Selbst- und Fremdwahrnehmung

„Ich habe mich gewundert, wie unruhig es bei euch zugeht“, sagt eine Bekannte, die zum ersten Mal bei uns im Gottesdienst ist, „Leute kommen und gehen, haben ihr Handy präsent und reden miteinander.“ Es gäbe wenige Momente andächtiger Stille, sagt sie.

Sie hat recht, es geht ungezwungen zu bei uns. Das Gemeindehaus und die Gemeinschaft sind nicht steif und fremd, sondern vertraut und häuslich; die Atmosphäre ist eher herzlich und familiär. Die meisten kennen sich schon seit vielen Jahren und treffen sich nicht nur Sonntag morgens. Und das Handy dient einigen als Bibelersatz oder sie fotografieren, was der Prediger vorn an die Wand wirft.

Aber dieses lockere Miteinander hat eine zweite Seite: Die Gespräche sind intensiv und vertraut – manchmal leider auch während des Gottesdienstes. Dann kann es leicht so wirken, als fehlte uns die Ehrfurcht gegenüber dem heiligen Gott, dem wir vor allem begegnen wollen. Es täte uns gut, uns fragen zu lassen, ob etwas dran ist an diesem Eindruck …

Heiligabend: ein Tag wie jeder andere

Es ist der 24. Dezember und gleichzeitig ein ganz normaler Dienstag: Weil die nächsten beiden Tage nichts geöffnet haben wird, gehe ich gleich morgens einkaufen. Außerdem läuft die Waschmaschine, und ich sollte noch bügeln, bevor der Berg zu groß wird. Das Kochen übernimmt freundlicherweise mein Mann, so dass ich, wie immer dienstags, laufen gehen kann. Nachher fahren wir in den Gottesdienst und werden feiern, dass Gott Mensch wurde. Das ist ein riesiges Geschenk – und doch passierte es schon damals ganz unspektakulär.

Als Jesus geboren wurde, waren seine Eltern unterwegs und hatten keine tolle Unterkunft: Eine Geburt passte eigentlich gerade nicht so gut. Für Gott aber war der Moment genau richtig – ein Tag wie jeder andere. Genauso geschieht es heute noch. Frederick Buechner beschreibt das sehr schön: „Jesus neigt dazu, mitten hinein in unser ganz reales Leben zu kommen … Er kommt nicht in einer Flamme unwirklichen Lichts, nicht während einer Predigt, nicht durch die Geburtswehen eines religiösen Tagtraumes, sondern … zum Abendessen oder während wir an der Straße entlanglaufen. … Er kommt nicht von hoch oben herab, sondern immer direkt in das wahre Leben und in die Fragen hinein, die das wahre Leben stellt.“

Gott beugt sich nicht nur herab; er geht auf die Knie und kommt auf Augenhöhe mit uns. Und das macht aus einem ganz normalen Tag eine heilige Angelegenheit.

Eindampfen

Ich bin für den Gottesdienst nach Weihnachten zuständig. Wie immer, wenn ich mich auf derartige Aufgaben vorbereite, gehe ich eine Weile `schwanger´ mit dem Thema oder Text und bete, dass Gott mich irgendwie inspiriert. Das Thema ist mir ziemlich schnell klar: Jesus ist das Licht dieser Welt. Was heißt das denn konkret? Wie spüre ich das, was kann ich durch ihn besser sehen oder verstehen? Ist sein Licht ansteckend – leuchte ich auch? Und so weiter und so fort; ich werde noch tagelang gedanklich beschäftigt sein damit, meine Gedankenfülle zu lichten.

Normalerweise präsentiere ich dann nicht alles, was mir im Vorfeld durch den Kopf ging: Ich kürze, verwerfe, schreibe um und versuche, einen Fokus herzustellen, der den Zuhörern hilft und hängenbleibt. Während der Vorbereitung bleibt mein Ergebnis tagelang vorläufig; ich muss es liegenlassen und später nochmal rangehen. Diese Feinarbeit, das Bündeln all der guten Gedanken, das mutige Streichen all dessen, was auch gut, aber zu viel wäre – das ist am schwersten und dauert. Es verlangt mir am meisten ab, obwohl ich in der Vergangenheit schon öfter so etwas gemacht habe.

