Sisyphos

Ich liebe die deutsche Sprache und habe ein Faible für schöne Formulierungen – vor allem in geschriebenen Texten. Außerdem ist mir die richtige Schreibweise wichtig; ich lese gern und oft Korrektur. In dem Weihnachtsbrief, den wir an über 80 Leute verschicken, ist mir leider dennoch ein Fehler unterlaufen: Ich habe Sysiphus geschrieben und meinte Sisyphos. Das u würde ja noch gehen – latinisiert heißt es gern auch Sisyphus-Aufgabe. Aber i und y sind in jedem Fall vertauscht. Ich bin sicher, die meisten Empfänger des Briefes werden es nicht merken; mir ist es dennoch unangenehm. Jetzt bin ich die, die nicht weiß, wie man Sisyphos richtig schreibt. Dabei stimmt das gar nicht (mehr)! Aber das ließe sich nur klären, würde ich den Fehler in allen Kopien korrigieren – fast eine Sisyphos-Aufgabe.

Geringfügig

„Mach doch bitte ein paar Bilder von deinem Eltern. Euch eine gute Zeit zusammen. Der beste Ehemann auf den Planetem“, schrieb mir mein Mann am vergangenen Wochenende. Ich musste schmunzeln – die Fehler waren gewollt: Er liebt es, Dativ- und Akkusativ-Endungen zu vertauschen. Manchmal fragt er, was `dort auf den Zettel steht´ oder – heute beim Haare-Schneiden – `wo er jetzt hin soll mit seinen Kopf´. Er liebt so etwas: Eine geringfügige Veränderung hat eine durchschlagende Wirkung – ich reagiere IMMER darauf. Nach Meinung meines Mannes belebt das die Kommunikation und sorgt für Erheiterung und Entspannung. Ich höre jedes Mal das Schmunzeln in seiner Stimme (und muss selbst lächeln). Was ursprünglich der Auslöser war für diese Marotte, weiß er selbst nicht mehr. Vielleicht ein Schüler zu viel, der am Lehrerzimmer den Wunsch äußert, `Herr Sowieso´zu sprechen. Auf jeden Fall nutzt mein Mann mittlerweile sehr oft die Gelegenheit, n und m zu vertauschen – am liebsten in Possessivpronomen.

Ich bin froh, dass sein Vorbild die Sprache unserer Kinder nicht mehr negativ beeinflusst. Sie können ebensogut wie ich unterscheiden, was richtig ist und was nicht – und lächeln über die verbalen Kapriolen ihres Vaters. Weniger amüsant finde ich, dass er inzwischen (quasi offizielle) Verstärkung erhält: In unserer Zeitung fand ich diese Woche zwei Überschriften(!), die meinen Mann in seinem Spleen bestätigen. Eine davon lautete: `Geringfügigen Gebrauchsspuren sind erlaubt´.

Verbrannte Erde

Zwei Menschen sind nie komplett einer Meinung – und liegen sehr selten Welten auseinander. Um miteinander im Gespräch zu bleiben, sollten wir uns nicht auf die Unterschiede konzentrieren, sondern auf die Gemeinsamkeiten: „Ich kann verstehen, dass du das so siehst“, hätte ich sagen können, als ich kürzlich mit jemandem uneins war – aber ich habe es nicht getan. Stattdessen habe ich meine Position dargelegt und verteidigt. Jetzt haben wir in unserer Kommunikation etwas `verbrannte Erde´, um die wir beide in Zukunft einen Bogen machen werden. Im Nachhinein tut mir mein mangelndes Feingefühl leid: Hinterher und in der Theorie ist man immer klüger.

Zweierlei Maß?

Vor einem halben Jahr übten einige Künstler Kritik an den Corona-Maßnahmen – mittels ironischer Videos, die sie ins Internet stellten. Unmittelbar darauf konnte man in den öffentlichen Medien Reaktionen darauf lesen oder hören: Die Beteiligten wurden heftig angegriffen und für ihre Aktion verurteilt. Diese sei sowohl in der Sache als auch im Stilmittel der Ironie völlig unangemessen gewesen, hieß es. Einige der Beteiligten zogen sich daraufhin sofort zurück, andere wurden wochenlang öffentlich beschimpft.

Vor ein paar Tagen übte eine Journalistin Kritik am Verhalten der Ungeimpften – mittels einer anderthalb minütigen, fast schon aggressiven Hetz-Tirade. Im ersten Moment hielt ich ihre Äußerungen für eine Parodie. Aber die Frau meinte ernst, was sie sagte: dass alle Ungeimpften sich unsolidarisch verhielten und Schuld seien am Tod tausender Menschen. Die Frau verkündete ihre Meinung in unmissverständlichem Ton – nämlich wütend, herablassend und anklagend. Ich fand ihre Äußerungen sowohl in der Sache als auch im Ton völlig unangemessen; anderen geht es ebenso. Aber bis heute habe ich in den öffentlichen Medien keinerlei Reaktion zu diesem Kommentar gelesen – niemand schimpft.

