Der erste Schnee!

Es schneit und taut aber fast gleichzeitig. Kleine, nasse Flöckchen fallen zu Boden und verwandeln Straßen und vor allem Radwege in matschige Rutschbahnen. Ich habe keine Lust auf diese Art von Winter und begebe mich vorsichtig auf den Weg nach Hause. Es ist nass-kalt, aber meine Jacke ist warm; außerdem radele ich mich warm. Nach zehn Minuten macht mir das Wetter nichts mehr aus – im Gegenteil: Ich freue mich darüber, in der frischen, feuchten Luft unterwegs zu sein. Noch etwas später begegnen mir zwei Mütter mit vier Kindern und zwei Schlitten. „Schön, jemanden zu sehen, der sich über den Schnee freut“, rufe ich den beiden Frauen zu. „Wir müssen uns aber beeilen“, antwortet eine, „es ist ja gleich wieder vorbei.“

Der erste Schnee diesen Winter ist vielleicht der erste Schnee, den zwei der Kinder in ihrem Leben bewusst wahrnehmen. Es kann eine positive Erfahrung werden – egal, wie nass die sechs am Ende ihres Ausflugs sein werden. Entscheidend sind die Mütter: dass sie sich die Mühe machen, überhaupt rauszugehen, und wie fröhlich und staunend sie selbst mit der vergänglichen `weiß-grauen Pracht´ umgehen.

Der Mond ist aufgegangen

Eine Bekannte von mir stellt Schülern ein Rätsel. Für sie unerwartet kennt keiner der jungen Menschen den Entertainer Günther Jauch. „Die sind doch gar nicht so viel jünger als ich“, wundert sie sich. Mich überrascht diese Bildungslücke nicht – schließlich wandelt sich das Unterhaltungsangebot in einem rasanten Tempo und sind Stars von heute schon morgen buchstäblich wieder vorgestrig. Die Medien- und Erfahrungswelten der Generationen überlappen immer weniger.

In meiner Jugend, trafen sich Großeltern, Eltern und Kinder zum gemeinsamen Fernsehabend: Alle kannten oder wussten von Serien wie Denver Clan, Dallas oder Magnum beziehungsweise Samstagabend-Shows wie Einer wird gewinnen mit Hans-Joachim Kulenkampff, Dalli Dalli von Hans Rosenthal, Wetten, dass …? unter wechselnder Moderation … und eben auch Günther Jauchs Wer wird Millionär?

Heutzutage schauen Eltern mit ihren Sprösslingen gemeinsam Kinderfilme, bis die Kleinen alt genug sind, allein vor dem Bildschirm zu sitzen. Von da an interessieren diese sich für ständig neue Videos oder Serien, die in unfassbarer Geschwindigkeit am Medienhimmel auftauchen. Viele von ihnen sind für den Geschmack der Eltern zu hektisch, zu lang und zu laut (und irgendwie alle gleich). Ebenso schnell wandelt sich die Musik, die man so hört. Selbst jahrhundertealte Volks- und Kirchenlieder verschwinden innerhalb einer einzigen Generation unaufhaltsam und vielleicht unwiderruflich.

Ich beobachte diese Entwicklung ein wenig wie von der Seitenlinie – und finde sie in manchen Fällen sehr bedauerlich. Natürlich muss man Günther Jauch und Kollegen nicht kennen, um gut durchs Leben zu kommen. Um `Der Mond ist aufgegangen´ tut es mir erheblich mehr leid …

Auf ein Neues

Als ich vor einem Jahr neu in einem Büro anfing, reagierte mein Rücken mit einem Hexenschuss. Offenbar muss ich mich an stundenlanges Sitzen erst gewöhnen, dachte ich. Nachdem sich die Muskeln wieder entspannt hatten, kam ich beschwerdefrei durch die folgenden Monate.

Dieses Jahr geht es genauso los – neuer Job, neues Büro, neuer Hexenschuss. Meine neue Chefin reagiert mitfühlend und erzählt, dass sie jeden Morgen eine Viertelstunde Gymnastik macht. „Ich auch“, erwidere ich müde und schmerzgeplagt. Offenbar reicht das nicht, denke ich – genau wie letztes Jahr.

Eine Kollegin hört uns zu und lächelt: „Ich mache keine Gymnastik und bin“, sie bewegt sich grazil hin und her, „beweglich wie eine junge Gazelle!“ Schön für dich, denke ich, will aber nicht neidisch sein. Ich weiß, es ist eine Frage der Zeit. Bald werde ich mich wieder so frei wie sie in alle Richtungen beugen und drehen können. Bis dahin ist die Wärmflasche mein liebster Begleiter. Ich werde, wenn möglich, zwischen Sitzen und Stehen wechseln und insgesamt vorsichtiger sein. Immerhin kann ich noch Rad fahren, darüber freue ich mich – genau wie letztes Jahr.

