Oh, ich bin mit dem Fahrrad da!

„Oh, du bist mit dem Fahrrad da“, bedauert mich meine Kollegin, als es zu meiner Feierabendzeit stark regnet. Ja, denke ich, ich bin immer mit dem Fahrrad da; unser Auto ist mit meinem Mann unterwegs. Ich krame meine Regenhose hervor, mache mich ohne Selbstmitleid auf den Weg und denke leicht nostalgisch an meine Kindheit und Jugend. `Damals´ und im Osten der Republik besaßen die meisten Familien nur ein Auto; in meinem Heimatort fuhren viele mit dem Rad. Bei schlechtem Wetter war das natürlich einigermaßen lästig; aber so denkt man nicht über etwas nach, was eben so ist. Dafür sparte man Geld, und auf den Straßen war deutlich weniger los – beides schöne Nebeneffekte eines Normalzustandes.

Heute wohne ich absichtlich und sehr gern in einer Stadt, in der ich alle Wege mit dem Rad erledigen kann. Das ist für mich Anlass zu großer Freude; Frust über schlechtes Wetter hat daher eine geringe Halbwertzeit. Viel bedauerlicher fände ich es, wäre ich für meine alltäglichen Wege auf das Auto angewiesen.

Momentan wärmt manchmal die Sonne schon, die Vögel zwitschern und es riecht nach Frühling. Wenn ich Feierabend habe, geht mir daher meistens ein Gedanke durch den Kopf: „Oh, ich bin mit dem Fahrrad da!“ 

Gewinn- und Verlustrechnung

Ich lagere einiges im Keller: Nudeln, Reis, passierte Tomaten, Öl, Toilettenpapier …: verschiedene Vorräte, die man im Fall von Hunger oder Putzwut gut gebrauchen kann. Normalerweise habe ich einen super Überblick über das, was noch da ist, und das, was ich auffüllen muss. In letzter Zeit kaufe ich manchmal eine Sache zu oft – und vergesse dafür eine andere. Es liegt nicht an meinem nachlassenden Gedächtnis, sondern an der zunehmenden Freundlichkeit meiner Familie: Neuerdings packt nämlich fast immer jemand mit an, meine Einkaufsbeute zu verstauen. Die zusätzlichen helfenden Hände dezimieren meinen bislang guten Überblick. Es hat eben alles zwei Seiten; ich finde, der Gewinn überwiegt den Verlust bei weitem.

Ernst gemeint

In der Stadt treffe ich überraschend eine ehemalige Nachbarin, die schon einige Jahre hunderte Kilometer entfernt wohnt. Seit kurzem hat sie hier einen Zweitwohnsitz mit eigener Praxis und freut sich, regelmäßig wieder in ihrer alten Heimat zu leben und zu arbeiten. Wir quatschen wie früher, gehen ein Stück zusammen und verabreden uns lose: „Melde dich, wenn du im Lande bist und Zeit hast!“ In diesem Fall ist es nicht nur eine Floskel; sie wird es tun, und ich werde mich freuen.

Konsequenz

Eine unserer Töchter diskutiert mit ihren Freunden über Erziehungsmaßnahmen. Manche finden einen Klaps in Ordnung und sind sich einig: Er war jedes Mal berechtigt, schnell vorbei und nie wirklich schmerzhaft – ein unmissverständliches `Bis hierher und nicht weiter´.

Andere sind total dagegen, Kinder `zu schlagen´ – was natürlich auch gleich viel brutaler klingt. Für sie scheinen nur zwei Extreme zu existieren: geduldig eingesetzte belehrende Worte oder willkürlich vollstreckte Prügelstrafe. Irgendwelche Schattierungen greifbarer Konsequenz? Fehlanzeige.

„Was haben eure Eltern denn gemacht, wenn ihr zum Beispiel abends nicht leise wart?“, will meine Tochter wissen. Ein Mädchen erzählt, dass sie früher immer Angst vor einem Handwerker hatte. War sie ungehorsam, hieß es daher, dieser Mann würde `gleich kommen´ – und der Vater stapfte langsam und schweren Schrittes die Treppe hoch. Auch noch einen Tag später ist mein Kind entsetzt und verwundert: „Und das finden sie besser, wenn ihnen Angst gemacht wird? Ich fass es nicht!“

Oder, nicht ganz so schlimm, aber dafür unlogisch: Stubenarrest unterschiedlicher (vorab nicht berechenbarer) Länge. Das sei zwar nicht so ein `Psycho-Ding´, findet meine Tochter – und trotzdem: Was genau lerne ich, wenn ich allein zu Hause sitze, weil es in der Schule nicht läuft oder ich mich nicht an Regeln halte?

