In der Stadt sitzen zwei ältere Frauen mit Kopftuch auf einer Bank. Sie halten Hefte mit Botschaften vor ihrem Körper: `Glücklich für immer´. Ich gehe langsam weiter, bis ich begreife, was an der Szene nicht passt. Dann drehe ich mich noch einmal um und schauen den beiden ins Gesicht. Es kann an der Hitze liegen, aber sie sehen müde aus, sehr ernst, vielleicht sogar frustriert. Jedenfalls kein klitzekleines bisschen fröhlich – geschweige denn glücklich. Am liebsten würde ich zurückgehen und sagen: „Gehen Sie nach Hause, mit diesen Gesichtern überzeugen Sie niemanden.“ Aber ich weiß, dass die zu erwartende übliche Diskussion in einer Sackgasse enden würde – und gehe weiter. Zwar bin ich weniger sicher als sie, ein Patentrezept für fortwährendes Glücklichsein zu kennen. Aber ihr Beispiel überzeugt mich nicht.
In der Arztpraxis
Eine Arzthelferin berichtet zwei anderen, dass etwas fehlt. „Hat der Herr* Doktor das nicht bestellt?“, fragt eine zurück. „Wenn keiner es dem Doktor sagt, kann er es nicht bestellen“, sagt die erste – und der Rest ist Schweigen. Irgendwie machen die drei dann weiter in ihrem Alltag, wahrscheinlich auch kollegial, effektiv und freundlich. Dennoch bin ich mir sicher: Friedemann** hätte seine helle Freude an einem ganz normalen Praxisalltag …
*Ich denke unwillkürlich an Obelix und sein `Herr Asterix´, wenn er sich über seinen Freund ärgert.
**Friedemann Schulz von Thun, der Kommunikationsexperte
Eigentlich
Wenn ich in Wald und Wiese unterwegs bin, habe ich kein Handy dabei. Ich will und muss nicht ständig erreichbar sein; das ging ja früher auch. Die zwei Frauen, die ich ab und an treffe, haben ihre Handys eigentlich auch selten dabei, sagen sie. Heute ist uneigentlich, denn: Nur so könnten sie sich spontan mit anderen Hundebesitzern zum gemeinsamen Gassi-Gehen verabreden. Aber eigentlich fänden sie es auch schöner, mal ganz ohne digitales Endgerät unterwegs zu sein. Da sei man mehr für sich, das habe was. Aber uneigentlich wäre es eben sehr praktisch, spontan noch mit anderen in Kontakt zu treten.
Ich kenne das Dilemma auch. Da will man zwar eigentlich ganz für sich sein, aber uneigentlich könnte es doch sein, dass irgendetwas wirklich Wichtiges passiert. Was aber ist so wichtig, dass es nicht eine Stunde (oder auch zwei) warten kann? Und wie viele eigentlich eher unwichtigen Nachrichten erreichen mich stattdessen, obwohl ich doch einfach mal meine Ruhe haben will?
Meist bin ich jedenfalls ganz vergnügt ohne Handy unterwegs – und habe nicht den Eindruck, etwas oder jemanden zu verpassen. Und eigentlich besteht immer noch die Möglichkeit, sich vorher mit jemandem zum Spazierengehen zu verabreden.
Nett und mehr
Beim Spaziergang sehe ich immer wieder dieselben Leute, unter anderem eine Gruppe von Frauen mit ihren Hunden. Man grüßt sich freundlich und höflich – mehr nicht. Heute war eine von ihnen allein unterwegs, ungefähr mein Alter, zwei Hunde. Als ich sie ansprach, guckte sie ein bisschen verhalten, als würde sie denken: Was will die jetzt von mir? „Ich finde, dass Sie einen ganz tollen Kleidungsstil haben“, sagte ich. Sofort verschwand die Skepsis und machte Platz für ein überraschtes breites Lächeln: „Oh, das ist aber nett, danke.“ Wir sprachen kurz weiter – über Problemzonen und altersangemessene Kleidung (und wo man die bekommt).
Bisher waren wir uns fremd: eine mit und eine ohne Hund, man grüßt sich – mehr nicht. Beim nächsten Treffen sind wir zwei Frauen mit einigen Gemeinsamkeiten. Und das alles nur, weil eine von uns der anderen etwas Nettes gesagt hat.
Friedemann und die Missverständnisse
„Was würde Friedemann dazu sagen?“, fragt mich mein Mann – und unwillkürlich müssen wir beide lächeln. Kommunikation ist schon lange und immer wieder Thema bei uns: Der eine sagt was, warum und wie, der andere hört was, warum und wie – und beides hat bisweilen kaum etwas miteinander zu tun. Wieso ist das so schwierig und, viel wichtiger. wie lässt sich das ändern? Vor kurzem hörte mein Mann (dienstlich) einen Vortrag von Friedemann Schulz von Thun; einiges war ihm schon bekannt. „Das hätte dich auch interessiert“, sagt er hinterher zu mir und meint: gutgetan.
