Interessant: Inhalt oder Form?

Ich mag Biografien, weil sie mich staunen lassen und inspirieren und ich vielleicht sogar etwas lernen kann: womit andere kämpfen, woran sie zweifeln und wie sie trotzdem weitermachen. Das spricht mich an, damit kann ich mich identifizieren.

Auf der Suche nach einer guten Biografie stoße ich auf lauter Berühmtheiten: im Sport vor allem aus dem Fußball, aber auch Sänger, Köche, Politiker, Autoren, Maler, Widerstandskämpfer, Theologen … Manche sind schon tot, andere quicklebendig, einige noch sehr jung. Die beschriebenen Menschen sind völlig verschieden; aber fast alle sind sehr bekannt. Einige von ihnen haben sogar selbst eine Autobiografie verfasst – obwohl sie vielleicht zwar (zum Beispiel) hervorragend Fußball spielen, aber nicht unbedingt interessant schreiben können. Auf jeden Fall scheint vor allem bei bekannten Menschen der Drang zu bestehen, ihre Erfahrungen der Welt zugänglich zu machen.

Otto Normalverbraucher käme wahrscheinlich nicht auf die Idee, sich an seine Autobiografie zu setzen – selbst wenn er interessant schreiben könnte. Ihm fehlt das Sendungsbewusstsein, er hält sich (verglichen mit einem Star) für zu wenig besonders. Dabei beweist vielleicht gerade Otto Normalverbraucher bewundernswertes Stehvermögen, wächst bisweilen über sich hinaus oder ist einfach nur absolut zufrieden – trotz schwieriger Umstände. 

Denn jedes Leben ist auf seine Weise besonders, das meiner Oma zum Beispiel: Sie war nicht berühmt, sondern eine bescheidene Frau des vergangenen Jahrhunderts. Sie hatte vier Kinder geboren, musste wegen des Krieges mit ihnen fliehen und wurde früh Witwe. Obwohl sie sicherlich seelisch und körperlich zu kämpfen hatte und manchmal zweifelte, machte sie weiter – klaglos und nimmermüde. Darin gleicht sie sehr vielen deutschen Frauen ihrer Generation und ist doch ein beeindruckendes Beispiel menschlicher Stärke. Meine Oma hielt sich selbst für vollkommen normal und überhaupt nicht besonders; ein begabter Autor könnte aber sicher eine lesenswerte Biografie über ihr Leben schreiben.

Wahrscheinlich wird niemand ein Buch über das Leben von Otto Normalverbraucher (oder meine Oma) herausbringen. Wäre es interessant geschrieben und würde mich staunen lassen, inspirieren und vielleicht sogar etwas lehren: Ich würde es lesen!

Zwischen den Zeilen

Manche Menschen sagen, sie könnten zwischen den Zeilen lesen. Aber das ist doch Quatsch, oder? Denn: Zwischen den Zeilen steht – nichts. 

Ich habe einige Briefe von einem alten Freund aufgehoben; frühe standen wir uns nahe und schrieben uns regelmäßig. Später hatten wir seltener Kontakt; mittlerweile ist er verstorben. Obwohl er damals sehr lustige Briefe schrieb, wusste ich, wie sehr ihn vor allem sein Job langweilte. Die Aussichten, daran etwas zu ändern, waren im Osten nicht besonders rosig. Wenn ich diese alten Briefe heute lese, spüre ich förmlich seinen Frust – und bewundere, wie er trotzdem fröhlich bleiben und sich eine humorvolle Sicht auf ALLES erhalten konnte. Ich meine, seine Stimme zu hören und verstehe so viel mehr als nur die Tatsachen, die er beschreibt. Denn: Zwischen den Zeilen steht – viel mehr als nichts!

Ein Selbstversuch

Früher war es selbstverständlich, NICHT immer erreichbar zu sein: Als Absprachen noch analog liefen, verpasste ich sowohl Telefonanrufe als auch überraschende Besuche – meist, ohne es mitzubekommen. Damals hat es weder mir noch meinen Beziehungen geschadet.