Beifang

„Weißt du schon, wie viele Klausuren du heute schaffen willst?“, frage ich meinen Mann. „Vier“, lautet die Antwort. Ich bin überrascht, denn normalerweise beantwortet er Fragen `sprachökonomisch´ – in diesem Fall hatte ich mit einem knappen Ja oder Nein gerechnet. Mein Mann lächelt, als ich ihn auf dieses freiwillig gelieferte MEHR an Information anspreche: „So mache ich das manchmal; du kannst es als `Beifang´ in Kommunikation verstehen.“ Dieser Tag fängt schon sehr gut an!

Dazwischen

In einer Zeitschrift lese ich, dass man manchmal einfach helfen sollte, anstatt Hilfe nur anzubieten. „Melde dich, wenn du was brauchst“, könne man stecken lassen, steht da, das sei oft zu viel Wort und zu wenig Tat. Da ist was dran: Es fällt uns schwerer, um Hilfe zu bitten, als sie einfach dankend anzunehmen – wahrscheinlich vor allem, wenn wir besonders hilfsbedürftig sind.

Andererseits gibt es auch zu wenig Wort und zu viel Tat: Wer genau weiß, was mir gut tut, kann mit einem `Nein, danke!´ oft nicht gut umgehen. Diese Erfahrung hat es mir schon manchmal schwer gemacht, frei zu entscheiden, ob ich ein Hilfsangebot annehmen möchte oder nicht.

Optimal ist die goldene Mitte: in der Tat zupackend und im Wort einfühlsam, erwartungsfrei und ehrlich.

Peinlich

Unser Sohn hat ein Fußballspiel; die Mannschaften sind ausgeglichen stark. Jeder will gewinnen, aber die einzelnen Spieler haben Spaß und gehen fair miteinander um. Natürlich sind Emotionen `im Spiel´: Kampfgeist, Frust, Leidenschaft, Enttäuschung und Begeisterung wechseln sich ab – manchmal binnen weniger Minuten. Soweit ist alles normal und wunderbar und sorgt für intensive, aber sportliche Stimmung.

Oft zeigen vor allem Eltern spielender Fußballer ein starkes Engagement, das ist großartig. Sie ermutigen und trösten ihre eigenen Kinder. Auch das ist normal und wunderbar. Leider bleibt es nicht bei positiver Verstärkung; einige Spielereltern lassen kein gutes Haar an der gegnerischen Mannschaft und kritisieren die meisten Schiedsrichter-Entscheidungen. Zudem kennen sie sich in allem besser aus als der Rest und sind laut dabei: Wann ist der Ball im Abseits; was ist ein Foul – und was nicht; wie, was und wann sollte der Schiedsrichter pfeifen? Am Spielrand sind ebenfalls Emotionen `im Spiel´: Wut, Begeisterung, Überheblichkeit, Aggression, Schadenfreude wechseln sich ab – manchmal binnen weniger Minuten. All das mag normal sein, ist aber keineswegs wunderbar, sondern unsportlich: Es sorgt eher für schlechte Stimmung.

Auch ich schaue zu und bin emotional beteiligt. Trotzdem halte ich mich verbal zurück. Ich kenne mich nicht genug aus und empfinde viele Bemerkungen als unsportlich. Vor allem ich weiß, dass mein Sohn die meisten Einmischungen vom Spielfeldrand nicht schätzen würde – sie wären ihm peinlich …

Ins Wort schreiben

Gespräche laufen besser, wenn man sich gegenseitig ausreden lässt: erst reden, dann zuhören, dann antworten. Leider wird heutzutage in Talkshows genau das Gegenteil praktiziert. Obwohl das wahrscheinlich alle Teilnehmer nervt und noch dazu die Zuschauer am heimischen Bildschirm, scheint es selten anders zu gehen – was vielleicht mit Einschaltquoten zu tun hat.

In der schriftlichen Konversation ist das Nacheinander einfacher zu praktizieren: Wenn ich einen Brief erhalte, ist der andere `fertig´; ich kann zwar zügig antworten, ihm aber nicht `ins Wort schreiben´. Selbst schnell übertragene Mails laufen nach dem Schema: erst schreiben, dann lesen, dann antworten.