Friedemann Schulz von Thun ist Kommunikations-Experte; von ihm stammt das Modell mit den vier Schnäbeln und den vier Ohren. Wir informieren, offenbaren uns, vermitteln Gefühle und Erwartungen – grob gesagt. Und wir hören ebenso. Die Krux ist, dass jeder anders tickt, anders geprägt ist und entsprechend konditioniert. Bestes Beispiel: „Die Ampel ist rot“, sagt der Beifahrer und kann sich dadurch als aufmerksamer Mitfahrer offenbaren, vielleicht auch als ängstlicher oder als bevormundender … Einige der möglichen Reaktionen sind: `Das hatte ich noch gar nicht gesehen, danke´ oder `Das sehe ich auch, lass mich in Ruhe´ oder `Oh, ich muss bremsen … oh, der andere will, dass ich bremse …´. Je nachdem, was genau und wie der Fahrer versteht, antwortet er – und sendet seinerseits eine Botschaft, die alles Mögliche an (nicht nur gedanklichen) Reaktionen in Gang setzt. Die Kunst ist es, transparent zu reden und zu hören; möglicherweise muss man dazu nachfragen. Missverständnisse haben es dann deutlich schwerer.
Bei uns geht es nie um Ampeln; wir lassen einander fahren und sitzen vergnügt (und still!) daneben. „Wir müssen noch dies oder das tun, uns hier oder dort melden, den Urlaub buchen etc.“ dagegen kommt ab und zu vor und löst eine Menge an Fragen aus: Wir? Wer genau? Wieso denkst du, dass ich dazu mehr Lust habe als du? Möchtest du, dass ich es tue? Warum sagst du das dann nicht? Und die erste Antwort beziehungsweise Gegenfrage, die inzwischen automatisch kommt, lautet: „Friedemann?“ Das bedeutet so viel wie: `Jetzt mal Butter bei die Fische.´ Im Ergebnis lächeln wir beide – und das hilft auch schon super gegen Missverständnisse.
Wir kennen uns (nicht)!
Auf dem Weg durch unsere Nachbarschaft begegnete mir vor ein paar Wochen eine Frau. Wir grüßten uns, weil man sich in der Nachbarschaft eben grüßt, dachte ich. Bis dato war sie mir nie als `hier um die Ecke´ ansässig aufgefallen. Die Frau erzählte ganz vertraut von ihrer Tochter – gerade so, als würde sie mich kennen. Ich dagegen konnte sie überhaupt nicht zuordnen und dachte: `Vielleicht ist es die Mutter irgendeines Mitschülers irgendeines unserer Kinder.´ So etwas passiert mir manchmal: Ich habe kein gutes Personengedächtnis und kann Menschen außerhalb des gewohnten Kontextes (in diesem Fall: vielleicht Elternabend?) schlecht zuordnen.
Heute saß dieselbe Frau aufgrund eines Stadtteilflohmarktes vor ihrem Haus. „Gerade habe ich zu Tina gesagt: `Dagmar war auch schon hier´“, ruft sie mir bei meinem zweiten Vorbeigehen zu. Welche Tina …?, frage ich mich, lasse mir meine Sprachlosigkeit nicht anmerken, lächle und nicke freundlich. Sie kennt nicht nur mein Gesicht, sondern auch meinen Namen – und wahrscheinlich noch viel mehr. Ich kenne nur ihr Gesicht (und auch das erst neuerdings) und bin gespannt, wohin sich unsere Bekanntschaft noch so entwickelt.
Nur das nicht!
„Ich möchte nicht nur mit den Kindern zu Hause bleiben …“, sagt eine junge, (noch) kinderlose Frau zu mir. Sie weiß, dass ich lange nicht berufstätig war; in der Vergangenheit sprach sie immer positiv von dem, was ich `geleistet habe´. Wahrscheinlich war das ernst gemeint und dennoch wirkt sie jetzt fast entrüstet: Nur mit den Kindern zu Hause bleiben, das klingt nach sehr wenig und kann einem nicht reichen – ihr jedenfalls nicht.
Eventuell gehört sie zu den Frauen, die gern berufstätig sind und (oder: weil sie) ihren Traumjob gefunden haben. Vielleicht geht es ihr auch darum, selbst Geld zu verdienen für all das, was man heute so braucht. Alles ist in Ordnung – bis auf das Wörtchen `nur´, es stört mich. Ich würde niemandem sagen: `Eh, du gehst nur ins Büro, arbeitest nur bei der Müllabfuhr, bist nur Lehrer für Kunst …´
Nur macht aus mit den Kindern zu Hause eine Tätigkeit, die auf keinen Fall gleichwertig ist zu anderen Jobs. Unabhängig davon, ob und wofür das Geld am Ende des Monats reicht oder nicht, was (nebenbei gesagt) vollkommene Privatsache ist: Sich ohne Entgelt um den eigenen Haushalt und Kinder zu kümmern (ob als Vater oder Mutter) hat keinen Wert an sich. Es sei denn, man bemüht sich um Haushalt und Kinder anderer Menschen und bekommt dafür Geld. Das eine ist offenbar Arbeit und das andere nicht – ich verstehe nur nicht, wieso.
