Wunderbares Auge

„Ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge, die macht beide der Herr.“
Sprüche 20, 12

Bei einem morgendlichen Gang über die Felder kommt die Sonne direkt von vorn und blendet mich. Ich kann den Weg vor mir trotzdem gut erkennen: Meine Augenlider sorgen für ein wenig Schatten; die Pupillen lassen genau die richtige Menge Licht durch. 

Würde ich die Szene fotografieren wollen, hier und jetzt: Es fiele mir nicht so leicht. Ich müsste mich anstrengen, damit das Foto dem Original möglichst ähnlich würde – und herumstellen an Lichtempfindlichkeit, Belichtungszeit und Brennweite. Oder aber mir gelingt ein Zufallstreffer.

Mein Auge dagegen scheint sich nicht anstrengen zu müssen: Es stellt sich – von mir unbemerkt und unbeeinflusst – blitzschnell ein auf wechselndes Licht, verschiedene Entfernungen oder Bewegung.

„Kommt her und sehet an die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern.“
Psalm 66, 5

Blind und taub

„Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen: `Sie gefallen mir nicht´; ehe die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken wiederkommen nach dem Regen, … und wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leiser wird …“
Prediger 12, 1-2+4

„Betrifft mich nicht“, dachte ich noch vor ein paar Jahren, denn: „Wer schlecht sieht und kaum etwas hört, muss sehr alt sein.“ Heute bin ich zwar noch nicht sehr alt, aber jung auch nicht mehr. Viele Jahre konnte ich alles tun, was ich wollte, ohne ein Nachlassen meiner Kräfte oder Fähigkeiten zu spüren. Einige weitere Jahre hat mein Körper mit Erfahrung und Ausdauer kompensiert, was schwieriger wurde. Die Zeiten sind vorbei. Von mir unbemerkt bin ich angekommen in einem Alter, in dem manches nicht mehr geht: Verspannungen halten sich hartnäckig; in der ersten halben Stunde des Tages begleitet mich eine gewisse Steifheit. Der größte Unterschied zu früher ist jedoch, dass ich ohne Brille nicht mehr lesen kann. Die Baustelle meines Mannes ist eine andere. Seine Sehkraft ist nach wie vor brillant, dafür hört er ein bisschen weniger als früher. 

Auf der Fahrt in den Urlaub platzt eine Tochter heraus mit: „Wen haben wir im Auto? – Blind und Taub!“ Es klingt gemein und ist sehr übertrieben – aber auch ein bisschen wahr. Sie sagt es mit liebevollem Spott in der Stimme und einer gewissen Arroganz. Ein ähnliches Schicksal wie das unsrige ist für sie ausgeschlossen – oder jedenfalls in sehr weiter Ferne. Und für das Selbstverständliche ist man normalerweise nicht besonders dankbar: Es scheint unendlich zur Verfügung zu stehen. Ich verurteile sie nicht; ich verstehe den Satz aus dem Prediger auch erst, seit mein eigener Zenit überschritten ist.

Glücklicherweise gefallen mir die Jahre noch. Mir geht es wunderbar, wenn auch ein wenig gebremster (und mit weniger Sehkraft) als früher. Spätestens heute fange ich damit an, Gott dankbar zu sein für meine guten Tage: Ich habe verstanden, dass sie vergänglich sind.

Wandern (3)

„Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
2. Korinther 12, 9

Wenn ich stundenlang vor mich hin laufe, kann ich sonst nichts anderes machen. Ich kann nur nachdenken oder ein Gespräch mit meinem Mann führen. Das ist gut, denn ich bin „ganz bei mir“.

Für die Schottland-Wanderung heißt „ganz bei mir“ nicht nur, mich auf den Untergrund zu konzentrieren. Meine angeschlagene Gesundheit macht es nötig, dass ich meine Energie fürs Gehen brauche – es ist sehr schwierig, die Umgebung zu genießen. Das ist schade, aber nicht zu ändern. Ich bete viel, weil ich spüre, dass ich mit meiner Kraft an meine Grenzen komme. Ich fühle mich permanent müde, dazu kommen die wahrscheinlich bei langen Wanderungen üblichen Wehwehchen: Nach etwa 20 Kilometern melden sich meine Hüften; die Füße sind durch die schweren Schuhe herausgefordert; lange Abstiege „gehen“ auf die Knie – trotz der unverzichtbaren Wanderstöcke.