Unterhaltungen per SMS, WhatsApp, Threema etc. sind eine Mischung: persönlichen Gesprächen im Tempo sehr ähnlich, aber schriftlich geführt. Sie eignen sich hervorragend für den schnellen Austausch zwischendurch – und leider auch wunderbar zum Unterbrechen: Da diese Kurznachrichtendienste vor allem für spontane Mitteilungen genutzt werden, versendet man leichter auch Gedanken, die vielleicht nicht gut überlegt und vor allem nicht fertig gedacht sind. Mir geht es jedenfalls so. Dann `lege ich nach´ und schreibe den nächsten Gedanken direkt hinterher – und versende ihn ebenso. Gleichzeitig trudelt aber manchmal schon die erste Antwort meines Gegenübers ein. Daraus entwickelt sich bisweilen ein lustiges Hin-und-Her-Geschnattere am Handy: schreiben (1), schreiben (2), lesen (1), antworten (auf 1), lesen (2), schreiben (3 auf Antwort 1), antworten (auf 2), lesen (3), antworten (auf 3) …

Sich digital `ins Wort zu schreiben´, überfordert nach kürzester Zeit auch den versiertesten Kommunikator. Ich verliere dabei schnell den Überblick und breche ab – oder rufe den anderen an. Sich im persönlichen Gespräch ins Wort zu fallen, ist ebenso unübersichtlich und außerdem ziemlich unhöflich – übrigens auch in Talkshows.

Folgenschwer

„Ich habe das nicht gemacht“, sagt eins meiner Kinder zu mir. Es ist gelogen – und das wissen wir beide. Ich bin enttäuscht und staune gleichzeitig, wie wenig diesem Kind die Lüge auszumachen scheint: Immerhin habe ich mehrmals nachgefragt und um Blickkontakt gebeten.

Die Tat selbst hat keine Folgen – weder finanziell noch in anderer Hinsicht. Die Lüge dagegen `macht´ etwas: Sie beschädigt unser Vertrauen. Das ist ein hoher Preis angesichts dessen, worum es geht. Es kann aber sein, dass nur ich das weiß.

Zermürbungstaktik

Ein Hauptstadt-Korrespondent wettert in unserer Tageszeitung schon seit einiger Zeit gegen die Ungeimpften. Gestern las ich von ihm, dass offenbar nur noch diejenigen sich nicht impfen lassen, die sich `grundsätzlich verweigern, weil sie irren Verschwörungstheorien glauben oder Impfungen generell ablehnend gegenüber stehen´. Und bei denen helfe nur noch eins, nämlich eine Zermürbungstaktik– `als befänden wir uns im Krieg´, denke ich.

Drei Gründe führt er an: Die Geimpften fürchten sich vor einer Infektion durch die Ungeimpften. Die Ungeimpften verhindern, dass die Geimpften ihre Normalität wieder bekommen. Drittens müssen die Geimpften die `exorbitanten Kosten´ mittragen, die Ungeimpfte im Falle einer schweren Covid-19-Erkrankung verursachen.

Er findet daher, dass nicht weiter auf die Befindlichkeiten der Ungeimpften Rücksicht genommen werden könne. Es helfe nur, den Druck zu erhöhen – durch 2G, durch kostenpflichtige Tests, durchs Streichen der Lohnfortzahlung im Falle von Quarantäne. Zermürbungstaktik eben.

All das klingt, als würden sich Menschen nicht impfen, weil sie die Geimpften irgendwie ärgern wollen: Ließen sich mehr Leute impfen, ginge es den anderen Geimpften in jeder Hinsicht besser. Die Geimpften denken in dieser Diskussion offenbar sehr an sich – und die Ungeimpften sollten möglichst auch sehr an sie denken.

Es funktioniert: Mich zermürbt diese Denke, diese Schuldzuweisung, dieser ständig spürbare Druck, dieses Stigmatisieren. Ich bin ein bisschen wütend, aber – ganz ehrlich – eher traurig, dass wir hierzulande so mit Andersdenkenden umgehen. Die meisten Ungeimpften sind keine Verschwörungstheoretiker oder generelle Impfgegner. Sie haben andere Gründe, sich (vielleicht im Moment) nicht impfen zu lassen. Das scheint nicht mehr ihr gutes Recht zu sein, sondern Grund, sie fortwährend und immer massiver in die Ecke zu drängen. Es ist sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis der eine oder andere aufgibt – und sich doch impfen lässt. Das würde die Impfquote erhöhen, aber ich bezweifle, dass man das einen `Erfolg´ nennen sollte: Langfristig stärkt es eine Gesellschaft mehr, wenn man unterschiedliche Befindlichkeiten nicht ignoriert, sondern ernst nimmt.

PS: Unter `Zermürbungstaktik´ finde ich auf der Seite eines Anwalts folgende Sätze: „Sie glauben nicht, mit welchen Methoden man Arbeitnehmer zermürbt, sie bei der Arbeit solange madig macht, bis sie Fehler begehen, krank werden oder entnervt von selbst kündigen! Man nennt sie Zermürbungstaktiken, und sie sind im Standardrepertoire der fiesesten Arbeitgebertricks.“ (Alexander Bredereck, anwalt.de)