Ein Experiment

Wir halten uns an Vorschriften,
(1) weil sie uns einleuchten,
(2) weil sonst die Solidargemeinschaft nicht funktioniert oder
(3) weil wir sonst bestraft werden.
Bei (1) und (2) fällt uns Gehorsam leichter als bei (3). Trotzdem haben wir in allen drei Fällen die Freiheit, uns daneben zu benehmen: Nur in Armeen gelten andere übergeordnete Regeln, in Diktaturen sowieso. In einer Demokratie dagegen kann ich mich gegen eine Vorschrift entscheiden, ohne gefährliche Konsequenzen fürchten zu müssen.

Die momentan geltende Maskenpflicht im Öffentlichen Verkehr ist eine Vorschrift, die mich zu vorsichtigem Ungehorsam motiviert: (1) Sie leuchtet mir nicht ein; und in Markus Söder erlebe ich inzwischen einen hochrangigen Politiker, dem es ähnlich geht. (2) Meiner Meinung nach leidet das Soziale Miteinander eher unter den Masken, als von ihnen zu profitieren. (3) Die Strafe fürchte ich weniger um ihrer selbst willen; ich fühle mich in der Illegalität einfach überhaupt nicht wohl.

Dennoch entschied ich mich auf meiner letzten Bahnreise zu einem Experiment. Vier aufeinanderfolgende Zugfahrten lagen vor mir: 
In den ersten stieg ich ohne Maske – und setzte sie auf, als mich die Schaffnerin nach etwa zweieinhalb Minuten darum bat.
Im zweiten Zug kontrollierte mich ein bärtiger Schaffner (mit Maske), den ich freundlich anlächelte und ohne Maske sitzen blieb.
Auf dem Bahnsteig vor Zug 3 kam ich mit einer sympathischen jungen Frau ins Gespräch; wir suchten uns gemeinsam einen Platz. Anderthalb Stunden lang sprachen wir miteinander: sie mit, ich ohne Maske. Auf das Gespräch musste ich mich sehr konzentrieren – durch die Maske war mein Gegenüber schwer zu verstehen. Wenn die junge Frau etwas trank, war ich jedesmal überrascht, wie sie aussah und was ich alles in ihrem Gesicht lesen konnte. In diesen wenigen Momenten beneidete ich sie: Sie hatte es mit meinem unverhüllten Gesicht leichter.
In Zug vier saß ich wieder allein. Ich hörte die Durchsage, während der gesamten Bahnfahrt eine Maske über Mund und Nase zu tragen, aß erstmal einen Keks und trank den Rest meines Wassers. Die Weiterfahrt verlief ohne Kontrolle oder andere Zwischenfälle – und für mich ohne Maske.

Keiner der Züge war gerammelt voll, wir drängten uns nicht `auf engstem Raum´. Dennoch war ich (wie erwartet) während meines Experimentes angespannt, weil ich mich außerhalb der bestehenden Regeln befand. Gleichzeitig ging es mir gut: Ich war nah dran an an dem, wovon ich überzeugt bin – sozusagen mit mir selbst im Reinen.

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