Altersgemäß

Letztens hatten wir Besuch. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern – drei und fünf Jahre alt. Als die Kleine zwischendrin fragte, wo mein Jüngster (neun Jahre) abgeblieben sei, sagte ich: „Der ist auf der Straße, geh mal gucken.“ Der Vater: „Die ist drei Jahre alt, bist du verrückt?“ Und mir wurde klar, was ich gemacht habe. Obwohl ich dem Kleinkindalter noch nicht so lange entwachsen bin, ist es Lichtjahre her für mich, dass ich unsere Kinder IMMER und ÜBERALLHIN begleiten musste. Natürlich ist ein solcher Auftrag – noch dazu in fremdem Wohnviertel – eine Komplettüberforderung für eine Dreijährige. Natürlich habe ich die Kleine an die Hand genommen und mit ihr zusammen nach MEINEM Kleinen gesucht.

Am Wochenende geht dieser Kleine für einen Tag auf ein Pfadfinderlager, abholen ist gegen neun. Abends. Finde ich viel zu spät. Die Verantwortlichen haben entweder keine oder ältere Kinder – klar. Mit zunehmendem Alter verschiebt sich „zu spät“ ganz schnell in Richtung „noch ziemlich früh“. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht zu sehr darüber aufrege – denn aus einem anderen als dem eigenen Erfahrungshorizont heraus zu beurteilen, zu entscheiden, das ist nicht so einfach.

Abschied auf Raten

Ich nehme Abschied von den Bedürfnissen meiner Kinder. Immerzu. Und damit auch Abschied von einer Rolle, einer Aufgabe, vom Gebrauchtwerden. Das ist einerseits schön und andererseits mit Wehmut verbunden: So sehr es mich freut, dass alle Rad fahren können, so sehr muss ich sie entlassen auf ihre Wege allein. So sehr es mich freut, dass auch der Jüngste sich lieber mit Spielpartnern trifft, als mit mir einkaufen zu fahren, so sehr blutet mein Herz, wenn er von diesen enttäuscht wird. So schön es ist, wenn der Große selbständig von einer Party nach Hause kommt, so sehr fühle ich mich außen vor, weil ich immer weniger weiß, mit wem er unterwegs ist. So sehr ich das gemeinsame Lernen nicht vermissen werde, so sehr muss ich akzeptieren, dass ich auch in anderen Bereichen keine echte Hilfe mehr für sie bin.

Ein Abschied nach dem anderen. Alle Errungenschaften meiner Kinder bedeuten eine Entlastung, aber auch eine Unabhängigkeit von mir, die sich bisweilen zwiespältig anfühlt. Irgendwann werden sie das Haus verlassen und einen anderen Ort ihr Zuhause nennen, andere Menschen näher an sich heranlassen als mich, andere Menschen mehr mögen als mich, anderen Menschen näherstehen als mir. Das ist in Ordnung, das muss so sein. Trotzdem ist es ein Abschied, der schmerzt.

Stille – schön und anstrengend

Du bist nicht verantwortlich für das, was in der Stille passiert; du bist dafür verantwortlich, dass es Stille gibt.“
Klaus Vorländer

Das ist ja genau das Problem. Stillezeiten einzubauen in unserem so bewegten Alltag, ist schwierig. Die Stille dann auch auszuhalten und nicht gleich wieder anzufüllen mit Gebet, Wunschzetteln, chaotischen Gedanken zu allem möglichen, dem Horchen auf die Umgebung, dem Ärgern über Äußerungen, die uns nicht passen… – noch schwieriger. Still sein, wirklich still sein.

Selbst Jesus ist weggegangen von den Jüngern, um allein zu sein. In den Bergen von Judäa war es sicherlich deutlich ruhiger als in der niedersächsischen Tiefebene, den bayrischen Bergen oder an der Mecklenburger Küste. Vor 2000 Jahren allemal. Aber das ist nur eine Ausrede: Die Gegend war vielleicht ruhiger, die Ablenkungen damals deutlich weniger zahlreich, aber die menschlichen Stimmen in einem selbst sicherlich ebenso unüberhörbar.

Für mich bleibt das ein Kampf – wirklich still zu werden. Gut dass ich nicht auch noch dafür verantwortlich bin, das und was darin passiert, entsteht, in Gang kommt.

