Alltag ist genau richtig

Die Tage, an denen unsere Kinder geboren wurden, sind mir im Gedächtnis wie der Grand Canyon sich in die Landschaft Amerikas gegraben hat: Unvergesslich, unübersehbar, tiefe Einschnitte in meinem Leben. Besondere Tage.

Dann sind da noch die Tage, an denen Dinge passiert sind, die besonders traurig, schwierig, anstrengend waren. Todesfälle oder die bedrohliche Krankheitszeit eines mir sehr nahestehenden Menschen. Bedenkenswerte und nachdenklich machende Tage sind das, von denen einige mir noch Jahre danach sehr gegenwärtig sind.

Die meisten meiner Tage verlaufen jedoch unspektakulär. Sie sind in der Überzahl, und meine Erinnerungen kann ich nur selten an konkreten Daten festmachen. Dennoch machen gerade diese Alltags-Tage mein Leben aus. Die besonderen Momente sind – eben besonders, aber nicht das Eigentliche: Weder dauerhafte Höhenflüge noch dauerhaftes Leid könnte ich gut aushalten. Ich bin für Alltag geschaffen.

Wie viele sind zu viele?

Ich war mit zwei Kindern unterwegs. Wir kommen zurück und werden herzlich empfangen. Beim Abendbrot geht es trubelig und eher laut zu – wie immer. Mein ältester Sohn: „Es war echt wohltuend, als ihr nicht da wart! Keiner hat Klavier gespielt oder Fußball im Wohnzimmer, keiner gesungen. Wir haben auch nicht um Quatsch gestritten oder provoziert.“

Mir fällt der Titel eines Buches ein, der lautet: „Wir waren immer viele“. Es geht darin um die geburtenstärksten Jahrgänge in Deutschland, um 1964 bis 1967. Irgendwie passt er auch zu unserer Familie. Allerdings ist er derzeit eher negativ besetzt: weil man nicht ohne weiteres zu Wort kommt, die letzte Tomate erstritten, viel geteilt und die anderen manchmal einfach nur ertragen werden müssen. Dass eine Familie mit „vielen“ Kindern bereichernd ist und der Einzelne Streiten und Versöhnen täglich einüben kann – das erleben die Kinder momentan noch nicht nur als positiv. Aber vielleicht später in der Retrospektive – wie in dem Buch.

Haustiere mit Gefühlen

Eine Freundin von mir hat Kühe, Rinder und Kälber. Nicht irgendwelche. Ihre Tiere sind in der Lage, Gefühle zu zeigen: Freude über frische Einstreu, Frust über unangenehme Fress-Nachbarn und – wie ich beobachtet habe – Neugier. Letztere Gefühlslage betrifft vor allem die Halbwüchsigen, die altersgemäß noch neugierig sind.

Dieselbe Freundin hat kürzlich schlau festgestellt, dass wir in unserer Gesellschaft heutzutage zwei Dinge tun: Haustiere vermenschlichen und Nutztiere versachlichen. Ich kann nur zustimmen. Auf der einen Seite gibt es Adventskalender für Hunde und Geburtstagskuchen für Katzen; auf der anderen Seite wollen wir zwar Milch trinken, aber weder mit den Gerüchen eines Kuhstalles noch mit den Geräuschen bäuerlicher Landwirtschaft konfrontiert werden.

Die Kühe meiner Freundin haben Ohrmarken – wie alle anderen Kühe in Deutschland – und Namen – wie nur vergleichsweise wenige andere Kühe in Deutschland. Sie erhalten keine Geburtstagstorte, aber die neu geborenen Kälber werden nicht sofort von der Mutter getrennt. Meine Freundin will eine gute Milchleistung. Sie weiß, dass ihre Kühe dafür artgerecht gehalten werden müssen und sorgt dafür. Aber sie behandelt ihre Kühe eben nicht nur wie Unternehmenskapital, sondern gesteht ihnen eine Würde zu. Sie hat ihre Kühe im Blick. Wie sie das macht? Es ist nicht zu beschreiben, aber sie kann gar nicht anders. Und ihre Kühe können nicht anders, als sich würdevoll zu verhalten – sichtlich froh über neue Einstreu, stur, wenn es um Fress-Nachbarn geht und in jungen Jahren eben auch altersgerecht neugierig…

Abschied von zwei Seiten

In dem Lied „Je vole“ aus dem Film `Verstehen Sie die Beliers´ geht es um den Abschied einer Tochter von ihren Eltern – ein bewegendes Lied mit einem bewegenden Text: „Liebe Eltern, ich gehe. Heute Abend werdet ihr kein Kind mehr haben. Ich fliege, ich fliege (davon).“ Es ist der Tochter Paula schwergefallen, sich zum Weggehen zu entscheiden: Für ihre taubstummen Eltern war sie das Sprachrohr zur hörenden Umwelt war. Aber letztlich tut Paula es doch, sie zieht weg, nach Paris und geht dort auf eine Schule für Gesang. Das erwähnte Lied singt sie bei der Aufnahmeprüfung. Ihre Eltern sind dabei, verstehen „Je vole“ aber erst, als Paula es in Gebärdensprache übersetzt. Paula singt ernsthaft und mit Herzblut, aber man spürt ihr die Freude ab: Der Abschied ist nötig, sie nimmt ihn gern in Kauf.