Das ist wie beim Kochen, denke ich. Du nimmst alles Mögliche und lässt anderes weg, schnippelst, brätst und würzt. Und dann lässt du alles köcheln, bis sich alles vereint zu einem guten Geschmack – und die Konsistenz stimmt. Du brauchst Geduld und musst manchmal nachwürzen, aber weitere Zutaten brauchst du nicht: Sie machen das Ganze nicht besser verdaulich.

Das, was ich in dem Gottesdienst sagen will, habe ich schon beisammen. Zwar kommen mir noch immer weitere Ideen, die thematisch passen würden. Aber für dieses Mal ist es besser, ich lasse sie weg. Denn viel hilft nicht viel, sonst merkt man sich am Ende überhaupt nichts. Immer noch mehr gute Gedanken machen das Ganze nicht besser verdaulich.

Kirche und Politik

„Doch, Kirche muss politisch sein“, betont ein Pastor im Gespräch mit mir. Ich hatte seine Aussage in Frage gestellt und ernte entschiedenen Widerspruch. Sofort frage ich mich, ob ich das anders sehen kann als er: Gibt es hier ein Richtig oder Falsch? Mein „Kirche muss nicht politisch sein“ kam spontan und aus dem Bauch heraus – dort haben viele meiner Überzeugungen ihren Ursprung. Die Diskussion geht noch ein kleines bisschen hin und her und erstreckt sich darauf, wer unsere gespaltene Gesellschaft heilen kann. „Jesus“, sage ich – und auch das kommt spontan und von irgendwo in mir drinnen. Zu fromm sei ihm das, doof und fromm, findet der Pastor, hat aber seinerseits keine andere Idee. Wir diskutieren, haben unterschiedliche Meinungen – und dann ist es auch gut.

Natürlich lässt mich so ein Gespräch nicht los. `Wie man das wohl sieht´, habe ich mich schließlich schon oft gefragt – als gäbe es in vielen Fragen nur eine einzige Wahrheit, nur eine einzige Sichtweise. Ich weiß nur selten von vornherein schon Bescheid oder ahne, was man zu einem bestimmten Thema so denkt. Es sei denn, mein Gegenüber beharrt auf seinem Standpunkt wie in dieser Situation. Alternativloses `So ist das!´ macht mich per se skeptisch. Und Jesus als Heiler ist für einen Pastor vielleicht zu fromm und doof, für mich aber genau richtig.

Später beim Laufen fällt mir die Frage ein, die uns vielleicht weitergeholfen hätte. Was nämlich heißt es, Kirche müsse politisch sein? Wenn man von Kirche überhaupt derart aktiv und personifiziert sprechen will, stimme ich zu, dass sie eine Position haben sollte. Aber ist das schon politisch? Politisch im Sinne von: den Staat beeinflussen, nach Macht innerhalb des Gemeinwesens streben und sich um Regierungsverantwortung bemühen wollen. Mit dieser Definition im Hinterkopf bleibe ich erst recht bei meinem ursprünglichen Nein. Aber das kann man anders sehen, keine Frage.

„Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird früh Witwe.“
Søren Kierkegaard

Freude

„Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung.“
Galater 5, 22

Ich will eine weitere Predigt von Timothy Keller über die Frucht des Geistes hören, diesmal geht es um Freude. `Nebenbei´ möchte die Fußböden wischen und kochen. Daher versuche ich, mein Handy mit der Lautsprecher-Box zu verbinden, die in der Küche steht. Damit habe ich eine Weile zu tun, denn aus mir unerfindlichen Gründen FUNKTIONIERT das mal wieder NICHT. So geht es mir öfter; ich bitte dann eins der Kinder um Hilfe. Diese sind aber in der Schule, so dass ich allein klarkommen muss.