Heutzutage sind wir digital vernetzt und immer erreichbar, das gilt auch für mich: Absprachen per Text-Nachricht sind fester Bestandteil meiner Tage. Manche davon sind unnötig und kosten eher Zeit, als dass sie Dinge vereinfachen. Daher möchte ich am IST-Zustand etwas verändern und suche nach einer guten Lösung. Ohne Regeln werde ich das Handy eher zu viel als zu wenig nutzen. 

Künftig möchte ich erst gegen Mittag auf das Mobiltelefon schauen – und dann noch einmal kurz vor dem Abendbrot. Dafür lege ich das Gerät tagsüber außer Sicht- und Hörweite.

Am Ende des ersten Tages habe ich einen Anruf verpasst (bedauerlich) und eine SMS, die eine zeitnahe Antwort erfordert hätte (nicht so schlimm). Ich denke stolz `war ja einfach´.

Schon am zweiten Tag merke ich, dass meine neuen Regeln nicht nur helfen, sondern mich auch einengen: Ich `muss´ gleich morgens etwas per Text-Nachricht klären und gestalte den Vormittag dann (wie praktisch) mit Hilfe meines Handys: Gewohnheiten lassen sich offensichtlich doch nicht `einfach´ ändern.

Ich versuche es morgen wieder.

Kommunikation – so, so und so

Einer meiner ältesten Freunde ruft mich an und bedankt sich für meinen Weihnachtsbrief. Dieser kam erst nach dem Fest bei ihm an, aber er hatte geduldig darauf gewartet – wissend, dass ich schreiben würde. In meinem Brief habe ihn besonders der Inhalt zwischen den Zeilen erfreut, sagt er.

Von ihm kam zu Weihnachten keine Post, aber das macht nichts: Ich telefoniere auch gern mit ihm. Er erzählt, ich erzähle, die Zeit vergeht schnell, ohne dass `alles gesagt´ ist.

Bald werden wir unser Gespräch fortsetzen – hoffentlich face to face: Einmal im Jahr treffen wir uns.

Immer online?

Ein Journalist macht aus einem Geschehen eine Nachricht. Das Wichtige kommt zuerst und ausführlich, das Unwichtige später und kurz, manches findet nie den Weg in die Öffentlichkeit. Was zur Nachricht wird, sollte schnell verfügbar sein, verständlich aufbereitet und so umfassend wie nötig. Dabei konkurrieren viele verschiedenen Medien um viele Leser: je mehr, desto besser. Wer im Nachrichten-Geschäft tätig ist, müsse daher `immer online´ sein, erzählt mir ein Bekannter – und möglichst schneller als die Konkurrenz.

`Immer online´: Ich frage mich, ob das etwas für mich wäre. Während ich darüber nachdenke und bete, kommen mir Argumente dafür und dagegen in den Sinn. Der Umgang mit Worten reizt mich, es ist sicherlich horizonterweiternd, ich bekäme Geld dafür … Andererseits möchte ich nur für Menschen `immer online´, also jederzeit erreichbar, sein: nämlich für meine Kinder und meinen Mann. Von ihnen lasse ich gern meine Tage bestimmen und gestalten. Vieles von dem, was in der Welt geschieht, betrifft mein tägliches Leben nicht wirklich – auch wenn es sich noch so bedeutungsvoll liest.

Brief an meine Freundin

Wir werden beide älter: Es dauert alles etwas länger, manche Dinge sind uns inzwischen zu anstrengend. Du schaust mich an und sagst, du könntest zum Beispiel nicht joggen gehen – wie ich. Ich schaue dich an und sage, ich könnte nicht den ganzen Tag im Stall arbeiten, nebenbei ein Zimmer renovieren und mittags pünktlich das Essen auf dem Tisch haben – wie du.

