Ich bin wegen eines Schreibauftrags in der ländlichen Umgebung von Celle unterwegs. Als ich in einem Ort auf mein Handy schaue, steht da „Kein Netz“. Vielleicht sollten wir die nächsten Ferien dort verbringen? Die Voraussetzungen für Familienzeiten könnten besser nicht sein…
Aus heiter`m Himmel
Es sind Sommerferien, Grund zur Freude für die Schüler in der Familie – und auch für die Eltern. Die Stimmung könnte besser nicht sein? Naja. Den ganzen Vormittag schon flackern kleine Streit-Feuer auf: Die Mädchen streiten, ein Sohn schimpft lautstark über seine häuslichen Pflichten, eine Tochter schmollt, weil die Kaninchen nicht vorn im Garten fressen und ihr Köttel platzieren dürfen… Unterschwellig gärt etwas, es lässt sich nicht greifen.
Dann essen wir zusammen Mittag, und da passiert`s: Eine stichelnde Bemerkung bringt die jüngere Tochter zum Weinen, und schon sind alle Kinder in lautstarke Diskussionen verwickelt. „Ich hab` doch gar nichts Verletzendes gesagt.“ „Jetzt mach` mal nicht so ´ne Welle.“ „Hör doch einfach auf, du siehst doch, wie sie reagiert.“ „Du hältst dich auch für die große Schlichterin.“ Zwischendrin der Jüngste, der Partei ergreift – und sofort auch Druck vom anderen Lager bekommt.
Mich erwischen derartige Streits irgendwie eiskalt, aus heiter`m Himmel eben. Ich rechne nicht damit und empfinde sie in ihrer Stärke als unangemessen, aggressiv und nicht nachvollziehbar. Ein lautes Eingreifen vom Familienoberhaupt macht dem Spuk ein Ende; der Rest der Mahlzeit verläuft in Stille. Die Kinder gehen hoch, wir bleiben kopfschüttelnd zurück und fragen uns, was das war. Für einen Ferienkoller ist es noch zu früh.
Minuten später hören wir Kichern von oben. Es ist vorbei. Aus heiter`m Himmel angefangen hat es ebenso unverhofft wieder aufgehört – normales Familienmiteinander.
Abgeklärt
Ich habe einen Auswuchs am linken Schienbein. Dieser wurde vor langer Zeit als gutartiger Knochentumor diagnostiziert. Ich kann mit ihm leben; er schmerzt hin und wieder und nervt vor allem beim Rasieren. In den letzten Monaten spüre ich ihn verstärkt – beim Laufen. Grundsätzlich denke ich, mit gewissen Beeinträchtigungen muss man einfach leben. Mein gutartiger Knochentumor ist mir eher lästig, als dass er mich beunruhigt.
Eine meiner Töchter und mein Mann reden schon eine Weile auf mich ein, ich solle abklären lassen, ob sich dieses gutartige Gebilde verändert, und haben mich zu einem Arzttermin überredet. Während ihrer Überzeugungsarbeit ist es mir selbst immer dringlicher geworden, das Ganze abklären zu lassen. Der Orthopäde hat geröntgt und mich zum MRT überwiesen. Diese Untersuchung ist aufwendig, die dafür verwendeten Geräte sind teuer: In der Röhre schon fragte ich mich, ob das alles nötig ist. Danach die (beruhigende) kurze erste Aussage des Radiologen: „Treiben Sie Sport? Tut es vor allem unter Belastung weh?“ Mein gehauchtes „Ja!“ beantwortet er mit einem gemurmelten (oder genervten?): „Ich kann auf der Aufnahme nichts sehen, wahrscheinlich Tibia-Vorderkanten-Syndrom, Sie haben nichts.“
Ich fahre nach Hause. Beruhigt – und beschämt. Deswegen bin ich zum Arzt gegangen? Zu zwei Ärzten sogar! Röntgenaufnahme, MRT, Gespräche mit beiden Medizinern – und demnächst habe ich noch einen weiteren Termin beim Orthopäden, wenn dieser den Befund erhalten hat. Meine Oma wäre wegen solch einer Lappalie nicht zum Arzt gegangen, wahrscheinlich hätte sie die Schmerzen an sich überhaupt nicht erwähnt. Nächstes Mal behalte ich meine körperlichen Zipperlein für mich. Manches davon ist altersbedingt: Wenn es nicht von allein wieder weggeht, muss man damit leben. Ich bin hinterher so schlau wie vorher!
Herbert – noch immer derselbe
Ich behaupte: Für Deutsche meiner Generation wird der Name Herbert immer mit Herbert Grönemeyer verbunden sein – und dann mit Bochum, Männer, Alkohol oder Land unter. Manche lieben Herbert, manche nicht, aber wir alle kennen seine Lieder. Ich mag die meisten, sie sind fester Teil sehr schöner Erinnerungen an wunderbare Jahre und alte Freunde, mit denen ich noch immer verbunden bin.