Schule der Gladiatoren

Eine junge Familie ist in unsere Nachbarschaft gezogen. Der Mann war früher Lehrer, arbeitet jetzt aber als IT-Experte. Es interessiert mich, wieso er ausgestiegen ist. Mit dem Lehrersein an sich habe dies nichts zu tun, versichert er mir. Aber alle wollten mitreden: Eltern, die Schüler selbst, Bekannte, die selbst noch nie vor einer Klasse gestanden haben. Außerdem habe es wenig Respekt gegeben den Lehrern gegenüber und keine Möglichkeit, darauf zu reagieren: „Schule ist, als würde man wie ein Gladiator in die Arena geschickt – nur ohne Waffen und ohne Rüstung. Und was macht man dann? Sterben.“

Nicht jeder Lehrer empfindet es wohl ebenso, einige vielleicht doch. Das ist schade. Mir tut es leid um jeden, der gern unterrichten würde und es aber wegen der schwierigen Bedingungen doch nicht tut – verständlicherweise: Im Gegensatz zu den Gladiatoren in Rom ist es hier und heute möglich, sich gegen die Arena zu entscheiden.

Vom Leben und Sterben

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Psalm 90, 12

Freunde von uns haben in den vergangenen Wochen einen ihrer besten Freunde begleitet, der im Sterben liegt. Dafür verbrachten sie einige Wochenenden in der Ferne bei ihm und nicht hier, wo sie zu Hause sind. Heute waren sie nach langer Zeit wieder bei uns im Gottesdienst. Sie sind emotional ausgelaugt und doch dankbar für die Zeit, die sie mit ihrem Freund verbringen konnten. Andererseits freuen sie sich zunächst wieder über Alltag und Normalität – der eigene Haushalt, Arbeit, Kollegen, Nachbarn … Leben halt.

Das Sterben ihres Freundes geht weiter. So gern sie daran Anteil nehmen und ihm nahe sein möchten: Momentan tut ihnen die räumliche und gedankliche Distanz gut. Es braucht eine gesunde Ambivalenz im Umgang mit dem Tod. Denn er gehört zum Leben dazu – 100 Prozent Mortalitätsrate, wie eine Bekannte es sagt. Nur der Zeitpunkt ist unbekannt. Sie hat recht; es ist gut, sich bewusst zu machen, dass unser Leben enden wird. Das ist nicht morbide oder masochistisch, sondern realistisch und heilsam. Es hilft, unsere Prioritäten schlau zu setzen: Wie wollen wir leben, reden, agieren und uns einbringen? Wir haben eben nicht ewig Zeit dafür, auch wenn es uns inmitten des täglichen Einerleis so vorkommen könnte. Und trotzdem darf unser Leben-Wollen nicht vom Sterben-Müssen überlagert werden. Den Gedanken an letzteres halten wir nur dosiert aus. Zu leben bedeutet eben auch, die kostbaren einzelnen Momente in vollen Zügen zu genießen, ohne traurig auf das baldige Ende zu warten.

Beschämend

Ich fange eine neue Arbeit an und bin entsprechend nervös. Zwar weiß ich, dass andere auch nur mit Wasser kochen und Rom nicht an einem Tag erbaut wurde. Dennoch sorge ich mich ein wenig; wahrscheinlich ist es reiner Stolz: Was wäre, wenn ich den Erwartungen nicht gerecht werde oder keinen guten Eindruck hinterlasse?

Am Abend vor meinem ersten Tag schickt uns meine Tochter eine Nachricht eines Bekannten, der von seinem todkranken Sohn berichtet: Nach und nach verliere dieser eine Fähigkeit nach der anderen, könne nicht mehr allein gehen oder essen und sich nur mit Mühe artikulieren. Glücklicherweise, schreibt der Vater, habe der Junge keine Kopfschmerzen und müsse sich nicht so oft erbrechen – weitere normale Folgen dieses bösartigen Hirntumors. Offensichtlich verschlechtert sich der Zustand dieses Zehnjährigen langsam, aber stetig. Der Vater ist dennoch dankbar: Sein Sohn, vor der Diagnose begeisterter Fußballspieler, `beschwert sich kein bisschen und wirkt alles andere als geknickt… ´

Die Nachricht beschämt mich. Während ich mir Gedanken mache um den Eindruck, den ich hinterlasse, müssen andere Eltern ihrem Kind beim Sterben zuschauen – ohne zu jammern.

