Blind audition

Um eine Stimme oder die Fertigkeit an einem Instrument vorurteilsfrei beurteilen zu können, gibt es heutzutage etwas, das nennt sich „blind audition“, was soviel wie „Blindes Vorsingen/Vorsprechen“ bedeutet. Orchestermusiker werden teilweise so berufen, um geschlechtsspezifische Vorbehalte der Jury von vornherein auszuschließen. Auch sogenannte Castingshows bedienen sich dieses Hilfsmittels, um sich nicht von dem optischen Eindruck ablenken zu lassen, den ein Kandidat macht.

Es ist nun einmal so, dass wir Menschen mit allen Sinnen zur Kenntnis nehmen und eben nicht nur das: Wir fällen Urteile in Sekundenbruchteilen. Am schnellsten nimmt das Auge wahr, das Ohr ist langsamer. Gefällt uns, was wir sehen, hat das, was wir hören, eine gute Chance, positiv bewertet zu werden. Erleben wir den optischen Eindruck als abstoßend, wird vorurteilsfreies Hören schwierig – egal wie schön klingt, was unsere Ohren erreicht. Nicht alle können sich frei machen von dem Gesamteindruck, den ein Mensch hinterlässt – und der wird maßgeblich von unserer Sicht bestimmt.

Kürzlich habe ich erlebt, dass das nicht nur für Töne, sondern auch für die Formulierungsfähigkeit gilt – jedenfalls bei mir: Ich habe eine Mail gelesen von jemandem, den ich nicht kannte. Der Schreibstil war besonders, erfrischend leicht, humorvoll, lebendig und mich sehr ansprechend. Wunderbar. Einige Wochen später habe ich den Menschen dazu kennengelernt. Dieser wirkte auf den ersten Blick introvertiert und eher nicht gesprächig. Die Stärken dieser Person liegen nicht in der persönlichen Begegnung – zumindest nicht in der ersten. Ohne die besagte Mail wäre mein Eindruck ein ganz anderer als mit und mein Interesse auch. Ohne die besagte Mail würde ich vielleicht keine weitere Begegnung wünschen oder gar initiieren. Es wäre schade um den Kontakt, aber das weiß ich nur, weil der Mensch die Chance einer „blind audition“ bei mir hatte…

Nicht ohne Genitiv

Es gab mal ein Buch, das hieß „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ von Bastian Sick. Ich las es vor Jahren und fand es amüsant. Es ging natürlich um den Genitiv, aber ebenso um einige andere Regeln der Deutschen Sprache. Nicht alle waren mir so präsent wie dem Autoren, nicht alle hätte ich so gut und leicht lesbar zu Papier bringen können. Aber in der praktischen Umsetzung der Grundsätze meiner Muttersprache fühlte und fühle ich mich sicher.

Kinder lernen das Sprechen so nebenbei. Sie plappern nach, was sie hören. Wenn sie klein sind, unterlaufen ihnen Fehler, Eltern wiederholen ohne Fehler – und schwupps: Irgendwann sprechen Kinder dann so richtig oder falsch wie ihre Eltern. Keine Regel war dabei so oft in unserem Mund wie dieses eine Wörtchen und wie es nach ihm weitergeht – wegen plus Genitiv. Es hat gedauert, aber irgendwann mussten wir die Kinder nicht mehr korrigieren.

Andere Menschen verbessere ich natürlich nicht. Das wäre komisch; und obwohl es mir manchmal auf der Zunge liegt, halte ich mich zurück. Nur Autoren korrigiere ich, beim Vorlesen. Ich bringe diese Verbindung einfach nicht über die Lippen – wegen plus Dativ, obwohl sie penetrant um sich greift.

Sprache entwickelt sich weiter. Und ich versuche, Schritt zu halten. Vielleicht ist es schon korrektes Deutsch, wegen dem Baum zu sagen. Für diese Anpassung des Regelwerks an die vorherrschenden Gegebenheiten bin ich definitiv zu alt. Oder zu stur.

Begegnung und Zeit

Meine Busreisen-Erfahrung ist limitiert. Während einer Flixbus-Fahrt nach Berlin bekam ich vor kurzem trotzdem einen interessanten Einblick in diese Form des Unterwegs-Seins. Man sitzt dicht zusammen in einem Bus und kann nicht – wie im Zug – in ein anderes Abteil wechseln oder allein im Gang stehen. Während der viereinhalb Stunden wechselten meine Mitreisenden: Da gab es einen, der an der Uni Zürich promoviert, aber gerade die alte Heimat besuchte. Weltoffen, alternativ und gesprächig – der Typ Mensch, mit dem ich in meinem Umfeld selten in Berührung komme. Außerdem mit uns im Bus reiste eine Oma (mit Handy) mit ihrem Enkel (eindeutig von ADHS betroffen). Ich fragte mich, welche Zuwendung für das Kind noch besser wäre und ob es für ihn jemals eine Ruhepause gibt. Eine etwas über 70-jährige Witwe fing jeden zweiten Satz mit „Ich bin der Meinung“ an – auch sehr gesprächig. Ein jüngerer Mann dagegen sprach kein Wort, sondern hatte mit seinen digitalen Medien zu tun. Alle Begegnungen ließen die Zeit schneller vergehen.