Ich kann das noch – allein

Vergangenes Jahr habe ich allein Urlaub gemacht. Drei Tage, eine Radtour. Ich habe selbst überlegt, was ich machen will, wohin die Reise gehen soll, wen ich besuchen werde. Dann bin ich losgezogen, allein. Kalt war´s Anfang April, regnerisch, nicht einladend fürs Radeln. Aber die Wege waren schön, das Land flach. Zwei Tage frierend auf super ausgeschilderten Radwegen, dann weiter – bei tollem Wetter – zum Teil quer durch die Walachei. Keiner an meiner Seite, der mir beim Wegsuchen geholfen hätte – und keiner an meiner Seite, der ein anderes Tempo schön gefunden hätte. Keiner zum Reden – und keiner, der meine Gedanken mit seinen durchkreuzt hätte. Keiner, der mich ermutigt hat, als es fast zu weit wurde – und keiner, der andere Pausenplätze hätte aufsuchen wollen. Allein und frei!

Zwei Leute habe ich besucht und auch das war – so ganz allein – besonders. Ich habe alle Wege gefunden, bin angekommen, hab mich verfahren und wieder korrigiert, den Mut nicht verloren und es gut mit mir allein ausgehalten. Ich kann das noch, ich kann noch allein unterwegs sein, alles hier zu Hause hinter mir lassen und einfach losziehen.

Fließender Übergang

„Sie hat einen starken Willen“, hörte ich letztens, als es um ein kleines Kind ging. Böse Zungen könnten eine solche Eigenschaft auch „stur“ nennen. Die Grenze ist fließend. Eine meiner Töchter weiß ganz genau, was sie will, was sie gut findet, was nicht. Ganz genau. Solange wir mit ihr d´accord gehen – alles paletti. Wenn sie abends nicht mehr draußen Waveboard fahren darf, weil die Kaninchen nicht versorgt sind oder wir sie einfach mal gern um uns hätten oder ihr Zimmer nach mehrmaliger Aufforderung noch immer aussieht wie nach einem Erdbeben – dann ist mit ihr nicht gut Kirschenessen. Obwohl sie einem leckeren Obstteller nicht wirklich widerstehen kann.

Regelmäßig amüsieren wir uns darüber, wie wenig sie einlenkt, wenn sie nicht überzeugt ist. Wir können sie nicht zum Lachen bringen, und das bringt uns zum Schmunzeln – was sie wiederum gar nicht lustig findet.

Ist es gut, dass sie weiß, was sie will? Ja!

Ist es auch schwierig, dass sie so genau weiß, was sie will? Ja!

Eine Gabe birgt immer Segen und Fluch, eine Stärke kann immer auch eine Schwäche sein. Das Leben ist ein kompliziertes Ding.

Auf Augenhöhe oder in Schieflage

Wenn ich in der Grundschule Brötchenhälften belege und in der Pause verkaufe, gehe ich beim Verkaufen in die Hocke. Dann lächeln die Kinder meist. Sie brauchen trotzdem lange, um ihr Geld rauszusuchen und noch länger, um die Preise auszurechnen oder das Wechselgeld zu verstauen. Und sie fühlten sich wohl ebenso ernst genommen, wenn ich aufrecht stehen bliebe. Dennoch: Ich nehme mir das nicht vor, ich mache es einfach. Ich gehe auf Augenhöhe. Bei den Kindern fällt es mir leicht.

In Gesprächen mit Erwachsenen ist die physische Augenhöhe meist von allein gegeben, aber empfinden wir uns auch innerlich, seelisch, geistig auf Augenhöhe? Ich fühle mich schnell mal überlegen, wenn Menschen mir von Problemen berichten, die ich schon längst hinter mir gelassen habe: „Du weißt nicht, ob du im Kindergarten zu dem Elternabend gehen kannst? Andere Sorgen hast du nicht?“ Ebenso schnell fühle ich mich unterlegen, wenn Leute deutlich schlauer wirken oder sind als ich. (Obwohl diejenigen, die es tatsächlich sind, ganz häufig nicht so wirken und es mich in der Regel nicht spüren lassen.)

