Im Ernst?

„Wir haben Angst davor, im Alter zu verarmen“, lautet die Überschrift eines Artikels in einer Sonntagszeitung. Es ist ein realistisches Szenario: Altersarmut in Deutschland. Obwohl es mich (vielleicht noch) nicht betrifft, lese ich weiter – und bin erschüttert. Das Ehepaar, um das es geht, steht kurz vor der Rente. Beide verdienen gut bis sehr gut; sie rechnen mit einer gemeinsamen Rente von 4.000 Euro. Das Haus, in dem sie wohnen, ist abbezahlt und etwa 700.000 Euro wert, außerdem haben sie ein Vermögen von über 400.000 Euro in Aktien.

Ich kann die Überschrift nicht in Einklang bringen mit dem, was ich im Artikel selbst lese: Wo genau hat sich die drohende Altersarmut versteckt? Die Krux scheint in dem zu liegen, was sie monatlich benötigen, nämlich etwa 5.000 Euro – allein 3.000 davon für Haushalt, Essen und Essengehen, dazu kommen Reisen und Geschenke für Freunde …

Fast ist es mir peinlich, den Artikel zu Ende zu lesen; leider beschäftigt er mich hinterher noch über Gebühr.

Offenbar verstehe ich unter Verarmung etwas anderes als die beiden.
Zudem frage ich mich, wie zwei erwachsene, nicht pflegebedürftige Menschen monatlich so viel Geld ausgeben können.
Und wieso wollen die beiden unbedingt über ihre Verhältnisse leben, obwohl sie Angst vor Armut haben. Es wäre doch möglich, den Lebensstandard an das anzupassen, was geht: also zu verzichten – obwohl ich auch damit etwas anderes verbinde.

Wäre ich Chefredakteur, hätte ich den Artikel verhindert. Er ist eine verbale, aber nicht minder schmerzende Ohrfeige für all diejenigen, die wirklich Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen.

Vorräte: Geld ausgeben oder sparen

Wo ich aufwuchs, gab es alles, was wir brauchten – und die Extras eher erratisch: Bananen sind das typische Beispiel, aber auch Orangen oder Weintrauben waren Mangelware. Wurden doch welche angeboten, versuchte man, auf Vorrat zu kaufen. Der Preis war Nebensache.

Heutzutage gibt es noch immer alles, was wir brauchen – inklusive aller vorstellbaren Extras. Manchmal heißt es, man solle sich bevorraten: nämlich in großen Mengen kaufen, was gerade im Angebot ist. Der Preis ist die Hauptsache.

Sooo unzufrieden – sooo schade!

`Mein´ Supermarkt ist nach dem Verschönerungs-Umbau wieder geöffnet. Die Umstrukturierung hat mehr Weite geschaffen, was mir gefällt – obwohl ich kaum noch etwas auf Anhieb finde. Den Verkäuferinnen geht es zum Teil ebenso, aber sie suchen dann eben mit mir zusammen. Am Samstagmorgen treffe ich eine Bekannte. Sie sieht unzufrieden aus und schimpft: was sie alles nicht findet, was offenbar alles nicht mehr im Sortiment ist und dass ihr Lieblingssupermarkt sowieso drei Orte weiter liegt … „Dafür ist dieser hier in Fahrradentfernung“, sage ich und dass wir uns sicher schnell an die neue Sortierung gewöhnen werden. Widerwillig gibt sie mir recht – zufriedener sieht sie deswegen nicht aus. 

Ich finde das so schade! Da hat man einen Supermarkt vor der Haustür, in dem es so ziemlich alles gibt, was man so brauchen kann: wahrscheinlich 35 Joghurt-Sorten; Brot, frisch oder abgepackt, Gemüse, Käse, Wurst, Fleisch, Tiefkühl-Zeug … Hunde- und Katzenfutter, Putzmittel, Hygiene-Artikel … eine Ecke für frisch gemahlenen Kaffee, Wein und Co. … Und doch reicht das alles nicht. Es ist zwar ganz viel da, aber es fehlen ein paar spezielle Artikel – und das verhagelt ihr den Samstagmorgen.

