Rente

Je älter man wird, umso mehr rücken vormals in ferner Zukunft liegende Ereignisse in greifbare Nähe: Erst schreckte mich meine Rente, weil sie nach „alt“ klang; dann kam die Zeit, in der meine Rente mich nicht interessierte, weil sie nach „sehr wenig“ klang. Kürzlich las ich von der Respektrente – das Wort ist „jung“ und hört sich irgendwie „nach mehr“ an.

Gute Gespräche

Ich kenne Menschen, die eher schweigen als reden. Sie überlegen lange und ausgiebig – und sagen am Ende gar nichts. Entweder fehlt ihnen die Lust oder die Lücke, weil ständig „wer anders“ spricht. Vielredner gibt es nämlich auch, und die beanspruchen von den begrenzten Kommunikations-Gelegenheiten doch ein großes Stück: „Überlegte Schweiger“ ziehen sich dann lieber zurück in die Rolle des Zuhörers.

Letztens in einer Predigt hörte ich die Bezeichnung „gedankenloser Schwätzer“, was ja eher das andere Ende des Spektrums illustriert. Irgendwie fühlte ich mich angesprochen. Zwar will ich kein solcher Mensch sein, aber ich spürte: Von außen betrachtet (und aus Sicht eines „überlegten Schweigers“) könnte man mich so wahrnehmen. Ich rede manchmal, bevor ich nachdenke – oder währenddessen. Nicht immer ist das eine schlaue Idee, aber es ist auch nicht per se schlecht. Hinsichtlich der Kommunikation bin ich kein ausgesprochen durchstrukturierter, überlegter und bedachter Typ Mensch. Stattdessen bin ich spontan und impulsiv: Vorhandene Gedanken werde zu Worten; weitere Gedanken strömen unablässig nach. Nicht immer ist es gut, umgehend zu formulieren; aber langes Abwägen und Überlegen kann doch auch nicht immer die einzige und beste Lösung sein.

Beides – „gedankenloses Schwätzen“ und „überlegtes Schweigen“ – hat Vor- und Nachteile. Wahrscheinlich findet ein „gutes Gespräch“ irgendwo dazwischen statt. Wie immer.

Rückmeldung

Ein Freund gibt positive Rückmeldung – er nimmt Anteil, ist interessiert, ermutigt, tröstet und versteht.
Ohne diese Rückmeldung fühle ich mich nicht liebenswert oder wertgeschätzt.

Ein Freund gibt kritische Rückmeldung – er darf und wird korrigieren.
Ohne diese Rückmeldung benehme ich mich schnell daneben.

Ohne Freunde fehlt mir etwas.

Ansteckend

Nicht nur Kinderkrankheiten sind ansteckend; und nicht nur kleine Kinder können sich anstecken. Neben Masern, Mumps und Röteln kann ich mich auch starken Stimmungen nur schwer entziehen: Fröhlichkeit oder Trauer, Aggression oder Sanftmut, Schwung oder Phlegma – alle reißen mich auf ihre Art mit. Großzügigkeit oder Neid färben auf meine Freigiebigkeit ab. Die Gemeinschaft mit mutigen Menschen lässt mich über meinen Schatten springen; gegen um sich greifende Ängstlichkeit muss ich mich aktiv wehren. Besonders ansteckungsgefährdet bin ich sicherlich, wenn mein Immunsystem nicht auf der Höhe arbeitet: Wenn ich unsicher bin, emotional nicht gut aufgestellt oder einfach nur müde, ist eine Beeinflussung von außen wahrscheinlicher.

Aber kann und will ich mich überhaupt impfen gegen das, was in meiner Umgebung los ist? Nicht in jeder Hinsicht und nicht immerzu. Denn: Geimpfte Menschen lassen sich nicht anstecken, respektive mitreißen oder überzeugen. Sie bleiben immer irgendwie unbeeindruckt und nicht betroffen. Ich empfinde solche Menschen leicht als reserviert, sie wirken auf mich tendenziell vorwurfsvoll, bremsend, vor allem aber unnahbar. Für zwischenmenschliche Nähe brauche ich Empathie – und werde durch sie verletzlich und ansteckbar. Auch ich habe klare und begründete Überzeugungen. Sie sind gut und wichtig, denn sie schützen mich gegen willkürliche Moden, unberechtigte Kritik und gefährliche Manipulation. Wenn es aber um weniger existenzielle Dinge geht, darf ich ruhig ein bisschen empfänglich sein und mich anstecken lassen.

Sitzschuhe

Es gibt Schuhe, die sind zwar ausgesprochen schön, aber so unbequem, dass man in ihnen – wie der Name schon sagt – nur sitzen kann.

Es gibt Frauen, die Sitzschuhe für berechtigt oder sogar für wichtig halten. Das ist in Ordnung. Meiner Meinung nach sind Sitzschuhe der unfass- und dennoch greifbare Sieg der Oberflächlichkeit über die Wahrheit – und daher völlig überflüssig. In dieser Frage verweigere ich mich dem Diktat der Mode. Das ist möglich, weil ich vorrangig in Kreisen verkehre, in denen es nicht so stark auf die passenden Schuhe ankommt.

In bestimmten Grenzen beuge auch ich mich dem, was gerade angesagt ist – manchmal ohne es zu merken. Sitzschuhe gehören nicht dazu.

