Ein Eichenleben

In unserer Nachbarschaft gab es ein Grundstück mit Haus und viel Wald. Dieses Waldstück war eine Selbstverständlichkeit und wurde wenig beachtet. Vor einigen Jahren dann wurden aus dem einen Grundstück zwei gemacht, ein weiteres Haus gebaut und viel Wald gefällt: Alle Kiefern und sonstigen Nadelbäume mussten weichen, alle Eichen blieben stehen. Im Nachhinein war es schade um den Wald, aber die Eichen bekamen mehr Aufmerksamkeit: „Was für schöne alte Bäume.“ Eine dieser – nun solitär stehenden – Eichen fiel besonders auf: Sie hatte über die nächsten drei Jahre deutlich weniger Blätter (und diese deutlich heller grün) als die anderen verbliebenen Eichen. Das löste spekulative Gedanken aus: „Was die Eiche wohl hat? Ob sie sich nochmal erholt?“ Der neue Besitzer wartete drei Jahre ab, dann ließ er die Eiche fällen. Ein zwei Meter hoher Stamm blieb stehen. Dieser Stamm fiel mehr ins Auge als die anderen kompletten Eichen. Weitere spekulative Gedanken: „Was damit wohl passiert?“

Vor zwei Wochen ist ein Mann mit drei oder vier verschiedenen Motorsägen aufgetaucht und sägte, schliff und lärmte sich durch den Tag. Am Anfang sah ziemlich grob aus, was er machte. Im Laufe der Stunden wurden die Sägen kleiner und die Schnitte filigraner; nur der Lärm blieb derselbe und der Staub.

Leider habe ich nicht daran gedacht, ein Vorher-Foto zu machen. Jetzt gibt es nur noch das Nachher: Aus der Eiche ist eine Eule geworden. Spaziergänger bleiben stehen und bewundern die Eule und wie schön sie dahin passt. Eins ist klar: Posthum sorgt die Eiche (als Eule) für mehr Gesprächsstoff, als die Eiche es (als Eiche) in ihrem ganzen Leben je getan hat!

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