Am besten sind die Begegnungen, in denen es um Ebenbürtigkeit nicht geht, weil sie von vornherein da ist. Da werden die Unterschiede nicht totgeschwiegen oder ignoriert, sondern überlagert – von Wertschätzung, Annahme, unangestrengter Freundlichkeit und ehrlicher Freude über den anderen. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass unsere verschiedenartig gelagerten Kompetenzen uns ja immer auf Augenhöhe begegnen lassen könnten: Was ich schon weiß und kann, spielt sich nur in anderen Bereichen statt als bei anderen. Jegliches Bewerten – ob bewusst oder unbewusst – ist subjektiv und die Wurzel der empfundenen Schieflage.

Was die Stimme offenbaren kann

Ich höre, wenn jemand lächelt, während er redet. Sogar am Telefon. Andere können das auch, es ist keine Kunst. Ich finde es spannend, dass die Stimme so wenig verbergen kann, dass man lächelt. Zwar könnte ich nicht sagen, woran ich es höre, was sich anders anhört, aber ich höre es. Faszinierend. Höre ich genauso auch Wut? Ich glaube, ja. Oder Traurigkeit, die auch. Unsere Stimme ist ein offenes Tor hinein in unsere Gefühle – ob wir es wollen oder nicht. Vielleicht können Schauspieler die Stimme dahingehend modulieren, dass sie Gefühle vortäuschen oder unterdrücken können; Normalsterbliche können das nicht ohne weiteres, sondern nur, wenn sie sich bemühen. Oder?

Im normalen Tagesgeschäft begegnen mir andauernd Menschen (nicht digital!), denen ich nicht abspüre, in welcher Stimmung sie sich gerade befinden. Woran liegt das? Leben wir in einem Miteinander, in dem Gefühle keinen Platz haben? Ist unsere Gemeinschaft darauf ausgerichtet, nur Sachinformationen auszutauschen? Ich schätze, manches wollen wir gar nicht wissen, manche Gefühlsuntiefe ist auch nicht für jedermann; und die meisten Begegnungen sind kurz und bleiben oberflächlich.

Außerdem ist sich nicht jeder seiner eigenen Befindlichkeit bewusst. Ich kann mir vorstellen, dass das auch mit unserer Geschäftigkeit zu tun hat. Wir laufen im Erledigungsmodus durch unseren Alltag und funktionieren. Mal gut, mal weniger gut. Das ist nicht per sé schlecht: Manches muss einfach gemacht werden. Aber wir brauchen die Pausen, ganz sicher. Nicht um Nabelschau zu betreiben, sondern um Mensch zu sein. Dann sind Begegnungen möglich, in denen man die Stimmung hört – und im besten Fall reagieren und Anteil nehmen kann. Das ist wohl das, was wir menschliche Gemeinschaft nennen.

Ich freue mich jedenfalls immer, wenn ich jemanden lächeln höre…

Demokratie in der Familie

Unsere Kinder wachsen anders auf als wir. Wir sind in manchen Fragen weniger streng, als unsere eigenen Eltern es waren, in anderen deutlich enger. Wir ecken an mit unseren Orientierungshilfen und Leitlinien – und die Kinder artikulieren ihren Ärger über unser Eingreifen, unsere Ver- und Gebote. Das habe ich in der Form nicht getan. Elterliche Autorität war für mich deutlich weniger hinterfragbar, als sie es für unsere Kinder zu sein scheint. Ist das Demokratie heute versus Hierarchie damals?

Einerseits freut mich das: Unsere Beziehung ist zwar (noch?) nicht freundschaftlich, aber doch sehr offen, nah und ehrlich. Andererseits: Die Ehrlichkeit und Offenheit meiner Kinder strengt mich an und hätte wohl zu meiner Zeit schon als Respektlosigkeit gegolten: „Du unterbrichst doch genauso wie ich, Mama“, muss ich mir da anhören, „du hörst mir und meinen Argumenten doch auch nicht zu. Wieso sollte ich immer nachgeben, wenn du nie nachgibst?“ Ich kann nicht sagen, dass ich diese ehrliche Einschätzung meiner Erziehungsmethoden gern höre. Es wird allerdings ein Kern Wahrheit drin sein, selbst wenn ich die Faktoren „Teenager-Logik“ und „kindliche Unreife“ abziehe…

Familiendemokratie hat ihren Preis. Es ist anstrengend, wenn alle mitreden und mitentscheiden können; und am Ende sagt doch die stärkste Fraktion, wo es langgeht. Noch müssen sich bei uns die Eltern (Unterzahl) den Kindern (Mehrheit) nicht beugen; noch haben wir – meist – das letzte Wort. Aber bis zu diesem gibt es viel Diskussionsbedarf, wird bisweilen erbittert gekämpft um kleinste Zugeständnisse. Wir werden müde geredet, schwindlig argumentiert und müssen uns – vielleicht viel genauer als unsere Eltern – überlegen, warum wir welche Entscheidung nun gerade so treffen, wie wir sie treffen.