Es könnte an dem Handy meines Sohnes liegen, das vielleicht noch mit der Box verbunden ist. Ich bringe es nach oben in sein Zimmer, ohne zu wissen, ob das hilft. Als ich es wieder probiere, funktioniert es noch immer nicht. An- und Ausschalten von Box und Bluetooth zeigen erst nach mehrmaligen Versuchen Erfolg. Währenddessen könnte ich eine Sozialstudie am lebenden Objekt durchführen: Wie stabil ist das Gefühl der Freude, wenn etwas nicht so läuft, wie es soll? Denn bis mir mein Vorhaben endlich gelingt, erlebe ich heftigen aufbrausenden Ärger. Er ist mir erschreckend vertraut – ich kenne mich schon ein bisschen – und vollkommen unverhältnismäßig. So schnell und intensiv, wie ich ihn erlebe, wird er wieder verschwinden. Dennoch frustriert er mich: nicht die beste Einstimmung auf eine Predigt über Freude – oder?

Freude können wir nicht selbst produzieren, sagt Timothy Keller, und ich denke: Ja, ich weiß. Sie ist komplett unabhängig von unseren Umständen, und wir können sie uns nur schenken lassen. Wie so vieles andere funktioniert das bei Gott über unsere Beziehung zu ihm. Eine seiner Eigenschaften ist Freude. Je näher ich ihm bin, je mehr Zeit ich mit ihm verbringe, je besser ich ihn kennenlerne – umso stärker wird sein Wesen auf mich abfärben. Ich bin schon sehr lange mit Gott unterwegs, aber noch immer weit entfernt von `vollkommener´ Freude, wie es an anderer Stelle heißt. Das ist schade, aber kein Grund, entmutigt zu sein. Wie sagt Dietrich Bonhoeffer es so schön: „Man muss sich durch die kleinen Gedanken, die einen ärgern, immer wieder hindurchfinden zu den großen Gedanken, die einen stärken.“ Immer wieder!

Keine Chance? Früher anfangen!

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“
Sacharja 4, 6

Sein Sohn fordere Taschengeld ein, halte sich nicht an Absprachen und tue Dinge einfach nicht, erzählt mir ein flüchtiger Bekannter, den ich beim Spazierengehen treffe. Schuld sind aus seiner Sicht die Umstände: Schon die Kleinsten wüssten heutzutage, welche Rechte sie hätten, sagt er: „Was kannst du als Eltern noch erziehen? Die Kinder lassen sich doch von uns schon im Kindergartenalter nichts mehr sagen!“ Er klingt resigniert. So habe ich das nicht erlebt, aber unsere Kinder waren auch immer nur ein paar Stunden fremdbetreut. Die letzte Autorität damals waren wir: Wir haben geprägt, erzählt, diskutiert, Werte vermittelt, Grenzen gesetzt, Konsequenzen folgen lassen … was man so macht eben.

All das war wichtig, denn ein paar Jahre später ist es anders. Bei Teenagern können wir als Eltern tatsächlich weniger ausrichten; sie wollen und müssen sich abgrenzen (dürfen). In der Pubertät prallen unsere Argumente ab, treffen unsere gut(gemeint)en Ratschläge auf taube Ohren, wirken unsere Prinzipien nicht überzeugend, sind unsere Interessen nicht ansteckend, pellen die geliebten `Kleinen´ sich ein Ei auf unsere Bedenken … In dieser Lebensphase müssen sie ihren eigenen Stil finden, ihre eigenen Erfahrungen machen, ihre eigenen Grenzen kennenlernen (und überschreiten), auf ihre eigene Nase fallen – und ihre eigenen Erfolge feiern. Wir können sie liebhaben, nachfragen (in Maßen), ermutigen und für sie beten. Wie sie dann ihr Leben gestalten, liegt nicht in unserer Hand: Gott sei Dank!

Sanftmut

„Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Keuschheit.“
Galater 5, 22

Ich höre eine Predigt von Timothy Keller, einem amerikanischen Theologen, der vergangenes Jahr gestorben ist. Es geht um die Frucht des Geistes, nämlich Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Keuschheit. Laut Timothy Keller ist das ein bunter Blumenstrauß großartiger Eigenschaften. Sie sind in jedem Christen vorhanden, sagt er, allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt. Jeder könne sich fragen, in welchem Charakterzug er am meisten Luft nach oben sieht.