Ich gehe einfach immer weiter und staune am Ende des Tages, dass ich wieder 25 Kilometer geschafft habe. Die Fotos auf meinem Handy und in meinem Kopf zeigen, dass ich zwischendurch doch die wunderschöne Gegend wahrgenommen habe. Im Nachhinein fühlt sich die Wanderung nicht an wie ein einziger Kampf; im Nachhinein sehe ich, wie Gottes Kraft greift, wenn die eigene nicht reicht.

Seine Gnade

„Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
2. Korinther 12, 9

Für mich stand in dem Vers immer die Gnade im Vordergrund: Wenn mein eigenes Versagen übermächtig scheint, fühle ich mich klein, unbedeutend und unfähig. Ich bin entmutigt und ohne Schwung, traurig und resigniert. Das Einzige, was in solchen Momenten trösten und ermutigen kann, ist Vergebung – Gnade. Sie vertreibt Scham und Selbstverdammnis.

Vor ein paar Tagen wurde mir klar, dass die Betonung auf Gottes Gnade liegt. Natürlich lege ich Wert auf Anerkennung, Wertschätzung und meinen guten Ruf bei den Menschen. Das ist nicht per se schlecht; es darf nur nicht in den Vordergrund rücken. Denn: Entscheidend ist Gottes Vergebung. Das Einzige, das mich wirklich rettet, ist seine Gnade. Und die greift auch dann, wenn kein Mensch mehr auf meiner Seite steht.

Gott will ich gefallen, nicht den Menschen – auch wenn mir die Menschen oft näher sind, ihre Akzeptanz offensichtlicher, ihre Wut spürbarer. Es kann sein, dass meine Handlungen sowohl bei Gott als auch bei Menschen auf Wohlwollen stoßen. Wenn dem nicht so ist, will ich mich für Gottes Gnade entscheiden.

Im Verborgenen

„Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“
2. Korinther 5, 17

Im Verborgenen passiert viel mehr, als wir sehen: Das ist bei Eisbergen ebenso wie bei einer Roggenpflanze. Die Menge an Substanz „unten der Oberfläche“ entscheidet über die Größe des sichtbaren Eisberges beziehungsweise gewährleistet die Stabilität der Pflanze. Auch von einem Menschen sehen und hören wir am Anfang nur einen kleinen Teil: die äußere Hülle und die schöne Fassade. Erst nach längerer Zeit, wenn wir öfter hingeschaut, gut zugehört und gemeinsam erlebt haben, entdecken wir eines Menschen Stärken, Schwächen, Emotionen und Prägungen – den Kern.

Genau dort spielt sich Gottes Wirken ab – im Verborgenen. Äußerlich ist es vielleicht zunächst kaum sichtbar. Aber wenn ein Mensch Gott in sein Leben einlädt, wird sich etwas verändern: Gott gibt Halt und Orientierung, reinigt die Motivation, stillt die Sehnsucht nach Annahme, schenkt Vergebung und Hoffnung. Diese Veränderungen im Innern bewirken letztlich auch einen nach außen hin wahrnehmbaren Unterschied – in Wort und Tat. Hoffentlich.

Der Anbetung würdig

„Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken höher als eure Gedanken.“
Jesaja 55, 8+9

In einem Gespräch über Anbetung ging es kürzlich um Gottes Größe und Allmacht und unser Staunen darüber. Wir waren uns einig: Gott ist der Anbetung würdig! Es fielen Begriffe wie „wunderbar“, „großartig“, „herrlich“ – kein Ausruf schien zu dick aufgetragen: Gott ist Gott.

Ich spürte ein kleines „aber“ in mir, obwohl ich glaube, dass Gott das alles ist – großartig und wunderbar, allwissend und allmächtig. Für mich ist er zusätzlich noch fremd und unbekannt, nicht zu greifen und in manchen seiner Handlungen (und Nicht-Handlungen) dadurch nur schwer auszuhalten. „Wunderbar“, „großartig“ und „herrlich“ klingen mir zu zahm; „undurchschaubar“, „souverän“ und „heilig“ sind für mich die passenderen Attribute.

„Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken“, sagt Gott, „eure Wege sind nicht meine Wege.“ Ein paar Verse zuvor steht da: „Sucht den Herrn, ruft ihn an …, denn bei ihm ist viel Vergebung.“ Ich verstehe das so: „Betet mich an um meiner selbst willen – egal, ob ihr versteht oder wunderbar findet, was geschieht. Bleibt bei mir; hört nicht auf, mich zu suchen; lasst euch nicht entmutigen von (scheinbar) unerhörten Gebeten: Nicht eure Vorstellung von mir ist der Anbetung würdig, ich bin es.“

Der Reiher

„Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: `Bei den Menschen ist`s unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.´“ 
Matthäus 19, 26

Meine Spazier-Runde führt mich an einem kleinen Tümpel vorbei. Oft sitzen dort Vögel, die feuchte Wiesen mögen – Reiher, Störche, Gänse. An den vergangenen Tagen sah ich morgens häufig einen Reiher. Aus verschiedenen Gründen hätte ich ihn gern fotografiert, hatte jedoch weder Kamera noch Handy dabei. Gestern nahm ich meinen Fotoapparat mit und betete auf dem Weg: „Herr, ich will kein Flies auslegen wie Gideon – so wichtig ist es nicht. Aber es wäre doch schön, der Reiher säße heute wieder dort. … Du kannst das machen, es ist dir leicht möglich.“

Gespannt ging ich weiter, aber doch auch skeptisch. Zu oft schon ist es mir so gegangen, dass sich Wunder nicht auf den ersten Blick erspähen lassen. Oft habe ich mich im Vertrauen geübt, obwohl ich nichts gesehen habe – oder nur einen Hauch: Gott hat schon geheilt, aber nicht über Nacht, sondern durch ein Jahr Chemotherapie und großes Elend. Gott hat schon geholfen, aber nicht direkt, sondern mehr durch die Hintertür. Gott steckt hinter jedem Umweg, hinter jedem „im Nachhinein war es gut so“, ich weiß; aber dieses ganz Spektakuläre, von dem die Bibel spricht? Mir ist es noch nicht widerfahren.

Diesmal also hoffte ich in dieser unspektakulären und unwichtigen Sache auf ein Zeichen – beziehungsweise auf den Reiher. Dort, wo er sonst auch häufig hockt, wollte ich ihm gern „begegnen“. Was soll ich sagen: Er hockte nicht dort. Leicht enttäuscht, aber innerlich bestätigt machte ich ein Foto von der leeren Wiese mit dem Tümpel. Ich hatte es nicht anders erwartet; Gott lässt sich nicht manipulieren. Ich weiß, dass Gott alles kann, auch wenn er es nicht immer tut. Die Bibel nennt das Vertrauen auf das, was nicht ist:

„Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“
Hebräer 11, 1

Einige Minuten später sah ich aus dem Augenwinkel etwas kurz aufflattern und wieder landen – etwa zweihundert Meter entfernt. Da war er, der Reiher, kaum zu erspähen: Gut getarnt ist so ein Reiher mit seinem langen silbrig schimmernden Hals inmitten der Ufergewächse, die ebenso schimmern. Hatte er sich – oder Gott? – nur in der Wiese geirrt? Würde er vielleicht später noch kommen? Ich weiß es nicht, so lange blieb ich nicht stehen.

Gott hat sich nicht in der Wiese geirrt, so etwas passiert Gott nicht. Der Reiher saß einfach auf einer anderen. Ich sollte das nicht überbewerten, ich weiß. Ich bin dazu aufgefordert zu vertrauen, auch wenn ich nichts sehe. Immer und immer wieder übe ich mich darin. Eine kleine unverdiente Überraschung wäre aber doch schön gewesen.

Dietrich Bonhoeffer

Nach einigen Wochen Lektüre und 1052 Seiten war ich vor ein paar Tagen mit meiner Bonhoeffer-Biographie fertig – und weinte. Einer meiner Söhne fragte, warum. Auf meine Antwort, dass das Buch mit Bonhoeffers Tod abschließt, schaute er mich erstaunt an und sagte: „Aber das wusstest du doch, oder Mama?“ Ja, das stimmt. Aber durch die Lektüre weiß ich heute noch viel mehr über Dietrich Bonhoeffers Leben, seine Gedanken und sein Tun. Ich fühle mich ihm näher; seine Beweggründe und Lebensentscheidungen sind mir klarer – und auch, was diese für ihn bedeuteten.

