Orientierungssinn

Mein Orientierungssinn ist ganz ordentlich – finde ich. Aus Sicht meines Mannes sieht das anders aus. Er selbst hat wirklich eine bewundernswerte Gabe, sich an schon einmal aufgesuchte Orte zu erinnern oder in fremder Landschaft zu orientieren. „Hier waren wir schon mal“, sagt er dann, und ich staune: Ich weiß, dass es stimmen muss, mir aber kommt nichts bekannt vor. Gar nichts. Dieses Abspeichern von Gelände-Informationen geht mir total ab.

Im vergangenen Jahr besuchten wir Freunde in dem Ort, in dem ich vor über 20 Jahren eine Weile studiert und gelebt habe. Ich fand mich überhaupt nicht mehr zurecht, hatte keinen Plan, erkannte nichts. Durch unser Navigationsgerät kamen wir trotzdem an; und schon beim Losfahren am nächsten Tag brauchte mein Mann das Navi nicht mehr: „Da müssen wir lang, alles klar.“ Mich lassen solche Bemerkungen erschaudern. Wieso ist in seinem Hirn Platz für immer neue Verkehrswege und in meinem nicht einmal für altbekannte Pfade? Hat es etwas mit dem Mann-Frau-Unterschied zu tun? Gut möglich: Eine meiner Töchter fuhr heute mit einer Freundin in einen Secondhandshop, mit dem Fahrrad. Die Freundin kannte den Weg. Hinterher wollte ich wissen, wo der Laden ist. „Keine Ahnung, Mama, ich weiß nicht, wo wir langgefahren sind.“ Hätte mir auch passieren können…

Sommerzeit

Es mag sein, dass ich total ignorant bin. Ich habe keine Ahnung von den Kosten, die mit der Zeitumstellung einhergehen. Auch leide ich nicht unter Kreislauf-Beschwerden oder sonstigem. Als ich vor 25 Jahren in Amerika war, bereitete mir die Zeitverschiebung mehr Probleme … Und deshalb kann ich ehrlich sagen:

Ich habe nichts gegen den Wechsel von Sommer- und Winterzeit. Ohne Einschränkungen. Ich liebe die langen hellen Abende im Sommer und finde es super, dass wir im Winter auch irgendwann morgens „Licht bekommen“. Es kann sein, dass wir alle ein paar Tage brauchen, um wieder im neuen Rhythmus zu sein – aber das stört mich nicht. Diesen Preis zahle ich gern; ich finde die Sommerzeit toll!

Latent

„latent (lat.): vorhanden, aber noch nicht in Erscheinung tretend“

In unserer „Arbeitsjacken-und-extra-Schuhe-Rumpelkammer“ müffelt es latent nach Pferd.

Die Füße von Heranwachsenden riechen latent nach Schweiß.

Anrufe von Vertretern oder gebrochen Englisch sprechenden Bürgern, die mir ihre Hilfe in Computerfragen anbieten wollen, machen mich latent wütend.

In unserem Kindercomputer-Mamas-Arbeitszimmer-Raum herrscht meist ein latentes Chaos.

Unser Garten ist latent unordentlich.

Bisweilen ist mir mein eigenes Reflektieren latent zu viel.

Alles nur latent …

Kontrollverlust

Ein Ehe-Seminar. Es ist schön, fordert uns heraus, spricht uns an. Wir merken, dass es uns ins Gespräch bringt und auch langfristig gut tun wird. Eine Veranstaltung ist jedoch so gar nicht nach unserem Geschmack, denn: wir können mit (für uns) künstlich erzeugter Feierlichkeit nichts anfangen. Die dem Augenblick innewohnende Symbolik bleibt uns verschlossen. Schlimmer noch: Anstelle von Festlichkeit spüren wir eine unaufhaltsame Belustigung. Lachen ist selbstredend völlig unangebracht, wenn die anderen Teilnehmer ernsthaft, würdevoll und vor allem still agieren und gegenseitige Versprechen erneuern. Was tun? Rausgehen kommt nicht in Frage, lachen ebenso wenig. Sobald wir uns aber anschauen, drängt sich ein Kichern in unsere Kehlen, ein Lächeln in unser Gesicht. Dieses zurückzudrängen wird immer schwieriger, irgendwann schüttelt´s meinen ganzen Körper. Das – unterdrückte, aber doch für mich deutlich – vernehmbare Gekicher meines Mannes sowie ein unvorsichtiger Blick in sein von mühsamer Beherrschung gezeichnete Gesicht inklusive zusammengekniffener Augen machen es nicht besser. Wir fiebern dem Ende entgegen und verschwinden eilig in unserem Zimmer.