Ein Erziehungsstil ist nicht notwendigerweise besser als der andere; und ich bin mir bewusst: Die Grenze zur Nicht-Erziehung ist ein schmaler Grat – der immer schmaler wird, je mehr Demokratie wir in der Familie zulassen.

Unordnung hat ihren Preis, Ordnung auch

Ich weiß zwar, dass Entropie nicht gleich Unordnung ist – Entropie ist viel mehr und viel komplizierter. Sie misst die Umkehrbarkeit von Vorgängen. Daher sind Entropie und Unordnung sich zumindest ähnlich; und der zweite Hauptsatz der Thermodynamik bestätigt sich immer wieder in meinem ganz unwissenschaftlichen Alltagsleben: Obwohl ich grundsätzlich ein ordentlicher Mensch bin, kann man das in unserem Haus nicht unbedingt und immer sehen. Zu viele Menschen mit eigenen Bedürfnissen arbeiten in irritierender Konstanz daran, die bestehende Ordnung in Chaos umzuwandeln. Ich halte andauernd dagegen und vernachlässige dabei immer wieder einige Orte zugunsten anderer. Aus den Kinderzimmer schwappt die Unordnung in den Flur. Ich schaufele alles zurück auf die Betten, denn da stören Gegenstände am meisten. Im Gegensatz zu Schreibtischen, da stören Gegenstände in der Regel überhaupt nicht: Es gibt immer noch den Küchentisch als Alternative, wenn eine glatte, leere Oberfläche gebraucht wird.

Gefährlich wird es also spätestens, wenn Unordnung bis in die Küche vordringt. Zuerst werden die Arbeitsplatten invasiert. Von dort ist es bis zum Esstisch nicht mehr weit. Einer meiner Söhne sagt, ich solle ihm 24/7 das mobile Handgerät überlassen – das würde dann jedenfalls nicht mehr stundenweise in der Küche liegen. Der Preis ist mir zu hoch. Dann lieber Chaos…

„Kurznervig“ gibt´s nur im Duden nicht, im Leben schon

Es gibt böse Menschen, die behaupten, dieses Wort gebe es gar nicht – kurznervig. Deutschlehrer sind das, Kollegen meines Mannes, die kennen das Wort nicht – weil es nicht im Duden steht. Stimmt ja auch, es steht so nicht im Duden. Da gibt es nur solche Worte wie „dünnhäutig“, „zartbesaitet“, „hochempfindlich“ oder „kurzatmig“, aber die treffen es nicht. Kurznervig trifft es am besten: Ich gerate nicht außer Atem, meine Haut bricht nicht auf, und in mir reißt auch keine Saite. Nein, es sind meine Nerven die kurz vor dem Ende ihrer Belastbarkeit stehen, wenn jemand oder etwas darauf herumtrampelt.

Dieser Zustand ist nicht schön – weder für mich noch für meine Mitmenschen. Einzige Abhilfe: Distanz. Ich brauche dann Abstand. Körperlich ist schon gut – rausgehen, spazieren oder in ein anderes Zimmer. Noch besser ist, wenn sich meine Nerven distanzieren können. Wie geht das? Den Nerven eine laute Stimme geben ist nicht immer die beste Methode. Besser für mich ist – Sport. Mich so anstrengen, dass ich nicht mehr denken kann (oder will). Den Körper so beschäftigen, dass der Geist die Wut sausen lässt. Holzhacken würde sicherlich auch gehen. Oder Umgraben. Das dehnt, relativiert, beansprucht, bringt in die richtige Perspektive. Hinterher bin nicht mehr kurznervig, sondern – entspannt, elastisch, ausgeglichen. Langnervig gibt’s nämlich nicht, steht ja auch gar nicht im Duden.