Ein Lächeln macht den Unterschied

Auf einem Termin treffen ich einen Kollegen von der Konkurrenz. Da ich neu im Geschäft bin, kennen wir uns nicht persönlich; sicher hat er aber schon ebenso von mir gehört wie ich von ihm. Begegnungen mit anderen aus seiner Branche verliefen oft unpersönlich und distanziert. Entsprechend bin ich ein bisschen vorsichtig – und unsicher. Wir sitzen zwar neben-, reden aber nicht miteinander, sondern hören zu und stellen Fragen. Irgendwann im Verlauf der nächsten halben Stunde lächelt er mich an. Das ändert alles: Ich fühle mich gesehen, ernst genommen und wohl.

Im Supermarkt suche ich Palmherzen. Weil ich sie nicht finde, spreche ich zwei Mitarbeiterinnen an, die im Gang stehen. Eine von ihnen schaut mit mir zusammen bei den Konserven – erfolglos. Von der anderen erwarte ich keine Hilfe. Zum einen ist sie normalerweise nicht zugänglich und immer sehr ernst; zum anderen sieht sie aus, als hätte sie schon Feierabend. Überraschenderweise trottet sie uns hinterher und schlägt dann vor, in einem anderen Regal nachzuschauen. Dort sind Artischocken-Herzen – und ich will mich schon freuen. „Das ist, glaube ich, nicht dasselbe“, sagt sie, holt ihr Handy raus und `fragt´ Google. Eine Minute später wissen wir, dass sie recht hat. „Dann haben wir wohl wirklich keine Palmherzen“, sagt sie bedauernd und lächelt mich an. Das ändert alles: Ich fühle mich gesehen, ernst genommen und wohl.

Zeitlos schön

Mir begegnet eine ältere Dame. Sie sieht aus, als wäre sie dem letzten Jahrhundert entsprungen: mit Hut und Lodenmantel, Spazierstock und Schuhen, die (Entschuldigung) typisch aussehen für Frauen jenseits der 75: unbequem und altmodisch, aber in ihren Augen sicherlich stilvoll.

Als diese Frau jung war, kleidete sie sich wahrscheinlich anders. Was würde wohl ihr 20-jähriges Alter Ego zu dem heutigen Outfit sagen? Auch ich werde mit 70+ nicht mehr dasselbe schön finden und anziehen, was mir heute gefällt. Kleidung ist Moden und Trends unterworfen; außerdem ändert sich der persönliche Geschmack im Laufe des Lebens.

Die Schönheit anderer Dinge ist weniger vergänglich. Mein Schlüsselanhänger zum Beispiel ist über 30 Jahre alt, ein geschätztes Überbleibsel aus meiner Studienzeit in Freising. Als vor einigen Jahren das Band zerschlissen war, fand mein Lieblingsschuster eine stabile Lösung – kostenlos. Der Anhänger ist sowohl groß als auch klein genug und noch immer genau mein Geschmack: zeitlos schön halt.

Keine Chance? Früher anfangen!

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“
Sacharja 4, 6

Sein Sohn fordere Taschengeld ein, halte sich nicht an Absprachen und tue Dinge einfach nicht, erzählt mir ein flüchtiger Bekannter, den ich beim Spazierengehen treffe. Schuld sind aus seiner Sicht die Umstände: Schon die Kleinsten wüssten heutzutage, welche Rechte sie hätten, sagt er: „Was kannst du als Eltern noch erziehen? Die Kinder lassen sich doch von uns schon im Kindergartenalter nichts mehr sagen!“ Er klingt resigniert. So habe ich das nicht erlebt, aber unsere Kinder waren auch immer nur ein paar Stunden fremdbetreut. Die letzte Autorität damals waren wir: Wir haben geprägt, erzählt, diskutiert, Werte vermittelt, Grenzen gesetzt, Konsequenzen folgen lassen … was man so macht eben.

