Im Restaurant bei uns im Ort redet eine meiner Nichten die Bedienung mit Du an: auftaktlos und ohne Vorwarnung. So kennt sie es wahrscheinlich aus der Großstadt oder aus den Studentenkreisen, in denen sie sich zu Hause fühlt. Auf den ersten Blick wirkt das Du vielleicht modern. Ich mag es trotzdem nicht; für mich klingt es respektlos. Dabei ist meine Wahrnehmung natürlich ebenso beeinflusst von der Prägung, in der ich mich zu Hause fühle.
Die Gedanken sind frei, heißt es in einem Lied. Ich würde sagen: Auch unser Denken ist begrenzt. Ohne einen unabhängigen Kompass richten wir uns alle nach unserem Umfeld. Und ganz selbstverständlich übernehmen wir die Werte, die dort gerade angesagt sind.
Es mag heutzutage üblich sein, jeden zu duzen, der mir über den Weg läuft – frei von Konventionen ist es nicht. Denn unsere persönliche Freiheit, meine `freie´ Entscheidung, hat einen klaren Rahmen. Und dieser orientiert sich an Standards und Maßstäben von außen und den Konsequenzen, die ein Ignorieren derselben nach sich zieht. Das ist eine Tatsache, egal ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht.
Bezogen auf Du oder Sie waren die mich prägenden Umgangsformen früher da als die meiner Nichte. Sie sind deswegen nicht automatisch veraltet oder falsch und erst recht nicht weniger frei: nur anders begrenzend. Das ist alles.