Auf Augenhöhe

Um meinen Kindern gerade in die Augen schauen zu können, musste ich mich einige Jahre zu ihnen hinab beugen. Mittlerweile muss ich ich mich bei den meisten von ihnen strecken – oder sie beugen sich zu mir hinab. Auf jeden Fall muss einer von uns sich bewegen.

Ein Freund von mir ist Professor, ich kenne ihn schon sehr lange. Er ist nicht nur auf seinem Fachgebiet sehr schlau – das sollte ein Professor ohnehin sein. Er ist zudem neugierig, interessiert und intellektuell beweglich, geistig wach.

Ich halte mich selbst nicht für dumm, spiele vom Verstand her allerdings in einer anderen Liga: Neugierig und interessiert bin ich auch; die intellektuelle Beweglichkeit und geistige Aufnahmekapazität meines Hirns sind bei mir jedoch klarer und enger begrenzt als bei diesem Mann. Für unsere Freundschaft hatte dieser Unterschied nie eine Bedeutung – wir waren und sind als Menschen trotzdem auf Augenhöhe. Ich muss mich dafür weder strecken noch beugen. Dass das möglich ist, liegt mehr an ihm als an mir.

Nur eine Begegnung?

In Begegnungen mit Menschen verhalte ich mich nicht immer ganz genau gleich: Mein ICH hat Facetten. Welche besonders sichtbar wird, hängt auch von meinem Gegenüber ab: Ich offenbare immer nur einen Teil von mir – zum großen Teil unbewusst. Ich bin immer dieselbe – und doch irgendwie nicht. Dadurch schätzen Menschen sehr unterschiedlich ein, wie ich bin.

Außerdem lebt jede Begegnung zwischen zwei Menschen von einer Mischung aus Sendung und Reaktion – nur im Idealfall zu gleichen Teilen. Je nachdem, mit wem ich es zu tun habe, bringe ich viel von mir ein oder reagiere stark auf den anderen. Ich-Stärke wirkt inspirierend auf andere; Empathie macht mich zu einem nahbaren Menschen.

Durch die Begegnung mit Menschen werde ich verändert – positiv oder negativ, kurzfristig oder nachhaltig: Gute Laune kann ebenso ansteckend sein wie Traurigkeit; ein ernsthafter Gedankenimpuls mein ganzes Weltbild ins Wanken bringen. Die Summe aller Begegnungen prägt, schleift und verändert mich.

Gute Geister für mich

Es gibt ein Buch, dessen englischer Titel „Help“ ins Deutsche mit „Gute Geister“ übersetzt wurde. Darin geht es um schwarze Kindermädchen in den amerikanischen Südstaaten, die noch in den 60er Jahren in den Haushalten ihrer weißen Mitbürger angestellt waren. Wie „gute Geister“ griffen sie weißen Frauen (allerdings nicht ganz freiwillig) bei Aufgaben unter die Arme, zu denen diese keine Lust – beziehungsweise für die diese kein Händchen – hatten: kleine weiße Kinder großziehen (und sie prägen), Tafelsilber polieren, Essen kochen, Wäsche waschen.

Beim Lesen dachte ich, dass ich eine solche Hilfe nicht wunderbar gefunden hätte.

Dieses Jahr gibt es in meinem Leben „gute Geister“, die mir unerwartet (allerdings sehr freiwillig) bei Aufgaben unter die Arme greifen, zu denen ich keine Lust – beziehungsweise für die ich kein Händchen – habe: Zwei adventliche Blumensträuße schmücken seit einigen Tagen mein bis dato nur spärlich dekoriertes Haus.

Ich bin dankbar, weil genau solch eine Hilfe wunderbar für mich ist!

Nicht schadenfroh, nur wissend

Ganz in der Nähe des Hofladens, in dem ich häufig Eier kaufe, befindet sich ein Garten. Dort wohnen vier bis sieben Gänse. Noch(!) watscheln sie gelassen und fidel über die Wiese, die Kälte scheint ihnen nichts auszumachen. Jedesmal wenn ich frierend mit dem Rad an ihnen vorbeifahre, denke ich sehnsüchtig an eine Daunenjacke – vielleicht sollte ich mir doch eine zulegen? Dennoch beneide ich die Gänse nicht: Ich ahne, dass ihnen in Kürze keine ihrer Daunenfedern etwas nützen wird: In drei Wochen ist Weihnachten!

Wann ist ein Brief ein Brief?

Ich habe einen Brief geschrieben, an einen alten Freund. Während ich schrieb, hatte ich diesen Freund vor Augen und im Sinn und wählte meine Ausdrucksweise so, dass sie passte – zu unserer gemeinsamen Vergangenheit, zu unseren Erinnerungen, zu unserem heutigen Miteinander.

Der Inhalt war austauschbar, der Stil nicht: Für niemanden sonst als diesen Freund formulierte ich in dieser speziellen Form und wählte die Themen aus. Niemand sonst als dieser Freund wird meinen Brief so verstehen wie er und beim Lesen dieses ganz spezielle Bild von mir vor Augen haben. Vielleicht wird ein Text nicht durchs Schreiben ein Brief, sondern erst durchs Lesen.