Während seines Lebens wurde es ihm immer wichtiger, seinen von Gott empfangenen Auftrag zu erfüllen – wie dieser sich auch änderte: Zunächst war ihm das theologische Arbeiten im universitären Umfeld wichtig, dafür war er prädestiniert. Dann widmete er sich mit großer Hingabe der Gemeindearbeit und schließlich der Ausbildung und Begleitung von Pastoren. Immer schlug sein Herz für die Kirche in Deutschland. Wie diese nach dem Krieg weiterbestehen, sich entwickeln und aussehen könnte, waren drängende Fragen für Bonhoeffer. Die Umstände in Deutschland ließen ihn aber noch einen anderen Ruf hören: nämlich den, sich dem Bösen seiner Zeit entgegenzustellen.

Er begab sich nicht nur in Lebensgefahr mit seinem Handeln, es hatte enorme Auswirkungen auf sein Leben: Bonhoeffer riskierte bewusst alles – seinen guten Ruf und seine berufliche Zukunft. Nichts konnte seiner Berufung durch Gott selbst im Wege stehen: weder seine Prinzipien oder Prägungen des Elternhauses noch seine Überzeugungen. Bonhoeffer machte sein Handeln im aktiven Widerstand weder abhängig von menschlicher Anerkennung noch von der Aussicht auf Erfolg. Was ihn motivierte, war allein sein Glaube an Jesus Christus selbst; hinsichtlich der Schuld, die er dabei auf sich lud, vertraute er ausschließlich auf Gottes Gnade und Gerechtigkeit. Selbst von der Kirche, die ihm so viel bedeutete, erwartete er keine Rückendeckung. Als er verhaftet wurde, sah und akzeptierte er auch die Zeit im Gefängnis als Gottes Auftrag und nahm diesen an. Seiner eigenen Unzulänglichkeit in allem war er sich mehr als bewusst.

Dietrich Bonhoeffer war aufrichtig, demütig und gottergeben – als Mensch ein Vorbild und als Christ ein nahbarer Bruder für mich. Darum weine ich, wenn mich ein Buch an sein Sterben erinnert.

Neu?

„Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: `Sieh, das ist neu?´ Es ist längst vorher auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.“
Prediger 1, 10

Von einigen Dingen gibt es sehr viel – Bücher und Fernseh-Krimis zum Beispiel. Die schiere Masse kann einen erschlagen. Dass Menschen immer noch neue Geschichten einfallen, wundert mich. Natürlich ist Fantasie unbegrenzt; aber es muss ja realistisch bleiben – ausgenommen im Genre „Fantasy“.

Wir haben keinen Fernseher; aber durch Mediatheken und Video-Dienste im Internet wissen auch wir ein wenig, was läuft, und merken zweierlei. Erstens: Es gibt eine fast unüberschaubare Anzahl „erzählter“ Geschichten. Zweitens: Bestimmte Grundmuster tauchen immer wieder auf. Schwierigkeiten, Höhenflüge beziehungsweise alle möglichen und unmöglichen Konfliktlösungsstrategien – das Repertoire an menschlichen Aktionen und Reaktionen ist begrenzt. Die Geschichten sind nicht ganz neu, sie werden nur neu erzählt.

Im echten Leben ist es so ähnlich: Kinder glauben ihren Eltern nur ungern. Schließlich haben diese keine Ahnung von aktuellen Gegebenheiten. „Ihr seid anders aufgewachsen, ihr versteht das nicht“, ist ein häufiges Argument aus dem Mund meiner Kinder. Wir alle halten unser eigenes Leben für einzigartig, unsere Erfahrungen für „neu“ – und für uns ganz persönlich stimmt das auch.

Andererseits gibt es gewisse universale Grund-Erkenntnisse wie „Feuer ist heiß“, „Lügen haben kurze Beine“, „Ohne Vertrauen ist das Leben steril“, „Unter den Teppich gekehrte Konflikte sind kein Frieden“, „Begeisterung ist oft kurzlebig“. Und so weiter, und so fort. Eltern möchten ihren Kindern manche dieser allgemein gültigen Wahrheiten unbedingt mitgeben und ihnen andere gern ersparen. Aber Weisheit lässt sich nicht vererben – außer vielleicht beim Umgang mit echtem Feuer. Dass „wirklich neu“ nur selten zutrifft, versteht man erst, wenn sich die eigenen Erfahrungen wiederholen oder zumindest ähneln.