Von einem dieser Freunde wurde ich vor ein paar Jahren eingeladen zu einem Konzert mit Herbert. Wie es manchmal so ist, hatte ich kurz vorher beim Zahnarzt in einem Magazin einen Artikel gelesen: Eine Frau berichtete von ihrer Begeisterung für Herbert als Jugendliche und einem von ihr herbeigesehnten Konzertbesuch mit Mitte 40. Leider hatte dieses Konzert ihre Erinnerungen nicht bestätigt, sondern sie vielleicht sogar zerstört. Und jetzt stand sie da mit ihren enttäuschten Erwartungen und ihrem „angeknacksten“ Herbert. Die Frau tat mir leid; und dieser Artikel trübte meine bis dahin zweifelsfreie Begeisterung und Vorfreude durch verhaltene Skepsis. Würde Herbert meinen Erinnerungen gerecht werden können? Würde er noch immer der sein, der er für mich damals war?
Unser Grönemeyer-Konzert fand im Juni in der Waldbühne in Berlin statt; das Wetter war hervorragend, die Stimmung entsprechend locker und entspannt: Picknick-Atmosphäre, familiär, friedlich. Herbert kam etwas verspätet, wie die meisten Künstler das heutzutage tun. Dann aber war er sehr präsent, sang neue Lieder und alte Klassiker. Natürlich konnten fast alle fast alles mitsingen; die Akustik war wunderbar, das Konzert auch.
Was bleibt: Herbert ist älter geworden, ich auch. Abgesehen davon hat sich in unserem Verhältnis nichts verändert – ich mag noch immer viele Lieder von ihm, der Name Herbert steht weiterhin für sehr positive Erinnerungen. Hinzu gekommen ist eine neue: Beim Verlassen der Waldbühne ging es außergewöhnlich ruhig und gelassen zu. Unhektisch zerstreuten sich die 20.000 Menschen in der lauen Sommernacht. Kein Terror, kein Streit, kein Gedränge, keine Eile – stattdessen ein wohliges Gefühl der freundlichen Verbundenheit mit lauter Unbekannten. Herbert kann nichts dafür; aber auch diese tiefe Gewissheit von und Dankbarkeit für Frieden in unserem Land werde ich in Zukunft mit seinem Namen verbinden…
Anstrengend oder nur unbequem?
„Solche anstrengenden Gedanken machst du dir?“, fragt mich eine Freundin, als ich etwas zu meiner Entscheidung sagte, kurze Wege grundsätzlich nicht mit dem Auto zurückzulegen. (Sehr seltene Ausnahmen setzen diesen Grundsatz nicht außer Kraft; ich versuche, nicht dogmatisch zu sein.) Anstrengend? Ich empfinde das nicht als anstrengend, sondern eher als geboten. Ich kann, darf und muss mir meiner Meinung nach Gedanken machen, wie ich mich verhalte. Nicht dogmatisch, nicht so, dass ich einmal getroffenen Entscheidungen alles unterordne (ohne Rücksicht auf Verluste), aber doch häufiger als „wenn´s gerade passt“. Wir können es uns nicht mehr leisten, vor allem bequem zu sein – wahrscheinlich konnten wir es nie. Und wir sollten das Bequeme unseres Lebensstils wahrnehmen.
Die Jugendlichen heutzutage mögen mit ihren „Fridays for Future“-Aktionen teilweise zu radikal oder zu inkonsequent sein; aber wir „Alten“ können nicht so tun, als ginge uns das vor lauter erprobter Lebenserfahrung gar nichts mehr an! Sicherlich hat jeder eine andere Einstellung zur Umwelt und zu dem, welches Verhalten mit dem eigenen Gewissen vereinbar ist und was nicht. Ignorant einfach so weiter zu machen wie „schon immer“, ist meiner Meinung nach keine Lösung. Es kostet, die Umwelt zu bewahren – oft Geld, manchmal auch Zeit, Kraft und Bequemlichkeit. Darüber nachzudenken, was es mich persönlich kosten darf, ist vielleicht anstrengend, mit Sicherheit aber notwendig.
Noch unterwegs oder schon da?
Ich lebe in einer Kleinstadt, in der ich viel mit dem Rad erledigen kann. Das Auto benutze ich nur selten. Die Fahrradstrecken unterscheiden sich von den Wegen, die ich mit dem Auto benutzen würde – und sind nicht immer kürzer, aber immer abwechslungsreicher und schöner. Meist dauert es länger als mit dem Auto; meist macht es mir nichts aus, noch unterwegs zu sein.
