Ganz ehrlich

Ich finde, ich kann nicht gut malen. Überhaupt nicht, ganz ehrlich. Pferde, Hunde, Katzen, Kühe und Schafe – alle sehen gleich aus. Häuser gehen, aber die Proportionen für die Fenster sind meist total unrealistisch. Ausmalen kann ich, das ist alles. Wenn ich meinen eigenen noch kleinen Kindern früher sagte, ich könne nicht gut malen, reagierten diese mit Empörung. Nach dem Motto: „Mama, wenn du nicht gut malen kannst, wie sehen meine Bilder dann aus?“ Verglichen mit einem kleinen Kind kann ich ein bisschen besser malen. Ihnen gegenüber zu behaupten, ich könne es gar nicht, hat sie entmutigt – also habe ich es nach einer Weile nicht mehr getan.

Mein Mann kann viel besser Mathe als ich, aber er sagt, er halte sich diesbezüglich für nicht sonderlich schlau. Er ist darin ganz ehrlich, aber mir tut diese Ehrlichkeit nicht gut: Sie lässt mich zweifeln, ob ich mein Mathe-Abi überhaupt verdient habe.

Letztens schrieb ich in einem Brief an eine ältere Dame ganz ehrlich, dass ich mein Alter spüre. Körperlich und geistig. Ich schrieb: „Ich bin in einer Lebensphase, in der Routine den Schwund an geistiger Beweglichkeit noch wettmacht; ich hoffe, ich merke, wenn dem nicht mehr so ist.“ Ich habe den Brief nicht abgeschickt. Ich horchte hinein in die 80-Jährige und wusste nicht, wie sie mit meiner ehrlichen Meinung zu mir selbst umgehen würde. Ob sie sich infrage gestellt fühlte ob ihres eigenen Alters und ihrer eigenen Geistesfrische.

Ganz ehrlich zu sein ist oft erfrischend und manchmal trotzdem nicht angebracht.

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