Von vollen und leeren Gläsern

Der Inhalt eines Tages ist objektiv betrachtet eindeutig definierbar. Dieser gefällt mir oder nicht: je nachdem, wie ich subjektiv darauf schaue.

Der Himmel ist bewölkt, es fehlt die Sonne – aber es regnet nicht.
Seit Tagen hocken wir alle fast nur zu Hause, Außenkontakt findet kaum statt – aber wir verstehen uns gut, haben Platz (und einsame Spazierwege vor der Tür).
Die Schulfreundin meines Sohnes bringt am Samstagmorgen die Hausaufgaben – und hat auch Brötchen für alle dabei!
Wir können derzeit nicht einkaufen – aber Freunde bieten uns ihre Hilfe an.

Es liegt bei mir, ob ich das Glas als halb leer betrachte oder als halb voll.

Ich weiß auch was!

„Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.“
Albert Einstein

Bei einer Konferenz höre ich einen Vortrag von einer Frau, die etwas chaotisch wirkt: Sie erzählt engagiert und beschreibt weniger die Fakten als das Drumherum. Mich spricht das an, denn ich ticke so ähnlich. Noch während ich ihr zuhöre, weiß ich, dass ich am Ende keine klaren Gedanken `mitnehmen´ werde, sondern eher ein bestätigendes Gefühl meiner eigenen Sicht auf das Leben. Ich weiß auch, dass ich wegen meiner ähnlich intuitiven Art in Diskussionen schon oft den Kürzeren gezogen habe – der Kopf scheint immer schwerer zu wiegen als der Bauch.

Dieselbe Erfahrung macht die Frau offensichtlich auch. Sie erzählt von ihrer Unsicherheit angesichts scheinbar `überlegener´ Argumente und dem Frust, der damit einhergeht. Es tut mir gut, das zu hören; aber nicht nur das: Sie sagt einen Satz, der mir nach fast drei Jahren noch immer sehr deutlich im Ohr klingt: „Aber ich weiß auch was!“ Es klingt ein bisschen trotzig, vor allem aber fröhlich und unbeschwert. Bei allem Respekt für die Fakten des Lebens möchte ich mir daran ein Beispiel nehmen und (zuallererst für mich) festhalten: Ich weiß auch was!

Eine Chance

Die meisten Infekte der Atemwege verlaufen harmlos und stärken die Immunabwehr; sie führen in der Regel nicht zum Tod. Vor allem wenn ein Kind krank wird, ist das selten gefährlich, sondern nur lästig. Einigen anstrengenden Tagen und Nächten folgt eine stabilere Gesundheit. Das gilt trotz höherer Infektiosität auch für Covid-19: Sehr viele Menschen sterben nicht an diesem Infekt und leiden auch nicht unter `long covid´. Traurige Ausnahmen gibt es bei jeder Krankheit – und ebenso beim Autofahren, Fliegen, einem ungesunden Lebensstil usw.

Normalerweise vertrauen wir genau auf diesen Regelfall und ängstigen uns nicht vor der Ausnahme – bevor wir uns infizieren und besonders, wenn wir infiziert sind. Leider ist uns diese Einstellung in den letzten zwei Jahren systematisch verloren gegangen: ein bedauerliches `long covid´-Symptom. Die derzeit vorherrschende Omikron-Variante ermöglicht uns auf wunderbare Weise, wieder Vertrauen zu wagen anstatt in Furcht zu verharren.

Vom Planen

Ich erinnere mich an einen kurzen Aufenthalt in einer Art Jugendherberge in Australien: `Geplant´ hatte ich zwei Tage. Sintflutartige Regenfälle verhinderten für eine knappe Woche jede Weiterreise. Nach anfänglichem Murren einiger Gäste arrangierten wir uns miteinander, kochten gemeinsam, erlebten überflutete Straßen und verbrachten eine gute Zeit. Vorab `ungeplant´ nahm mich anschließend ein anderer Gast mit auf eine dreitägige und über 1.500 Kilometer lange Tour, die bei seiner sehr gastfreundlichen Familie in Melbourne endete. Ohne den Regen wäre ich `planmäßig´ weitergezogen, wäre wahrscheinlich nie in den Süden gekommen – und hätte heute keinerlei Erinnerung mehr an diesen Teil meiner Reise. So aber hat er sich eingebrannt als ein besonderes Erlebnis.