All das war wichtig, denn ein paar Jahre später ist es anders. Bei Teenagern können wir als Eltern tatsächlich weniger ausrichten; sie wollen und müssen sich abgrenzen (dürfen). In der Pubertät prallen unsere Argumente ab, treffen unsere gut(gemeint)en Ratschläge auf taube Ohren, wirken unsere Prinzipien nicht überzeugend, sind unsere Interessen nicht ansteckend, pellen die geliebten `Kleinen´ sich ein Ei auf unsere Bedenken … In dieser Lebensphase müssen sie ihren eigenen Stil finden, ihre eigenen Erfahrungen machen, ihre eigenen Grenzen kennenlernen (und überschreiten), auf ihre eigene Nase fallen – und ihre eigenen Erfolge feiern. Wir können sie liebhaben, nachfragen (in Maßen), ermutigen und für sie beten. Wie sie dann ihr Leben gestalten, liegt nicht in unserer Hand: Gott sei Dank!

Oh Mann!

Ich begleite meine Tochter zu einem Seminartag fern der Heimat. Während sie sitzt und zuhört (oder so), beantworte ich Mails, schreibe Texte und gehe spazieren (und so). Die Gegend ist schön; wir sind im Bergischen.

Aus Celle bin ich ähnlich plattes Land gewohnt wie die Ostfriesen. Hier dagegen geht es munter hoch und runter – zum Wandern schön, beim Radfahren und Laufen sicherlich herausfordernd bis nervig. „Nimm deine Wanderschuhe mit“, hatte mein Mann mir vorher geraten. Da ich inzwischen meistens auf ihn höre, bin ich bestens gerüstet.

Als ich mich das zweite Mal auf den Weg mache, biege ich gleich am Anfang anders ab, ohne es zu merken. Nach einer Weile erscheint mir alles fremd und neu, was nicht verwundert. Irgendwann finde ich den alten Weg wieder – und biege später noch einmal anders ab … Ich will nicht behaupten, dass ich die Gegend dadurch besser kennenlerne; aber anschließend wirkt die vierstündige Rückfahrt wie eine schöne (und gemütliche) Perspektive.

Wie gewohnt

Einer unserer Supermärkte schließt von Samstagmittag bis einschließlich Mittwoch – es wird umgebaut. Entsprechend sind am Samstagmorgen die Regale nicht mehr wie gewohnt vollständig gefüllt. Dafür bekommt man Produkte aus der SB-Kühltheke zum halben Preis. Es herrscht schon jetzt eine gewisse Hektik, die Verkäufer wirken leicht gestresst. Denn das Abbauen und Verrücken der Regale hat an einigen Stellen bereits begonnen. Ab heute Mittag werden die Mitarbeiter ausräumen, umbauen, neu installieren und am Ende wieder einräumen, was das Zeug hält. Mindestens einer muss den Überblick behalten, damit am Donnerstag alles wieder zu finden ist – wie gewohnt kundenfreundlich hübsch drapiert.

„Hier bekommen wir heute nicht mehr alles, was wir suchen“, raunt eine Bekannte mir enttäuscht zu. Ich erinnere sie daran, dass wir in unmittelbarer Nähe, nämlich weniger als einen halben Kilometer entfernt, ZWEI weitere Supermärkte haben. „Ja, das stimmt“, sagt sie und klingt ergeben in ihr Schicksal: Manches gibt es eben nur hier genauso, wie wir es gewohnt sind.

Die Schließung wirft ihre Schatten voraus und an den Kassen drängen sich ein paar mehr Kunden als an einem gewöhnlichen Samstagmorgen. Uns nähert sich ein Bewohner einer in der Nähe befindlichen Behinderteneinrichtung. Er spricht `meine Kassiererin´ an – ohne höfliche Zurückhaltung, sprich: ohne abzuwarten, dass sie fertig abkassiert hat. Die Kassiererin bleibt freundlicherweise freundlich und hört ihm zu, ein Kunde in der Schlange nicht. „Hey“, ruft er ungeduldig, „die Frau kassiert doch gerade.“ Allerdings scheint es ihm weniger um die Frau an der Kasse zu gehen als darum, dass seine Wartezeit sich verlängern könnte.