Wegen eines Staus auf der Autobahn fuhr unser Busfahrer von dieser ab sowie zielsicher und zügig durch das Hinterland von Sachsen-Anhalt und brachte uns mit nur wenig Verspätung nach Berlin. Als ich mein Gepäck auslud, bedankte und verabschiedete ich mich bei ihm. Vielleicht war ich die Einzige? Er lächelte erstaunt und sah mich an, wir wünschten uns einen guten Tag. Diese Begegnung ließ die Zeit für einen Moment stillstehen.

Aufwand und Nutzen

Mein Mann und ich fahren zu einer Geburtstagsfeier in eine Stadt, die 450 Kilometer entfernt von uns liegt. In ihr haben wir beide vor über 20 Jahren gewohnt, es leben noch Freunde dort. Mittlerweile kommen wir selten dahin, sehr selten: Der Geburtstag ist ein guter Anlass, alte Weggefährten mal wieder persönlich zu treffen.

Insgesamt sind wir etwa 30 Stunden weg, von denen sitzen wir neuneinhalb im Auto – wir sind gut durchgekommen. Dennoch ist die Fahrt anstrengend: Da die Infrastruktur in Deutschland nicht im besten Zustand ist, wird an vielen Stellen an ihr herumgewerkelt.

Viereinhalb Stunden „dauert“ die Feier. Wir treffen alte Bekannte wieder und Menschen, die wir noch gar nicht kennen. Die Gespräche sind unterschiedlich intensiv, erfordern aber alle auf ihre Art unsere Aufmerksamkeit und Initiative. Mit dem Geburtstagskind haben wir am wenigsten zu tun; allerdings hatten wir das vorher geahnt.

Sechs Stunden schlafen wir – eindeutig zu wenig, aber mehr ist einfach nicht drin.

Die restlichen zehn Stunden sind wir zu Besuch und im Gespräch mit einem Freund, bei dem wir übernachten können. Anfangs müssen wir uns herantasten, wir haben uns lange nicht gesehen. Am Ende sind zehn Stunden nicht genug.

Vom Verstand her ist es ein immenser Aufwand für ein paar Stunden Zusammensein.

Vom Gefühl her hat es den Beziehungen zu unseren Freunden genutzt, dass wir uns mal wieder persönlich begegnet sind.

Ohne Antwort

Meine Briefe bleiben heutzutage in der Regel ohne Antwort, kaum einer meiner (Brief-)Freunde schreibt zurück. Es ist viel leichter und schneller und mit weniger Aufwand möglich, über andere Kommunikationswege miteinander in Kontakt zu treten. Allerdings: Fürs Telefonieren scheint nie der richtige Zeitpunkt zu sein; private Mails werden ebenso unzuverlässig beantwortet wie Briefe – sie gehen unter in der Flut der digitalen Informationen; auch SMS verhallen bei „ganz modernen Menschen“ ungelesen. Das einzig Wahre sind angeblich WhatsApp-Nachrichten. Ich habe keine Erfahrung damit, ob diese noch zwingend beantwortet werden – ich nutze diesen Messenger-Dienst nicht. Es gibt jedoch Menschen, die sich diesbezüglich sehr um mich bemühen und versichern, auf eine WhatsApp-Nachricht von mir würden sie sofort reagieren. Ob ich das glauben kann?

Noch wehre ich mich, noch verweigere ich mich. Ich will nicht derart vernetzt sein. Da bleibe ich doch lieber ohne Antwort. Selbst Schuld.

Klar und schön

Ich mag es, wenn Menschen sich gut ausdrücken, wenn etwas schön klingt. Ich mag klar gewählte Worte. Damit meine ich keine besonderes intelligente Sprache: Klar kann einfach und darf nicht kompliziert sein, meist auch kurz. Ich möchte verstehen, was gesagt oder geschrieben wird, ohne lange darüber nachdenken oder ein Fremdwörterbuch zu Hilfe nehmen zu müssen.

„Gönn dir“, schallt es manchmal durch unser Haus. Das ist kurz und klar, aber schön finde ich es nicht. „Mach mal kein Auge“, ist auch kurz, aber weder schön noch leicht verständlich. Aus „echt krass“ sind wir rausgewachsen. Mal sehen, was sonst noch so kommt an „klar, aber nicht schön“.

Fragen und Antworten

„Mama, du antwortest oft so ausführlich, dass ich mir genau überlege, ob ich die Frage überhaupt stellen will“, findet eine unserer Töchter, „Papa dagegen sagt manchmal nur das Allernötigste.“

Nun bieten wir schon zwei Antwort-Varianten, aber den Kindern gefällt weder die eine noch die andere. Immerhin wissen sie, dass sie alles fragen können.

Praktisch?