Zur Zeit wird an diversen Kreuzungen gebaut. Das bringt Staus mit sich, die teilweise den Verkehr der halben Stadt verlangsamen. Nicht schön. Also meide ich das Auto noch stärker als ohnehin schon – und freue mich, dass das geht: Heute bog ich mit dem Rad von einer zugestauten Straße ab in einen längeren Weg am Fluss entlang und befand mich binnen weniger Sekunden mitten im Grünen. Eben noch hatten mir die Autofahrer leid getan, die sich langsam voran quälten und den Eindruck hinterließen: noch nicht da. Nun aber sah ich entspannt dahin radelnde Leute, dazu Kanufahrer, Freizeit-Schwimmer und einen Mann, der interessiert eine grasende Mutterkuhherde beobachtete. Alle waren irgendwie gleichzeitig noch unterwegs und schon da.
Reisen
Wenn man der ZEIT glauben darf, reist ab sofort bei jedem das schlechte Gewissen mit in den Urlaub. Es sei denn, man verbringt diesen zu Hause. Hinsichtlich der bewohnten Fläche, der Plastikverpackungen, der Auto- statt Fahrradnutzung, des allgemeinen Konsums hat das schlechte Gewissen dort ohnehin schon ein eigenes Zimmer. Im Urlaub hatten wir es die letzten 20 Jahre selten dabei:
Wir waren ohne Flugzeug in Dänemark oder Deutschland. Wir übernachteten in Jugendherbergen oder Ferienhäusern; beschäftigten uns mit Wanderungen, Schwimmversuchen und – je nach Wetter – mit Büchern, Ball über die Schnur oder Kniffle. Die Entscheidung für derartige Urlaube hatte wenig mit einem ausgeprägten ökologischen Bewusstsein zu tun, sondern weil Fliegen (unter anderem aus Umweltgründen) nicht unsere bevorzugte Fortbewegungsmethode ist. Auch dieses Jahr wird es für die Familie wieder einen ähnlichen Sommer-Urlaub geben.
Zusätzlich reise ich im kommenden Herbst nach Großbritannien – allein. Weil ich nur eine Woche Zeit habe,
mir nur eine Woche Zeit nehme,
es mir um das Dort-Sein geht und nicht das Hinkommen,
und es sich einfach anzubieten scheint,
werde ich fliegen.
Ich möchte wandern, mit englischsprachigen „Ureinwohnern“ reden, lesen, das Alleinsein genießen, am Ende kurz London erleben – und dort privat unterkommen. Ich möchte mich nicht fragen, ob ich das der Umwelt antun kann. Also lasse ich das schlechte Gewissen zu Hause: Es kommt eine Woche gut ohne mich zurecht.
Interessenkonflikt
Meine Tochter – die aufgrund ihrer Größe gut meine Kleidung benutzen kann – hat von ihrer Cousine eine Daunenjacke geerbt, reichlich unerwartet und mitten im Sommer. Die Jacke ist schön; und normalerweise freue ich mich, wenn meine Tochter die Sachen mag, die ihre Cousine abgibt. Diesmal wäre mir eine gewisse Abneigung von ihrer Seite lieber. Ich hätte selbst Verwendung für das gute Stück: Im vergangenen Winter hatte ich nach einer solchen Jacke gesucht, aber keine gefunden, die meinen Geschmack getroffen hätte. Irgendwann war ich des Suchens müde, schaffte den Winter in altbewährter Kutten-Montur – und komme jetzt im Sommer weiterhin gut ohne Daunenjacke zurecht. Aber der nächste Winter kommt bestimmt.
Was mir Angst macht
Dominante Menschen, Unehrlichkeit, ungeklärte Beziehungen, Wut – meine eigene und die von anderen. Manchmal auch Krach, aber das spielt sich auf einer anderen Ebene ab. Und vielleicht noch ein paar andere Dinge…
Ähnlich, anders, ähnlich …
In einer Familie lebt man miteinander, was unter anderem bedeutet, sich gegenseitig zu beeinflussen und zu prägen:
War mein Verhalten als Mutter für meine kleinen Kinder größtenteils nachahmenswert, so geht es für Teenager darum, sich grundsätzlich anders zu entscheiden. Es sei denn, sie kommen – aus freien Stücken!!! – zu ähnlichen Entscheidungen.
Einer meiner Söhne isst seit einiger Zeit nur noch selten Marmelade und fast keine Süßigkeiten mehr. Noch dazu verzichtet er mit einer Entschiedenheit auf Zucker, die mich überrascht. Ich begrüße diese plötzliche Entwicklung, scheine aber nicht deren Auslöser zu sein.
Einerseits erlebe ich die Zurückhaltung meines Sohnes als ein wenig übertrieben – und nehme an, dass dieser Zustand nicht ewig anhalten wird. Andererseits fordert mich sein konsequentes Verhalten heraus: Ich nehme es zum Anlass, mich – in dem Fall – ähnlich bewusster zu ernähren. Sein Beispiel erscheint mir (zumindest teilweise) nachahmenswert.
Es ist immer noch ein Miteinander, nur irgendwie anders.