Ich erinnere mich selbst noch sehr gut an meinen eigenen Auszug von zu Hause und an das Gefühl von Vorfreude auf das Neue, auf das Alleinsein, auf die Selbständig- und Unabhängigkeit. Es war auch ein wenig Unsicherheit im Spiel, aber vor allem das Gefühl von Freiheit: Dass der Auszug des jüngsten Kindes bei meinen Eltern sicherlich auch für Schmerz gesorgt hat – es war mir nicht bewusst.

Die Filmszene ist besonders und geht mir ans Herz. Ich kann sie nicht anschauen, ohne mit den Eltern zu weinen, auch wenn diese den Schritt ihrer Tochter letztlich gutheißen. Und es ist ja so, dass es für beide Seiten Trennung bedeutet, für beide hört das Vertraute auf – und doch ist das Abschiednehmen verschieden.

Paula verlässt, sie ist mutig und entschlossen. Vor allem fühlt sie: Vorfreude, Zuversicht und positive, spannende Erwartung.

Die Eltern werden verlassen. Für sie ist der Abschied mit Trauer verbunden und mit viel Zurückschauen.

Es gibt bei dem Abschied zwischen Kinder und Eltern immer zwei Seiten – verlassen und verlassen werden. Ich stand schon auf der einen, bald stehe ich auf der anderen Seite.

Über den Schatten springen

Ich kann nicht über meinen eigenen Schatten springen. Wenn er auch noch so kurz ist, ich komme nicht drüber. Trotzdem ist die Aussage erstmal positiv belegt – als wäre es schaffbar, ein erstrebenswertes Ziel und würde am Ende belohnt: Wer über seinen Schatten springt, entschuldigt sich zuerst, geht in den Keller eine Gurke holen, obwohl er nicht dran ist, oder gibt eigenes Unvermögen in Gänze zu. Ist man – metaphorisch gesprochen – gesprungen, erwirbt man neues Wissen, einen Freund und vielleicht sogar Respekt für den Mut. Oft jedenfalls.

Manchmal bringt Schattenspringen von all dem nichts. In Computerfragen weiß ich so wenig, dass eine Frage mir nicht neue Erkenntnisse beschert, sondern dem Öffnen der Büchse der Pandora gleichkommt. Plus: Meine Unfähigkeit in Sachen Technik bewirkt bei den „Experten“ um mich herum ein Kopfschütteln. Menschen, die vorher keine Ahnung von den Ausmaßen meiner Ahnungslosigkeit hatten, müssen ihr Bild von mir neu malen – inklusive meines Unwissens, das vorher (verborgen) im Schatten lag.

Zweckentfremdet

Eine meiner Töchter muss zu den Pfadfindern. Auf den letzten Drücker macht sie sich fertig, auf den allerletzten fällt ihr ein, dass sie ihr „Schlaues Buch“ mitnehmen sollte. Sie sucht es, aber in der Eile erfolglos: Sie muss ohne das Buch losziehen. Eine letzte Bitte: Ich könne es in ihrem Schreibtisch suchen und ihrer Freundin vor der Tür mitgeben, die fährt etwas später. Okay.

In bester Absicht gehe ich in ihr Zimmer und schaue mich um. Ihre Schreibtischschubladen sind für eine Überraschung gut: Süßigkeiten-Verpackungen – natürlich alle leer -, anderer Müll und irgendwie alles ohne System. JEDE Schublade enthält Müll und normale Schreibtisch-Utensilien. Frustriert schiebe ich sie wieder zu und finde das „Schlaue Buch“ AUF dem Schreibtisch, ein wenig untergebuddelt, aber da liegt es.

Ich gebe es der Freundin und sage: „Ihr Schreibtisch war total vollgemüllt, ich bin froh, dass ich das Buch trotzdem gefunden habe.“ Die Freundin: „Dazu ist ein Schreibtisch doch da!“

Wenn ich das gewusst hätte! Ich nutze meinen seit Jahrzehnten total zweckentfremdet für Schreibkram, Stifte, Passwort-Listen, Postkarten, Briefumschläge und ähnliches Zeug, was darin entweder nichts oder nur in Verbindung mit leeren Süßigkeiten-Verpackungen etwas zu suchen hat…

Erwachsen geworden?

In der Literatur beobachte ich zunehmend eine Verrohung der Sprache. Anzüglich war gestern, heute muss es anscheinend schon obszön oder vulgär sein, um als „modern“ zu gelten. „Sex sells“ heißt es nicht umsonst. Schade ist das. Manche Bücher würde ich meinen Kindern gern zum Lesen empfehlen können, weil sie eine Thematik bearbeiten, die interessant ist und herausfordernd, provokant auch. Aber entweder man hat es andauernd mit f-Wörtern zu tun, die dann wohl ein bestimmtes Milieu darstellen sollen – als würde das nicht anders gehen. Oder irgendwo mitten in der Lektüre – meist unvermittelt und meines Erachtens nicht wirklich notwendig – finden sich abstoßende Formulierungen, die unter der Gürtellinie anzusiedeln sind.