Nachdenklich fahre ich nach Hause. Normalerweise macht man etwas neu oder baut um, damit es hinterher schöner ist als vorher. In diesem Fall sind wir als Kunden die Zielgruppe dieser Verschönerungsmaßnahme. Einige von uns waren heute Morgen weder voller Vorfreude noch verständnisvoll, sondern einfach nur genervt: Weil es kurzzeitig mal nicht so läuft wie gewohnt. 

Keine Zeit?

„Dafür habe ich keine Zeit“, sagt eine Freundin: Sie komme einfach nicht dazu, sich die Hände einzucremen. Auch ich creme mir nicht oft die Hände ein, aber es liegt nicht an der fehlenden Zeit – die hätte ich. Ich putze mir schließlich auch dreimal am Tag die Zähne (vielleicht etwas übertrieben), treibe regelmäßig Sport (völlig freiwillig), schreibe Briefe an meine Kinder (anrufen ginge schneller), gehe spazieren, lese heute Nachrichten (die morgen schon wieder von gestern sind) … – und tue noch viel unnötigeren Kram.

Wenn man´s genau nimmt, hat jeder von uns `alle Zeit der Welt´. Es ist nur die Frage, wofür wir sie nutzen. Ich jedenfalls nehme mir ab und zu Zeit, meine Hände einzucremen.

Ganz ehrlich? Interessiert mich nicht!

„Ich weiß nicht, wie Kamala Harris aussieht“, sagt sie, „und es ist mir auch egal.“ Eine junge Frau, die sich nicht für Politik interessiert – und noch weniger für die amerikanische: Das kommt wahrscheinlich nicht so selten vor, nur geben die wenigsten das offen zu. Aus gutem Grund: Mit dieser Art von Ehrlichkeit macht man sich angreifbar. Von ihren Freunden wird die junge Frau dafür belächelt oder sogar mit verständnislosem Kopfschütteln bedacht.  „Aber wieso sollte ich wissen müssen, wie Kamala Harris aussieht?“, fragt sie sich, „Wäre es nicht wichtiger, zu wissen, welche Politik sie macht?“ Damit hat sie recht: Wer Kamala Harris erkennen würde, aber keine Ahnung hat, welche Positionen sie vertritt – weiß letztlich auch nicht wirklich etwas.

Die junge Frau, von der ich spreche, will nicht nach Amerika auswandern oder auch nur eine Weile dort leben. Sie will nicht Politik studieren oder sonst etwas. Denn Politik interessiert sie nur sehr, sehr begrenzt. Angesichts der Reaktionen in ihrem Umfeld fragt sie sich: Darf ich das? Die Antworten darauf sind wahrscheinlich so unterschiedlich wie das Interesse für Politik selbst.

Eins ist für mich klar: Die ehrlich zugegebene Ignoranz hinsichtlich politischer Fragen ist nicht alles, was sich über diese junge Frau sagen lässt. Bittet man sie um Hilfe, lässt sie einen nicht im Regen stehen – oder hat auf halber Strecke etwas Besseres zu tun. Sie ist humorvoll und freundlich, begegnet älteren Menschen respektvoll und wertschätzend und kümmert sich gern und zuverlässig um ihr anvertraute Kinder. Praktische Aufgaben erledigt sie gründlich und scheut sich nicht, ihre Finger schmutzig zu machen. Sie ist grundsätzlich ehrlich und an Menschen interessiert. Als Freundin fragt sie nach, hört zu und hält sich mit Urteilen zurück; sie ist verschwiegen, einfühlsam und noch viel mehr.

Im täglichen Miteinander spielt das Interesse für Politik eher auf den hinteren Rängen. Finde ich – und bin dabei ganz voreingenommen. Denn zwar weiß ich, wie Kamala Harris aussieht (und dass sie die Wahl verloren hat), aber sonst? Die richtige Zuordnung – Demokraten oder Republikaner – fällt auch mir schwer. Wofür sie sich stark machen? Meine Antwort wäre spärlich und überlagert davon, wie peinlich mir Donald Trump als `wichtigster Mann der Welt´ ist. Ganz ehrlich: Ich interessiere mich eben auch nur sehr begrenzt für Politik!