Nicht viel, sondern gezielt

Ein Freund von mir hatte im Herbst einen Bandscheibenvorfall. „Dagmar, ich habe einfach zu wenig Muskeln“, sagte er am Telefon (er hatte plötzlich viel Zeit zum Telefonieren), „ich habe nur gar keine Lust, meine Muskeln zu stärken. Es ist schade, dass Tennisspielen nicht ausreicht; ich mache nicht gern Gymnastik.“

Ich kann ihn verstehen: Auch ich mache nicht gern Gymnastik. Anstatt Tennis zu spielen laufe ich, aber leider ist das allein für einen ausgewogenen Muskelaufbau im Rücken- und Rumpfbereich ähnlich wenig hilfreich wie Tennis. Auch meine regelmäßigen Pilates-Einheiten retten mich nicht: Seit einigen Monaten habe ich – trotz aller Bewegung – Probleme mit dem Ischias-Nerv und zusätzlich einen sehr verspannten Rücken.

Ich befürchte, dass es mit unserem Alter zu tun hat: Wir bewegen uns fast noch so gern und viel wie früher, aber unser Körper ist anspruchsvoller geworden. Einseitige Bewegungsmuster gleicht er nicht mehr aus, sondern reagiert mit Überlastung oder Unterentwicklung – beides äußert sich in Schmerzen, die wir früher nicht hatten.

Seit dieser Woche gehe ich zur Physiotherapie. Nach der ersten Sitzung hatte ich drei Tage lang Druckschmerzen im Rücken – Physiotherapeuten haben starke Fingermuskeln. Ihre Lockerungshilfen kommentierte die Physiotherapeutin mit der dahingeworfenen Bemerkung, es könne dauern, die Verspannungen zu lösen, die ich mir jahrelang antrainiert hätte. Es war nicht vorwurfsvoll gemeint. Sie benannte nur, was ich nicht hören will: dass mein normales Bewegungspensum nicht nur gut tut. Offenbar werden trotz regelmäßiger sportlicher Bewegung bestimmte Muskelgruppen vernachlässigt; der Gesamtapparat „Körper“ versteift. Was früher funktioniert und ausgereicht hat, ist heute zu wenig.

Es gibt kein Patentrezept, aber es gibt ein Zauberwort: Mit zunehmendem Alter muss man gezielt etwas für die Beweglichkeit und die Muskulatur tun. Leider bedeutet das: Es reicht nicht, dass man sich einfach so und viel bewegt, sondern gezielt. Vielleicht sogar in Form von Gymnastik?

Ein Lächeln im Supermarkt

Ich gehe meist vormittags einkaufen, wenn die Regale voll, die Flure leer und die Verkäufer noch frisch sind. Ab und zu verschlägt es mich aber doch zur Feierabendzeit in einen Supermarkt – und jedesmal fällt mir ein Unterschied auf: Zum einen sind mehr Leute unterwegs, die gestresst wirken, weil sie schon einen Arbeitstag in den Knochen haben. Zum anderen sind Verkäufer unterwegs, die abgearbeitet wirken, weil sie schon einen Arbeitstag in den Knochen haben – und vielleicht sogar einige weniger angenehme Begegnungen mit gestressten Kunden.

Gestern Abend um 17 Uhr traf ich auf eine solche Kassiererin. Sie sah unkonzentriert und gelangweilt aus und starrte sekundenlang ins Leere, sobald ihre ansonsten automatisierten Handgriffe durchs Bezahlen kurz unterbrochen wurden. Ihr Blick schien ausdruckslos und abgeschlafft, das Gesicht ernst und abwesend. Während ich noch in der Schlange wartete, gab es offenbar einen Blickwechsel mit ihrer Kollegin an der anderen Kasse. Ohne Worte stahl sich ein Lächeln in das Gesicht „meiner“ Kassiererin – die Veränderung war frappierend: Die Mundwinkel gingen minimal in die Höhe (es war „nur“ ein Lächeln, kein Lachen), die Augen öffneten sich ein wenig, die Wangen wurden straffer, Lachfalten tauchten auf. Das ganze Gesicht sah schön aus, weich, freundlich, entspannt, wach.

