Das Leben ist kurz

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn´s hoch kommt, so sind´s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“
Psalm 90, 10

Je länger ich lebe, umso öfter denke ich, wie kurz das Leben ist und wie schnell die Zeit vergeht. Sie vergeht natürlich nicht schneller als früher, es kommt mir nur so vor – das ist mir schon klar. Ich nehme den Zeitverlauf bewusster wahr, weil ich anders beobachte als früher.

Kleine Kinder lernen andauernd etwas: Sie lernen sprechen und laufen, werden trocken, lernen Fahrrad fahren und schwimmen, kommen in den Kindergarten und später in die Schule. Der Alltag mit ihnen ist bestimmt von immer wiederkehrenden Aufgaben – tage-, wochen-, monatelang. Jeder Entwicklungsschritt ist ein willkommener Erfolg: Keine Windeln mehr, keine Brote mehr schmieren usw. Und natürlich verändern kleine Kinder sich optisch und wachsen schnell. Weil ich aber als Mutter kleiner Kinder so eingespannt war, nahm ich diese Veränderungen oft vor allem im Nachhinein wahr – beispielsweise durch das seltene Anschauen von Fotos.

Seit einigen Jahren schon beherrschen alle unsere Kinder weniger meinen gesamten Alltag als vielmehr grundsätzliche Lebensfertigkeiten. Bald werden alle auf dieselbe Schule gehen. Mein Leben ist weniger voll, ich habe mehr Gelegenheit zum Innehalten. Und so registriere ich bewusst, wie meine Kinder älter, größer und reflektierter werden und immer mehr auf meine Augenhöhe kommen.

Ich sehe, wo die vergangenen 15 Jahre geblieben sind – aber nicht nur in den Kindern: Auch meine eigene Belastbarkeit empfand ich früher als gleichförmig stabil und stark. Dem ist seit einigen Jahren nicht mehr so, heute spüre ich eher meinen eigenen körperlichen Verfall. Es stimmt, wenn der Prediger über das Leben sagt „… es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ Also will ich im Verfliegen der Zeit die Ruhe bewahren und einzelne Momente, Stunden, Tage und Lebensphasen bewusst erleben, genießen und gestalten. Ich fliege nicht mit, ich halte inne im Jetzt.

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