Was war das? Warum konnten wir nicht wenigstens nur teilnahmslos daneben sitzen? Ich fühlte mich so unhöflich und ignorant und wollte auf keinen Fall entdeckt werden – wie peinlich! Wie unangebracht! Aber obwohl ich ein (diesbezüglich) wohlerzogener Mensch bin und auch sensibel, was die Gefühle anderer angeht: Ich konnte mich nicht wehren gegen diese Erheiterung, ich war ihr wehrlos ausgeliefert. Mein Mann ebenso. Die Nähe, die wir dabei zueinander empfunden haben, war ein ausgesprochen schöner Nebeneffekt eines ansonsten völlig unangemessenen Kontrollverlustes…

Ein Ausflug

Ich fahre übers Wochenende aus der Kleinstadt nach Berlin. Ich tauche ein in ein anderes Lebenstempo, in ein anderes Kulturangebot, andere Gestaltungsmöglichkeiten für Freizeit, einen anderen Lebensrhythmus. Reize kommen ungefragt und in Fülle, Tag und Nacht verlieren ihre Grenzen. Es ist schön, aber auch anstrengend. Ich halte es nicht nur aus, ich bin voll dabei und begeistert – am Ende des Wochenendes aber auch müde und in gewisser Weise froh, wieder einzutauchen in das, was ich kenne. Was meinen Alltag ausmacht. Ich habe den Eindruck, für das Leben in der Großstadt verdorben zu sein: Es überfordert mich, ich kann es nur dosiert genießen.

Ich bin …

In verschiedenen Zusammenhängen rede ich von mir selbst als die Mutter von …, die Frau von …, die Nachbarin von …, die Freundin von …. Dazu kommt noch: Ich glaube an, ich bin überzeugt von … Alle meine Bezugspersonen sind mir angenehm, eine positive Referenz: Meine Kinder, mein Mann, meine Geschwister und so weiter. Es wird auch (noch) wohlwollend gesehen, wenn Menschen an etwas glauben oder im jeweiligen Umfeld akzeptierte Überzeugungen vertreten. Was aber, wenn mir Bezugspersonen oder meine Überzeugungen unangenehm oder peinlich sind? Erwähne ich sie dann auch?

Wenn nicht: Ich bin Dagmar, eine mittelalte Frau in Deutschland. Ich arbeite zu Hause, gehe gern laufen, schreibe alles mögliche auf, brauche normal viel Schlaf, liebe die englische Sprache, bin eher extrovertiert usw.

Ohne Bezüge bin ich ein nicht besonders klar definierter Mensch. Erst die Gemeinschaft mit anderen macht mich zu der, die ich bin – ob ich es will oder nicht. Erst die Nähe oder Distanz zu anderen Menschen und vor allem Meinungen, Ansichten, Überzeugungen ermöglicht ein eindeutigeres Bild von mir.

Ein Freund

„Ein Freund, ein guter Freund – das ist das schönste, was es gibt auf der Welt.“

Es gibt alte und neue Freunde, es gibt engere und weniger enge Freunde, es gibt welche für bestimmte Unternehmungen und solche für andere Interessen. Der Freund, von dem in dem eingangs zitierten Lied die Rede ist, das ist ein besonderer Freund. Davon gibt es nicht viele im Leben eines Menschen. Behaupte ich. Ich habe einen solchen und bin dankbar dafür. Er vermittelt mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein – ein gern gesehener Gast, ein inspirierender Gesprächspartner, ein wertvoller Mensch, um den man sich bemüht und dem man etwas Gutes tun möchte. Auch wenn es immer heißt, Freunde müssen sich die Wahrheit sagen, dürfen einander korrigieren und herausfordern: Manchmal finde ich es einfach nur schön, einen Freund zu haben, der mich mag, mir etwas Gutes tut, mich versteht und gern mit mir zusammen ist.

Gemüse

Bei uns gibt es häufig Gemüse und selten Fleisch. Meine großen Söhne fänden es andersherum noch besser. Wir machen uns manchmal einen verbalen Scherz daraus, wie gesund wir uns ernähren, wie viel leckerer (und nur vielleicht ungesünder) es mit viel mehr Fleisch wäre. Gestern fragte einer von der Schule aus, was es zum Mittagessen gäbe. Die Antwort: „Viel Gemüse mit Reis, kein Fleisch – von allem viel.“ Als sie nach Hause kamen, brachten sie zwei Tüten mit. (Es sind Osterwochen bei MacDonalds, ein BigMac kostet anstelle von vier nur einen Euro.) Jeder hatte drei BigMac dabei. Ginge es um Fußball, würde man sagen: „Sie haben die Antwort auf dem Platz gegeben.“

Gewohnheiten, Traditionen, Rituale

Es gibt gute Gewohnheiten, über die wir nicht mehr nachdenken müssen: ein Segen vor dem Verlassen des Hauses, ein Gebet am Essenstisch, ein Gute-Nacht-Kuss. Manchmal hilft eine gewisse Regelmäßigkeit auch über Zeiten hinweg, in denen wir uns lieber der Null-Bock-Einstellung hingeben würden: Einmal die Woche das Bad putzen, tägliches Zähneputzen, Sport machen.