Ich denke eine Weile darüber nach. Verglichen zu früher bin ich sicher geduldiger geworden und gelassener (habe deutlich mehr inneren Frieden), vor allem in Bezug auf Dinge, die ich nicht kontrollieren kann. Wachstumspotential sehe ich unter anderem bei Sanftmut, dieser schwer greifbaren Wesensart: sich selbst zurücknehmend, wohlwollend und gnädig umzugehen mit der Andersartigkeit seiner Mitmenschen. Zwar bin ich längst nicht mehr so schnell auf 180 wie vor zwanzig Jahren, aber Sanftmütigkeit ist noch immer nicht `mein Gefährt´.

Ich erzähle meinem Mann davon; insgeheim wünschte ich mir den Zuspruch, ich sei viel zu kritisch mit mir. Aber er ist wie immer ehrlich, lächelt und bestätigt meine nicht ganz so angenehme Selbsterkenntnis. Gleichzeitig vermittelt er, dass er mich sehr liebt. Ohne Parallelen ziehen zu wollen: Gott sieht mich ebenso. Ich könnte mich also zurücklehnen, wissend, dass ich halt so bin – in bestimmten Fragen mit Luft nach oben. Aber interessanterweise motiviert mich genau diese sanftmütige Akzeptanz dazu, mich selbst genau in dieser Richtung weiterzuentwickeln.

Noch nicht, aber schon!

Vor mir liegt ein schwieriges Gespräch, das eigentlich gar nicht schwierig ist … Aber ich ahne, dass ich mich unter Druck fühlen werde, die Erwartungen zu erfüllen, die an mich herangetragen werden. Denn im Vorfeld erläuterte mir meine Gesprächspartnerin ihre sehr klaren Vorstellungen einer künftigen Zusammenarbeit. Weil wir uns kennen, fällt es mir schwer, mich nicht verpflichtet zu fühlen. Ich wäre in dem Gespräch gern selbstbewusst, freundlich und klar und bete darum, dass ich es sein kann.

Das Gespräch verläuft dann anders, als ich hoffte: Ich fühle mich eben nicht frei, sondern unter Druck, dass ich den Auftrag nicht nur übernehme, sondern auch zu einem guten Preis. Dadurch winde ich mich ein wenig, schaffe es aber, mir Bedenkzeit zu erbitten. Es hätte besser laufen können, denke ich später – und bin trotzdem zufrieden mit mir: Vielleicht war ich nicht super selbstbewusst, aber ich habe mich nicht zu einer vorschnellen Entscheidung drängen lassen. Dafür bin ich dankbar.

Nicht immer werden meine Gebete in Gänze so erhört, wie ich es mir vorstelle – besonders auch, was meine persönliche Entwicklung angeht. Man ändert sich eben nicht über Nacht und macht eher kleine Schritte als große Sprünge. Es ist an mir, ob ich mich ärgere über das, was noch nicht ist, oder dankbar bin für das, was schon ist.

Währenddessen

Hinterher ist man immer schlauer; hinterher war eine schwierige Lebensphase `doch nicht so schlimm´ oder sogar `eine gute Erfahrung´, aber währenddessen? Währenddessen sind Situationen manchmal richtig doof und alles andere als gut. Schönreden ist etwas für hinterher; währenddessen ist es so, wie es eben ist.

Daran denke ich fast jedes Mal, wenn Menschen in unserer Gemeinde von dem erzählen, was sie mit Gott erlebt haben. Fast immer sind es unangenehme Situationen mit einem guten, versöhnlichen Ausgang – meist zeitnah: Gott hat eingegriffen und geheilt, Vergebung ermöglicht, Frieden im Herzen geschenkt und Zuversicht … Das alles ist ermutigend, ohne Frage.

Aber ich selbst erlebe bisweilen Phasen, in denen Gott sich diskret zurückhält: jemand nicht spontan gesund wird, meine Wut sich nicht in Luft auflöst, ich keinen Frieden finde und sich mir keine zufriedenstellende Perspektive bietet. Ich hänge in unangenehmen Situationen fest und bitte Gott, einzugreifen – und es tut sich einfach GAR NICHTS. Nur Gott gehört der Dank, wenn ich währenddessen trotzdem darauf vertrauen kann, dass Gott sich schon kümmern wird. Es wäre ermutigend, wenn ich merkte, dass ich mit DIESER Erfahrung nicht allein dastehe, weil sie auch für andere NORMAL ist.