetzt plötzlich: Gerade hatte ich gedacht, wir hätten noch die zwei Jahre Zeit, die der Älteste voraussichtlich bis zum Abitur mit dazugehörigem Abi-Ball braucht. (Dort könnte man sich vielleicht sogar drücken: Bei derartigen Veranstaltungen ist es ohnehin so wuselig und voll, dass entschlossenes Sitzenbleiben möglich wäre.)

Die Teilnahme an einem überschaubaren Tanzstunden-Abschlussball war bisher nicht vorgesehen, jetzt sind es nur noch zehn Wochen. Vor Schreck verschiebe ich alle nötige Vorbereitung auf später und denke: Dauert noch, darum kümmern wir uns später!

Was für ein Auto? Ein schwarzes!

Lieblingsthema meines jüngsten Sohnes: Automarken, Modell-Namen und zahlreiche aneinandergereihte Buchstaben wie S-, G- oder E-Klasse, GLE bei Mercedes, A1 bis A8, BMW X3 bis X5, mittlerweile gibt es von BMW auch noch irgendwas mit M oder 540 D und was weiß ich noch. Früher hießen die Fahrzeuge noch VW Jetta, Passat oder Golf, Renault Twingo, Citroen Picasso, 3er BMW und gut. Vielleicht noch Ente, Bulli oder Käfer – und in meinem Teil Deutschlands Trabant, Lada, Wartburg oder Skoda. Das war schnörkellos, und man kam ohne weitere (Buchstaben-)Zusätze aus. Die meisten damals gebräuchlichen Automarken konnte ich mir merken, aber die Buchstaben heutzutage werfe ich regelmäßig durcheinander. Nicht so unser Junior: Er erkennt den konkreten Autotyp im Vorbeifahren (mit allen Extra-Buchstaben); für mich muss die Modellbezeichnung deutlich sichtbar hinten drauf stehen. Wenn nicht? Unterscheide ich weiterhin nach Farben…

Pferde

Einer unserer Nachbarn ist in der Pferdebranche tätig. Zu einer jährlich stattfindenden Pferdeshow bekamen wir von ihm spontan ein paar Freikarten geschenkt – der Nachbar kennt die Leidenschaft einer meiner Töchter.

Abgesehen davon, dass es in den zwei Stunden wolkenverhangen war und unablässig nieselte, hatten wir einen tollen Nachmittag. Pferde vor Kutschen, Pferde mit Hunden, Pferde allein oder in Gruppen, würdevoll trabend oder mit donnernden Hufen an uns vorbei galoppierend – uns wurde ein abwechslungsreiches und beeindruckendes Programm geboten.

Ich bin nicht so pferdebegeistert wie meine Tochter, aber auch ich habe mich erfreut an dem sichtbar guten Zusammenspiel von Mensch und Tier, an den „edlen Rössern“ und der manchmal gedrosselten, manchmal losgelassenen Kraft dieser Geschöpfe – immer begleitet und gelenkt von Menschen, denen die Pferde wirklich am Herzen liegen. Wie viel Zeit steckt dahinter, wie viel Arbeit, wie viel Geduld und Hingabe!

Ein Gedanke durchzuckte mich: Das ist ein Kulturgut – wie Kunst, wie Malerei oder Musik. Denn es geht nicht um Nutztiere, um Fleisch, Leder oder Fell; es geht dabei um schöne Pferde, geeignet für die Zucht von schönen Pferden mit guten Anlagen – für Dressur oder Springreiten. Wie schön, in einem Land zu leben, dass sich so etwas leisten kann.

Unablässig

Unablässig, ununterbrochen, unentwegt, fortwährend, pausenlos, beständig, unausgesetzt, ohne Unterlass…

Diese Worte beschreiben das Redebedürfnis eines meiner Kinder sehr treffend. Jeder Gedanke wird artikuliert, jeder Anblick kommentiert, jede aufkommende Frage formuliert.

Es gibt Tage, an denen ich damit gut umgehen kann und mich sogar freue über das Mitteilungsbedürfnis, die Wissbegier und die Unmenge an Information, die in diesem jungen Hirn schon Platz hat. Es gibt andere Tage, an denen ich weniger auf Empfang stehe, als nötig wäre, um erfreut auf den ununterbrochenen Redestrom meines Kindes zu reagieren. Heute ist ein Tag, an dem ich unablässig üben kann, geduldig und freundlich zu bleiben.