Vielleicht ist das nicht neu, vielleicht hat es das schon immer gegeben. Vielleicht haben meine Eltern eine sehr sorgfältige Auswahl getroffen, was im Bücherregal stand und was nicht. Ich denke trotzdem, dass vor 35 Jahren mit „jugendfrei“ etwas anderes gemeint war als heute. Die Maßstäbe haben sich verschoben. Die FSK-Einstufung von Filmen ist ja auch in schrecklicher Weise erwachsen geworden.

Erziehung, die wehtut

Manchmal entscheide ich etwas für eins meiner Kinder, was sich weder für das Kind noch für mich gut anfühlt. Da fahre ich es trotz des Regens (oder der Eiseskälte) nicht zum Musikunterricht. Ich verbanne es vom Essen, weil es sich – wieder – nicht an abgemachte Tischregeln hält. Ich begrenze die Aufnahme von Süßigkeiten ebenso wie den Konsum digitaler Medien. (Ein besonders schwieriges Feld, denn: „Mama, das kannst du nicht verstehen, du bist anders aufgewachsen.“)

Manchmal geht es mir um Respekt, manchmal darum, Konsequenzen des Lebens beim Kind zu lassen und nicht selbst zu tragen. Obwohl ich Regeln vorgebe, ist mein Ziel ein selbständiges und lebenstüchtiges Kind. Oft wird mir dann – vom Kind – Härte vorgeworfen, logisch. Wenn ich dem Vorwurf hinterher spüre, ist Wahrheit drin: Ich reagiere bisweilen unnachgiebig – hart. Es fällt mir nicht immer leicht, ich handle nicht im Affekt, es ist keine Wut im Spiel. Meine erzieherische Maßnahme ist in den meisten Fällen gut überlegt, bedacht und mir manchmal wirklich abgerungen.

Ich will mein Kind nicht ärgern, obwohl es sich so anfühlt. Ich will ihm helfen, in einem Leben in Gemeinschaft zurecht zu kommen. Irgendwann wird es mich verstehen. Vielleicht.

Etwas fehlt

etwas fehlt

Ein Baum wurde vom Blitz getroffen, die Überreste ein paar Tage später von den Leuten des Grünflächenamtes entsorgt. Der Stumpf ragt noch ein kleines Stück aus der Erde, sonst könnte man auf den Gedanken kommen, da hätte nie ein Baum gestanden.

Stimmt nicht: Die Nachbarbäume zeigen ihn noch, den Baum. Bei ihnen hat er seine Spuren hinterlassen. Jahrzehntelange Nachbarschaft färbt ab. Jetzt sieht es so aus, als würde etwas fehlen.

Wie viel mehr stimmt das für uns Menschen? Ob wir es wollen oder nicht und egal, in welcher Beziehung wir zueinander stehen: Jede Form des Miteinanders – als Ehepaare, Freunde, Nachbarn, Kollegen – hinterlässt ihre Spuren. Je dichter die Beziehung, desto mehr färbt der andere in irgendeiner Weise auf mich ab. Vor allem diejenigen Menschen, die ich als herausfordernd empfinde, prägen mich. Es kann sein, dass „anstrengende“ Menschen mehr Einfluss auf meine charakterliche Entwicklung haben als die Leute, die leicht zufriedenzustellen sind. So sehr die unbequemen Zeitgenossen mich also herausfordern, so sehr würden sie mir fehlen, wären sie nicht da.

Gebranntes Kind

Vor anderthalb Jahren habe ich mir im Garten beim Fußballspielen den Mittelfußknochen angebrochen. Einer meiner Söhne bemerkte damals sofort: „Mama, das hat ganz schön geknackt.“ „Ach, was, das ist sicher nur verstaucht, ich kühle das mal“, war meine verzweifelte Antwort – wider besseres Ahnen. Und? Er hatte recht.

Die Heilung nahm einige Zeit in Anspruch, aber drei Monate später konnte ich wieder laufenderweise meine Runden ziehen. Bis auf eine gewisse Empfindlichkeit im ersten Winter gab es körperlich keine spürbaren Folgeerscheinungen. Aber meine Psyche war noch angeknackst: Fußballspielen im Garten stand bisher nicht wieder auf meinem Programm. Das gesamte letzte Jahr habe ich mich gedrückt, mich nicht getraut – gebranntes Kind scheut das Feuer.

Letztens überwog die Liebe zu meinem Jüngsten, der keinen zum Fußballspielen hatte. „Na gut“, dachte ich, „eine halbe Stunde kicke ich mit ihm. Wird schon gut gehen.“

Was soll ich sagen: Ich habe lange nicht so gelacht, es hat solchen Spaß gemacht. „Mama, wieso musst du so lachen?“ „Weil ich keine Schnitte habe gegen dich, mein Schatz! Du bist viel schneller und besser mit dem Ball.“ Ich habe überhaupt nicht an meinen Fuß gedacht und ihn auch nicht gespürt. Es geht wieder, ich habe keine Angst mehr, ich bin wieder richtig heil – an Leib und Seele.