So hatte ich die Frau noch nie gesehen – so schön! Ich glaube nicht, dass ihr in diesem Moment bewusst war, dass sie jemand ansah und sich über ihr Lächeln freute. Es war auch schnell wieder vorbei. Aber ich hatte es gesehen und musste ebenfalls lächeln, doch das hat niemand bemerkt. Oder? Wer weiß.

Mehr als nur putzen

Unsere vier großen Kinder müssen, dürfen, sollen abwechselnd eins unserer Badezimmer putzen. Jeder macht es ein bisschen anders gründlich, besonders gern macht es keiner von ihnen. Letzten Samstag war ein Sohn dran, der sich anschließend gebührend aufregte über „Mädchen-Haare, -Schminksachen und -Deos, die überall herumstehen oder -liegen“ und immerzu im Weg sind.

Als ich heute dieses Bad betrat und benutzte, freute ich mich darüber, wie sauber und aufgeräumt es ist. Und ich dachte: So sehr sie diese Aufgabe nervt, so schnell aus ihrer Sicht die vier Wochen vergehen, bis der Einzelne wieder dran ist – so wunderbar dient dieses Bad-Putzen ihrer Persönlichkeit. Den eigenen Dreck zu beseitigen ist nicht schwer; sich um die Hinterlassenschaften anderer zu kümmern – das ist die höhere Kunst der Lebensschule.

Keine Geschenke

Ich bekomme und mache gern Geschenke. Trotzdem fällt es auch mir manchmal schwer, zu einem bestimmten Zeitpunkt – Geburtstag, Weihnachten – gute Geschenk-Ideen zu haben. Meine Geschwister und ich beschlossen daher vor Jahren, uns gegenseitig keine Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke zu machen. Das ist praktisch, wir empfinden es alle drei als Entlastung.

Besonders zwischen meiner Schwester und mir bedeutet diese Regelung jedoch nicht, dass wir uns nichts zuschicken – nämlich unserer Meinung nach lesens- und empfehlenswerte Lektüre. Wir lesen beide gern; und obwohl unser Geschmack nicht immer absolut übereinstimmt, bereichern die Buchgeschenke der einen die Lese-Erfahrung der anderen. Diesen Sendungen liegt stets der Hinweis bei, die Gabe nicht (miss-)zu verstehen. „Liebe Dagmar, das ist kein Ostergeschenk…“, las ich entsprechend gestern in dem Brief, den ich aus dem Briefkasten fischte. Beiliegend fand ich ein Buch, über das wir kürzlich am Telefon gesprochen hatten.

Ich genieße diese „Briefe“ von meiner Schwester sehr, denn sie kommen immer unerwartet und überraschend. Wir schenken uns nichts, meine Schwester und ich: Wir machen uns nur gegenseitig regelmäßig ein Nicht-Geschenk und damit jedesmal eine große Freude.

Zeh-Beben

Jeder ist schon mal mit dem kleinen Zeh irgendwo hängengeblieben. Bettfüße, Türen oder Türrahmen sind besonders geeignet dafür – der Schmerz ist immer derselbe: Unerwartet, sehr stark, sich in Windeseile ausbreitend über den ganzen Fuß – mit dem Epizentrum im kleinen Zeh. Erst nach einem langen Moment klingt das Schmerz-Beben ab.

Manchmal mag der Zeh gebrochen sein, meist tut er einfach nur fies weh. Wie auch immer, der Effekt ist allumfassend: Aus dem vollen Lauf oder dem müden Geschlurfe wird ein plötzliches Innehalten; Geist und Körper sind hellwach und fokussiert darauf, den Schmerz auszuhalten.

Leider ist in solchen Fällen fast nie jemand da, dem man die Schuld geben könnte. Leider verschulden wir derartige Zusammenstöße fast immer selbst – durch Unaufmerksamkeit, Müdigkeit oder schlicht durch Eile. Nur sehr emotionale Menschen machen den Türrahmen (oder so) verantwortlich und schreien nicht nur ihren Frust heraus, sondern auch den „Verursacher“ an…

Politisch unkorrekt, aber witzig

Ein Freund von uns hat seit Weihnachten ein neues Auto, einen BMW X7. Mich interessieren Autos nicht so sehr; aber mein Sohn wusste: Dieser Wagen ist noch größer ist als der, den unser Freund vorher fuhr. Als ich zu dem neuen Fahrzeug gratulierte, kam schlagfertig: „Irgendwas muss man Greta ja entgegensetzen, oder?“

Die Antwort mag noch so unüberlegt oder unreif trotzig klingen – sie brachte mich zum Schmunzeln.