Begrenzte Freiheit

Im Restaurant bei uns im Ort redet eine meiner Nichten die Bedienung mit Du an: auftaktlos und ohne Vorwarnung. So kennt sie es wahrscheinlich aus der Großstadt oder aus den Studentenkreisen, in denen sie sich zu Hause fühlt. Auf den ersten Blick wirkt das Du vielleicht modern. Ich mag es trotzdem nicht; für mich klingt es respektlos. Dabei ist meine Wahrnehmung natürlich ebenso beeinflusst von der Prägung, in der ich mich zu Hause fühle.

Die Gedanken sind frei, heißt es in einem Lied. Ich würde sagen: Auch unser Denken ist begrenzt. Ohne einen unabhängigen Kompass richten wir uns alle nach unserem Umfeld. Und ganz selbstverständlich übernehmen wir die Werte, die dort gerade angesagt sind.

Es mag heutzutage üblich sein, jeden zu duzen, der mir über den Weg läuft – frei von Konventionen ist es nicht. Denn unsere persönliche Freiheit, meine `freie´ Entscheidung, hat einen klaren Rahmen. Und dieser orientiert sich an Standards und Maßstäben von außen und den Konsequenzen, die ein Ignorieren derselben nach sich zieht. Das ist eine Tatsache, egal ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht.

Bezogen auf Du oder Sie waren die mich prägenden Umgangsformen früher da als die meiner Nichte. Sie sind deswegen nicht automatisch veraltet oder falsch und erst recht nicht weniger frei: nur anders begrenzend. Das ist alles.

Streiten lernen

`Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte´, heißt es. Einen wahren Kern findet man ja immer in derartigen Sprichwörtern. Aber die Streitgespräche meiner Kinder bereiten mir selten Freude: vor allem, wenn sachliche Kontroversen emotional werden. Dann schwanke ich von einer Position zur anderen, bin angespannt und irgendwann auch ein bisschen verärgert. Es fällt mir schwer, mich nicht einzumischen, nicht Partei zu ergreifen. Stattdessen wünsche ich mir, dass sie aufhören, sich zu streiten. Darüber würde ich mich freuen. 

Dabei weiß ich, dass Können von Üben kommt – in Bezug auf den Geist ebenso wie auf den Körper. Wer schreiben, rechnen, Rad fahren, schwimmen, balancieren oder eine andere Sprache sprechen möchte, muss es einüben. Normalerweise freue ich mich, wenn meine Kinder das freiwillig tun. Wieso nur geht es mir beim Streiten anders? 

(K)ein Weihnachtsbaum

Seit ein paar Jahren haben wir einen Weihnachtsbaum aus Metall. Er ist wiederverwendbar und nadelt nicht. Jahrelang kauften wir eine Nordmanntanne, die ich sparsam schmückte: echte Kerzen, ein paar handgefertigte Aufhänger, Strohsterne, eventuell Kugeln. Allerdings machte mir das Dekorieren wenig Spaß; ich musste immer die brennenden Kerzen im Blick behalten; und außerdem ging mir die Nadelei spätestens nach einer Woche auf den Keks. Noch dazu wurde der Baum von Mann und Kindern kaum beachtet.

Ich selbst käme mittlerweile sehr gut zurecht ohne Weihnachtsbaum. Der Kunst-Baum ist ein Kompromiss – für eine meiner Töchter ein total hässlicher. Sie hätte lieber eine richtige Tanne: grün und lebendig und wie früher. Entweder sie wusste ihre Begeisterung gut zu verbergen. Oder aber wir finden immer das toll, was wir gerade nicht haben. 

Übersehen – und nichts passiert?

Rechts-vor-links-Situationen sind gefährlich – jedenfalls für Radfahrer. Es kommt vor, dass ich (unbeabsichtigt) übersehen werde, klar. Das ist doof, aber, solange nichts passiert, kein Problem. Wenn Autofahrer mich zwar bemerken und trotzdem ungerührt Gas geben, reagiere ich weniger entspannt. Das ist doof, und ich ärgere mich, obwohl nichts passiert. Denn wer mich mit Absicht übersieht, signalisiert mir, dass ich weniger wichtig bin. „Ich fass es nicht!“, murmele ich dann und schüttele innerlich den Kopf. Aber es nutzt ja nichts: Sowas passiert mir immer wieder.