Traditionen können Halt sein und zu schönen Erinnerungen werden: Gummibären auf dem Geburtstagstisch, anstelle des Geburtstagskuchens ein Eis, jedes Jahr ein frei wählbares Essen am Heiligabend, ein Neujahrsspaziergang (Länge variierbar).

Wann wird die schöne Tradition, das hilfreiche Ritual zur sinnentleerten Hülse? Gute Frage. Die Grenze ist schwer auszumachen. Es ist nicht immer hilfreich, alles zu hinterfragen; aber wenn mir eine Tradition nichts mehr bedeutet oder mich sogar nervt, anstrengt, mir zuwider ist – lasse ich sie dann sein?

Ich selbst bin mit schönen Traditionen aufgewachsen, aber auch mit solchen, die zu Zwängen wurden. Daher ist es wichtig für mich, Dinge nicht allein deshalb zu tun, weil sie immer so waren. Ich koche keine deutschen Klassiker, wenn sie mir nicht schmecken; bei uns gibt’s Heiligabend nicht Kartoffelsalat mit Würstchen oder Bratwürstchen mit Sauerkraut; zu meinem Geburtstag kommen nicht automatisch immer dieselben Leute – und manchmal feiere ich gar nicht. Jegliches Starre ist mir ein Gräuel. Andererseits mag ich es ebensowenig, wenn Altes nicht bewahrt wird, nur um „mit der Zeit zu gehen“. Es ist nicht schlecht, alte Kirchenlieder zu singen – deren Texte sind oft beeindruckend gehaltvoll. Auch mag ich es, Bücher in Papierform zu lesen und die neuen Kommunikationswege selbstbestimmt zu wählen – oder eben nicht. Ich trage eine Uhr am Handgelenk, besitze und benutze sowohl Fotoapparat als auch Telefon sowie einen Küchenkalender und wehre mich dagegen, dass mein Smartphone alles das für mich sein könnte. Da bin ich total starr und altmodisch.

Richtige Ökos

Mein Sohn und ich fuhren mit dem Rad in die Stadt. Vorher hatte es mehrfache Anfragen seinerseits gegeben, ob wir nicht das Auto nehmen könnten. Da es sich um einen Weg von etwa fünf Kilometern handelt und es zudem nach einer Regenpause aussah, war meine Antwort klar. Also strampelten wir den einzigen Hügel hinauf, der unsere Wohnsiedlung von der Innenstadt trennt, böiger Wind von überall, links und rechts dunkle Wolken am Himmel (Aprilwetter im März eben) und mein Sohn meinte: „Das ist richtig gutes Wetter zum Autofahren.“

Interessanter Weise hat „gutes Wetter zum Autofahren“ keine eigenen Attribute wie Sonnenschein und strahlend blauer Himmel, sondern erklärt sich einzig und allein durch „ungemütlich zum Fahrradfahren“. Im Grunde ist also jedes Wetter „gut zum Autofahren“; denn „gutes Wetter zum Fahrradfahren“ wäre Sonne, warme Temperaturen (aber nicht zu warm) und kein Wind (außer bergauf, dann aber von hinten). Das Fenster ist eng: Es ist oft windig, es ist schnell zu warm, Sonne kann auch blenden und Autofahren ist einfach cooler.

Kurze Zeit später, es regnete noch nicht, ergänzte mein Sohn: „Ihr seid so richtige Ökos!“ Er meinte es nicht als Kompliment, und seine Öko-Kategorie hat eine sehr niedrige Eintrittsschwelle. Es reicht, normalerweise das Fahrrad zu nehmen, sich beim Einkaufen keine Plastiktüten geben zu lassen, keine Fertiggerichte zu kaufen und stattdessen selbst zu kochen, wenig Fleisch und viel saisonales Gemüse zu essen und insgesamt bedacht zu konsumieren. Vielleicht kommt es noch ganz gut, nicht in den Urlaub zu fliegen. Im Grunde reicht es, so zu leben, wie die meisten lebten, als wir nicht Eltern, sondern Kinder waren. Damals war „Ökos“ ein Status, der sich nur mit viel Hingabe und großer Konsequenz erreichen ließ. Ich bin gespannt, welche Zuordnung ich mir in weiteren 40 Jahren erarbeitet haben werde – ohne dass ich meine Lebensweise großartig ändern muss.