Verschleiß

Wir sind vermessen, wenn wir meinen, körperlich immer gleich belastbar zu bleiben. Alles nutzt sich ab. Es gibt nichts, woran der Zahn der Zeit nicht nagt: Tote Materie wie Papier, Metall, Keramik und Plastik verrottet irgendwann. Erst recht gilt das für lebende Dinge wie Zellen, Knochen, Gewebe und die Körper, die aus ihnen gemacht sind. Ähnlich geht es dem Geist: Flexibilität und dauerhafte Lernbereitschaft sind gute Voraussetzungen, gedanklich jung zu bleiben. Aber auch das hat Grenzen. Alles unterliegt der Vergänglichkeit. Trotz aller Reparatur oder Korrektur – altersgemäßer Verschleiß ist unvermeidbar.

Wenn Abnutzungserscheinungen (an Körper und Geist) offensichtlich werden, kann es attraktiver sein, zum eigenen Alter zu stehen, als sich selbst und der Welt immerwährende Jugendlichkeit vorzugaukeln. Das nennt man Würde. Ihr kann der Verschleiß nichts anhaben. Warum, weiß ich auch nicht.

Wahl-Qual

Eine meiner Töchter möchte neue Schuhe haben – ob sie auch neue braucht, sei dahingestellt. Gestern waren wir in zwei Läden mit einer schier überwältigenden Auswahl an Schuhen. Leider blieb unsere Einkaufstour trotz des großzügigen Angebots erfolglos, aber ganz knapp:

„Wenn es die Schuhe
auch in nicht glänzend,
ohne Reißverschluss,
mit anderen Schnürsenkeln,
in einer anderen Farbe,
mit einer schlankeren Sohle,
in nicht so teuer,
ohne diesen hässlichen Aufdruck

gäbe, das wäre super.“

Wer die Wahl hat, hat die Qual – und am Ende keine neuen Schuhe.

Voll peinlich

Vor einiger Zeit wurde ich gefragt, ob ich meinen Kinder peinlich bin. Na klar, dachte ich – welche Mutter ist ihren Kindern nicht peinlich? Ich rede in der Öffentlichkeit zu laut oder bewege mich im Takt der Musik, die in Verkaufshäusern aus den Lautsprechern schallt. Es kann auch sein, dass ich in einem Restaurant so laut über etwas Lustiges lache, dass meine Kinder mich zischend zur Ordnung rufen. Oder ich spreche Söhne oder Töchter in der Schul-Teeküche mit „Na, mein Schatz“ an – voll peinlich.

Aus Liebe zu meinen Kindern versuche ich, mich in ihrer Gegenwart anders zu verhalten. Es gelingt nicht immer. Dennoch bleiben sie in solchen Momenten voll nett und barmherzig mir gegenüber. Ich freue mich darüber, denn ich weiß: Innerlich sind sie voll genervt.

Wetterfühlig?

Gestern regnete es mehr oder weniger den ganzen Tag. Mal stärker, mal weniger stark, zwischendurch intensiviert zu einer Art Schneeregen. Morgens war ich noch halbwegs trocken mit dem Rad durch den Nieselregen gekommen; ab Mittag ging draußen gar nichts mehr.

„Na, traut ihr euch raus?“, schien das Wetter uns zu fragen.

Gegen das Wetter kann man nichts tun. Manchmal ziehen wir uns wetterfeste Jacken an und gehen trotzdem raus. Gestern nicht, gestern wirkte jeder Protest zwecklos.

Deshalb lautete unsere Antwort: „Nö, wir bleiben hier drinnen. Bei DEM Wetter kann man ja gar nichts machen!“

Gar nichts? „Stimmt nicht“, dachten wir und buken Zimtschnecken. Schon beim Backen wunderbar duftend, beim Essen noch warm, weich, locker und süß – lecker.

Als wir glückselig das Ergebnis unserer Back-Aktion verzehrten, hatte der schlimmste Regen sich verzogen. Das klang nach: „Wenn meine Bemühungen um eine Schlecht-Wetter-Stimmung so ins Leere laufen, habe ich keinen Bock mehr.“

Geht doch.