Ich kann manches, was du nicht könntest; und du kannst eine Menge, was ich nicht könnte. Dabei würden wir beide fast alles lernen oder uns daran gewöhnen, wenn wir es einübten. Es gibt für alles ein erstes Mal, und das ist immer ungewohnt und anstrengend. Mit der Zeit wird man besser, bekommt Routine und erledigt das Gelernte mit weniger Anstrengung als am Anfang.

Zwischen `ich kann´ und `du könntest nicht´ liegt also nur eine Zeit des Übens – in unserem Fall sind es zwei verschiedene Lebensstile. Der eine ist nicht besser als der andere: Du bewunderst mich vielleicht; ich bewundere dich auf jeden Fall!

Vom Mangel

In der Zeitung lese ich, dass über die nächsten zehn Jahre zu wenige Lehrer da sein werden. Es mangelt an Menschen, die gern unterrichten möchten – woran das wohl liegt? Diese Frage stellt sich unsere Bildungsministerin offenbar nicht. Stattdessen sagt sie, gehe es darum, diesen Mangel in Zukunft zu gestalten. Ich frage mich, was das heißt. Es klingt ein wenig wie `Mangel verwalten´, also sich um das Vorhandene zu kümmern – nur vielleicht auf kreativere Art und Weise. Aber auch ge-stalten kann man nur das oder mit dem, was da ist. Unterm Strich bleibt daher: Über die nächsten zehn Jahre werden zu wenige Lehrer da sein.

Alle Jahre wieder

Wie jedes Jahr Ende Dezember kommt seit einigen Tagen mehr private Post als sonst. Weihnachten schreiben auch Menschen noch Briefe oder Karten, die das sonst nicht tun. Ich freue mich sehr über jeden Gruß; einige sind tatsächlich unerwartet, alle freundlich, zwei oder drei besonders: Solche ehrlichen und wertschätzenden Worte sagen oder schreiben wir uns sehr selten. Brauchen wir einen äußeren Anlass, um loszuwerden, was uns wirklich bewegt? Sind wir zum Jahresende in einer anderen Stimmung als das Jahr über oder haben wir einfach mehr Zeit? Es ist mir egal, ich freue mich einfach – alle Jahre wieder.

Mein Friseur

Beim Friseur (zum Beispiel) und beim Zahnarzt sind wir für eine gewisse Zeit mit jemandem zusammen, den wir kaum kennen. Wir wollen nicht, wir müssen es eine halbe Stunde miteinander aushalten; das fühlt sich manchmal etwas merkwürdig an. Daher versuchen wir, die Situation mit Small Talk zu entspannen.

Beim Zahnarzt redet normalerweise nur einer – es ist nicht der Patient. Zwar würde ich gern etwas sagen, lasse es aber: Mit offenem Mund sind verständliche Worte ein mühsames Unterfangen.

Beim Friseur kann ich ungehindert artikulieren; ich komme trotzdem nicht zu Wort … 

Selbstgespräche

„Interessante Selbstgespräche setzen einen klugen Partner voraus.“
Herbert George Wells.

Manchmal rede ich mit mir selbst: „Ich mach´ das jetzt so“, murmele ich vor mich hin – ganz neutral. „Das war nicht so schlau“ klingt schon etwas kritischer; noch schlimmer ist ein nachdrückliches: „Ich bin so blöd!“ Mit diesen Sätzen beurteile ich meine Unsicherheit sowie merkwürdige Verhaltensweisen – oft unbewusst und spontan. Solch verbalen Ohrfeigen kommen einfach so aus mir raus. Obwohl ich sie wahrscheinlich nicht vollkommen ernst meine, tut es mir gut, wenn mir jemand widerspricht, der zufällig in Hörweite steht. Denn das öffnet mir die Augen, wie ich mich eigentlich selbst wahrnehme – und das ist doch sehr interessant.

„Interessante Selbstgespräche setzen einen aufmerksamen Lauscher voraus.“
Dagmar Hecker