Tolles Material – und wunderbar weich!
Im Geschäft stehe ich vor den Sommerkleidern und suche ein reduziertes, auf das ich im Internet gestoßen war. Leider finde ich es nicht, sondern hauptsächlich nicht-reduzierte Modelle – noch dazu nicht ganz in meiner Größe. „Das ist ein ganz tolles Material“, sagt die Verkäuferin, „der Stoff fließt wunderbar und ist ganz weich.“ Damit hat sie recht und ich gehe mit zwei Teilen in die Kabine. „Sitzt es?“, klingt es mir hinterher. Ich finde das erste Kleid zu groß und zeige, wo und warum. Das müsse so sein, lautet die Antwort: „Sie könnten ja diese Falte hier mit ein paar kleinen Stichen fixieren, das kann man machen.“ Sicher nicht, denke ich; ich möchte, dass es ohne Nacharbeiten passt.
Die Verkäuferin sieht mein Zögern und legt nach: „Das ist ein ganz tolles Material, der Stoff fließt wunderbar und ist ganz weich.“ Aha, genau, das stimmt, aber auch das zweite Kleid passt mir nicht wirklich – diesmal sind es Farbe und Preis. „Ich schau mal, ob das reduzierte Kleid, das Sie suchen, noch in einer anderen Filiale verfügbar ist“, sagt die Verkäuferin und geht zum Computer. Eine Kollegin hilft – jetzt kümmern sich zwei Damen um mich: „Das ist ein ganz tolles Material …“ Ich weiß, ich weiß, so langsam geht mir dieses geschäftstüchtige Gerede auf den Keks. Ein paar Minuten später verabschiede ich mich; meine Bestellung ist auf dem Weg. In einer Woche rufen sie mich an, aber mit `wunderbar weich´ sollte mir dann bitte keiner kommen!
Antanzen
„Ich will aber nicht schon so früh antanzen“, schreibt meine Freundin, und es versetzt mir einen Stich. Wir haben ein kleines gemeinsames Projekt; vielleicht habe ich ein wenig mehr den Hut auf. Es geht darum, wann wir uns am nächsten Morgen treffen – ihr ist mein Vorschlag offenbar zu früh. Das wäre kein Problem, man kann ja unterschiedlich viel letzte, individuelle Vorbereitung benötigen. Aber ihre Formulierung trifft mich doch, denn ich lasse sie nicht `antanzen´. Ich lade höchstens ein oder schlage vor oder bitte sie. Meine spontane Reaktion ist dann auch unangemessen: Dann komm doch auf den letzten Drücker, denke ich nämlich, ich schaff das auch alleine!
Glücklicherweise sage ich nicht, was ich denke, sondern spreche an, was `antanzen´ in mir auslöst. So hatte sie es natürlich nicht gemeint; mein Verstand weiß das auch. Trotzdem bleibt da ein klitzekleiner Rest an Unbehagen. Aber am nächsten Morgen kommt sie lachend und augenzwinkernd angetanzt – buchstäblich. Und dann ist wirklich alles wieder gut. Ich hoffe, in Zukunft klingt etwas von diesem Amüsement in mir nach, wenn es darum geht, irgendwo antanzen zu müssen.
Einer kann (nicht), ein anderer kann´s einrichten …
„Wenn du wirklich gar nicht kannst, kann ich das übernehmen …“, schreibt eine Bekannte. Und ich denke unwillkürlich, das ist ein Wolf im Schafspelz beziehungsweise eine Absage verpackt in einer Zusage. Ich empfinde ihre Worte als freundlich, aber dennoch unmissverständlich – und leicht manipulativ. Habe ich eine Wahl? Ja, man hat immer eine Wahl, aber diese hat einen Preis: Entweder ich sage zu und setze mich in diesem Fall fünf Stunden ins Auto, obwohl ich meinen Samstag auch zu Hause gut füllen kann. Oder ich sage ab und riskiere ein schlechtes Gewissen. Denn, wer kann schon `wirklich gar nicht´? Ich kann manchmal (und so auch dieses Mal) höchstens `nicht so gut´, was soviel heißt wie: „Ich hätte eine bessere Alternative!“ Von dort bis `wirklich gar nicht´ kann ich eine ganze Menge einrichten.