Im Nachhinein ist unsere Tochter höchst zufrieden, dass wir sie weder zu Hause `eingesperrt´ noch `mit ihrem Kopf rumgemacht´ haben. Der eine oder andere Klaps sorgte für Respekt – und kurze Zeit später für so manches heimliche Lachen.

Laut ist nicht alles

Wer gehört werden will, muss den Mund aufmachen – und lauter schreien als die anderen.

Wer aber möchte, dass man ihm zuhört, braucht andere Kompetenzen: Er muss kompromissfähig sein, andere respektieren und ihre Leistungen wertschätzen können – und die Größe haben, im richtigen Moment die Klappe zu halten.

Radio-beschallt

Im Büro läuft das Radio DIE GANZE ZEIT. Die meisten Lieder sind nicht mein Geschmack; jede Stunde kommen dieselben Nachrichten und dazwischen irgendwelche Hörer-Umfragen. Ich fühle mich durch das Mehr an Information nicht schlauer, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Reiz-überflutet. Heute konnte ich zumindest leiser drehen. Dennoch ist schon der Rückweg auf dem Rad eine spürbare Wohltat; selbst der Verkehrslärm perlt angenehm an mir runter. Nachmittags lasse ich dann nur noch (nicht-Transistor-gefilterte) echte Lebensgeräusche an mein Ohr: Vogelzwitschern im Wald, Küchenkrach, Kindersorgen oder -freuden – alles, nur kein Radio.

Im Frieden

Mein Sohn trägt eine Zahnspange – wie so viele andere Kinder in seinem Alter; normalerweise geht er allein zum Kieferorthopäden. Diesmal gehe ich mit, um etwas mit dem Arzt zu besprechen, das sich am Telefon nicht klären ließ. Das Gespräch dauert nicht lange; während ich warte, dass mein Sohn fertig wird, beobachte ich das Hin und Her von Arzthelferinnen und Patienten. Was hier passiert, denke ich, ist nicht lebensnotwendig, aber `nice to have´ – ein Zeichen für den Frieden, in dem wir leben dürfen: in einer Arztpraxis sitzen und sehen, wie Jugendliche sich die schiefen Zähne geraderücken lassen.

Wortfindungsstörung …

Ich diskutiere mit meinem Mann, es geht hin und her, aber nicht voran. Ich merke: Er weicht einer klaren Antwort – und damit mir – aus. Mich ärgert das und ich sage: „Ich bin zwar nicht die hellste Torte auf der Kirsche …, nein, nicht die hellste Kirsche auf der Torte …, ach, Menno, nicht die hellste Kerze auf der Torte …“

So ein Mist, denke ich sofort, ich nehme mir einfach immer selbst den Wind aus den Segeln. Selbst wenn wir beide wissen, dass mein Mann sich windet und mich `hinhält´: So wird das nichts mit meinen Argumentationsketten.

Aufwand und Nutzen

Ein Sohn mäht eine dreiviertel Stunde lang den Rasen – und gleich wirkt der Garten aufgeräumt und gepflegt.

Mein Mann putzt eine Stunde lang die Fenster in der unteren Etage – und sofort durchflutet strahlendes Sonnenlicht unsere Räume.

Eine Tochter kocht anderthalb Stunden – und serviert uns anschließend ein leckeres Abendessen, das für zwei Mahlzeiten reichen wird.

Die andere Tochter lernt jeden Tag einige Stunden – kurzfristig fürs Abi und langfristig (hoffentlich) für ein ordentliches Allgemeinwissen.

Ich jäte zwei Stunden Unkraut in unserem Garten – und hinterher sieht man: nichts.

Fern und nah zugleich

Vor drei Wochen schrieb ich eine Mail an meine Freundin in Australien – was bei uns so los ist und wie es mir damit geht. Weil ihr Computer `on the blink´ (= kaputt) war, kommt ihre Antwort zwar erst heute, aber ebenso ausführlich.

Wir wohnen auf verschiedenen Kontinenten; sie lebt einfacher und mehr mit der Natur verbunden als ich und achtet viel stärker auf ihren ökologischen Fußabdruck. Andererseits ähneln sich unsere Erfahrungswelten: Wir sind im selben Alter, haben Kinder, arbeiten (neuerdings) beide Teilzeit und sind ansonsten mit Haus und Hof sowohl gut beschäftigt als auch sehr zufrieden. Entsprechend kann sie meine Gedanken nachvollziehen und ich ihre; ich freue mich über ihren ausführlichen Bericht. Am Ende schreibt sie: “Please take care of yourself amidst all the good things you do. Thank you for keeping in touch Dagmar.“ (Pass auf dich auf inmitten all der guten Dinge, die du machst. Danke, dass du dich gemeldet hast.) Wir sind innerlich verbunden, auch wenn äußerlich 17.000 Kilometer zwischen uns liegen.