„Macht ihr heute Abend was zusammen, deine Freunde und du?“, frage ich meinen Sohn. „Ich weiß es noch nicht“, lautet die Antwort. „Wann weißt du das?“, versuche ich es weiter. „Das weiß ich auch noch nicht“, sagt er und grinst. „Mama, es ist nicht so einfach mit meinen Leuten. Das läuft alles ganz spontan.“

Ich habe eher den Eindruck, da läuft manchmal gar nichts vor lauter Spontaneität und „last minute“-Verhalten. Es könnte mir egal sein; es ist schließlich auch in Ordnung, nichts zu unternehmen. Trotzdem ist mir dieses Miteinander heutzutage ein Rätsel. Wahrscheinlich habe ich zu wenig Einblick, wie das mit den verschiedenen WhatsApp-Gruppen funktioniert, wer initiiert, wer reagiert, und wie es dann letztlich zu einer Entscheidung kommt. „Treffen wir uns?“, ist ein komplizierter Vorgang geworden, der tendenziell viel Zeit kostet. Dabei sollen die sozialen Medien doch letztlich praktisch sein und eine große Zeitersparnis. Sie bieten schließlich diverse Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu treten.

Aber vielleicht ist „praktisch“ gar nicht das, was heutzutage zählt. Vielleicht ist „praktisch“ die Denke einer Frau aus dem letzten Jahrhundert. Bei der Wahl der Kommunikationsmittel scheint es nicht um den Nutzen zu gehen, sondern um das Benutzen.

Gleich

Für mich beinhaltet das Wort „gleich“, dass ich etwas „ziemlich bald“ erledigen werde. Das mag abstrakt klingen, ist für mich aber sehr konkret. Schon „in zwei Stunden“ fällt für mich nicht mehr unter „gleich“ und morgen erst recht nicht.

Bei kleinen Kindern dauert „gleich“ manchmal länger als bei mir. Sie vergessen sich – und dann ist „gleich“ schon vorbei. Sie machen das nicht absichtlich, es passiert einfach – und ein wenig habe ich meine eigenen Kinder manchmal beneidet um dieses Absorbiertsein im Spiel, um diese Gedankenlosigkeit, um diesen Fokus auf ihr Tun: All das hatte der Unterbrechung durch mich außerordentlich viel Widerstand entgegenzuhalten – ohne dass sie sich dessen auch nur bewusst waren. Ihr Ziel war es nicht, mich zu ärgern, zu ignorieren oder sonstwas. Sie ließen sich nur nicht wirklich herausreißen aus ihrem Tun, wollten aber auf mich reagieren und wahrscheinlich auch „gleich“ kommen.

Teenager sind ein anderer Schnack. Sie verstehen „gleich“ anders. Für sie ist „gleich“ ein sehr dehnbarer Begriff. Sie müssen nicht unbedingt besonders fokussiert bei einer Sache sein, um mütterliche Aufforderungen zu ignorieren. „Gleich“ wird von ihnen eher als Hinhaltetaktik benutzt. „Gleich“ kaschiert eine gewisse Verweigerungshaltung, die Jugendliche gern zu Hause einnehmen. Dahinter steht: „Ich will eigentlich nicht das Bad putzen/den Ranzen auf mein Zimmer bringen/den Tisch decken/Vokabeln lernen …“ Um den offenen Konflikt zu vermeiden, gibt es verschiedene Strategien. „Gleich“ ist eine davon. Sie ist gar nicht böse gemeint, bringt mich aber trotzdem manchmal auf die Palme.

Ganz ehrlich

Ich finde, ich kann nicht gut malen. Überhaupt nicht, ganz ehrlich. Pferde, Hunde, Katzen, Kühe und Schafe – alle sehen gleich aus. Häuser gehen, aber die Proportionen für die Fenster sind meist total unrealistisch. Ausmalen kann ich, das ist alles. Wenn ich meinen eigenen noch kleinen Kindern früher sagte, ich könne nicht gut malen, reagierten diese mit Empörung. Nach dem Motto: „Mama, wenn du nicht gut malen kannst, wie sehen meine Bilder dann aus?“ Verglichen mit einem kleinen Kind kann ich ein bisschen besser malen. Ihnen gegenüber zu behaupten, ich könne es gar nicht, hat sie entmutigt – also habe ich es nach einer Weile nicht mehr getan.

Mein Mann kann viel besser Mathe als ich, aber er sagt, er halte sich diesbezüglich für nicht sonderlich schlau. Er ist darin ganz ehrlich, aber mir tut diese Ehrlichkeit nicht gut: Sie lässt mich zweifeln, ob ich mein Mathe-Abi überhaupt verdient habe.

Letztens schrieb ich in einem Brief an eine ältere Dame ganz ehrlich, dass ich mein Alter spüre. Körperlich und geistig. Ich schrieb: „Ich bin in einer Lebensphase, in der Routine den Schwund an geistiger Beweglichkeit noch wettmacht; ich hoffe, ich merke, wenn dem nicht mehr so ist.“ Ich habe den Brief nicht abgeschickt. Ich horchte hinein in die 80-Jährige und wusste nicht, wie sie mit meiner ehrlichen Meinung zu mir selbst umgehen würde. Ob sie sich infrage gestellt fühlte ob ihres eigenen Alters und ihrer eigenen Geistesfrische.

Ganz ehrlich zu sein ist oft erfrischend und manchmal trotzdem nicht angebracht.