Gedankenverloren oder ignorant?

Ich fahre mit dem Rad auf eine Gruppe junger Mädchen zu, die auf dem Radweg stehen oder sich diesem nähern. Eine von ihnen sieht mich und bleibt stehen oder geht zur Seite. Sagt sie den anderen Bescheid? Nö; sie ist gedankenverloren oder ignorant.

Vor dem Supermarkt sind viele Parkplätze für Autos und ein kleiner Abschnitt an der Wand für Fahrräder. Oft parkt auch dort ein Auto: Es ist schließlich nah dran an der Eingangstür. Denkt der Fahrer darüber nach, dass er den Radfahrern damit buchstäblich im Weg steht? Nö; er ist gedankenverloren oder ignorant.

An der Supermarktkasse steht ganz vorn ein älteres Ehepaar. Mann und Frau packen gemeinsam und in aller Ruhe die Einkäufe ein. Erst als alles verstaut ist, zückt die Frau das Portemonnaie. Merken die beiden, dass sich hinter ihnen eine lange Schlange gebildet hat? Nö; sie sind gedankenverloren oder ignorant.

Schwere Sprache(n)?

„Es ist gut zu wissen, dass ihr okay damit seid …“, schreibt eine meiner Töchter und ich verziehe ein wenig das Gesicht. Sie lebt gerade in einem englisch-sprachigen Umfeld, das erklärt einiges. Dort ist es normal, `to be okay´ zu sagen und zu meinen, dass man etwas in Ordnung findet.

Zu derselben Kategorie gehört, wenn ich davon spräche, dies oder das sei `fein für mich´. Es ist zwar die wortwörtliche Übersetzung von `it is/works fine for me´; idiomatisch korrekt wäre aber, dass etwas gut läuft oder gut ist.

Ebenso löst die Aussage, etwas solle `in Existenz kommen´, bei mir verständnisloses Kopfschütteln aus. Denn ich verstehe zwar, was gemeint ist, staune selbst aber lieber darüber, wenn etwas zustande kommt.

Ich liebe die englische Sprache sehr – ebenso wie meine deutsche Muttersprache. Jede hat ihren eigenen Reiz, samt feststehender Redewendungen und einem sich ständig erweiternden Wortschatz. Es ergibt – nicht macht(!) – für mich keinen Sinn, zwei Sprachen unbedarft miteinander zu vermischen: Sie verlieren dadurch ihre Einzigartigkeit.

Das ganze Paket und so

Die Einfahrt unserer Nachbarn liegt voller Holz. Das sei der abgerissene Dachstuhl eines alten Hauses, erfahre ich; sie hätten das ganze Paket sozusagen geerbt: „Da waren ursprünglich ein paar schöne alte Türen dabei, die ich aufmöbeln wollte“, sagt sie. „Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Ladung hoffentlich zu 99 Prozent als Brennholz“, ergänzt ihr Mann. Seiner Meinung nach, werden sie die nächsten drei Wochenenden damit beschäftigt sein, den ganzen Kram in brennfertige Stücke zu zerlegen und aufzustapeln.

Die Geschichte erinnert mich an Leute, die vor Jahren in unsere Straße gezogen waren: Weil der verstorbene Vorbesitzer unter anderem ein Klavier und einige wenige antike Möbelstücke hatte, übernahmen sie das ganze Paket – Haus mitsamt Mobiliar. Bei näherer Betrachtung war das Klavier dann doch nicht mit im Sortiment, stattdessen aber diverse Schränke, Stühle und Regale im 70-er Jahre-Schick. Kaum etwas davon ließ sich aufhübschen und weiterverwenden. Dafür dauerte es einige Wochen, die freundlichen Beigaben zu entsorgen: längst abgelaufene eingelegte Kartoffeln, diverse Anzüge und Hemden eines altmodischen Endsiebzigers und noch viel mehr.

Beide Fälle illustrieren anschaulich, was letztlich allem zugrunde liegt, unseren Beziehungen, Familien, Arbeitsplätzen, Hobbys, Ehen – das Ganze-Paket-Prinzip. Wir bekommen nie nur die Perlen, sondern unter der Sahnehaube verbirgt sich bisweilen eine sehr bröselige Enttäuschung: Mit unseren Liebsten halten wir es manchmal kaum aus; Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen; sogar der tollste Job hat einen Haken; jede Leidenschaft kostet auch Nerven, Zeit und Kraft und selbst der beste Ehemann der Welt … ist nur aus der Ferne betrachtet fast perfekt.

Das Leben ist wunderbar und gleichzeitig herausfordernd, manchmal grausam und mühselig – und auf jeden Fall begrenzt. Wir haben nur das eine ganze Paket aus Freude und Trauer, Möglichkeiten und Begrenzungen, Leichtigkeit und Beschwernis. Da ist ganz viel Gutes und manches sehr schwierig, dazwischen ein paar wenige Gold-Nuggets und das alles bei sehr alltäglichem Einerlei. Und dennoch: Wer würde seins auch nur in Teilen gern eintauschen wollen? Eben.

Wer lesen kann … reicht manchmal nicht!

„Wer lesen kann, ist klar im Vorteil“, gab die erste Grundschullehrerin meines Sohnes diesem manchmal mit auf den Weg. Ihr Kommentar richtete sich an mich, wenn ich einen der vielen Elternbriefe nicht gründlich gelesen und dadurch irgendein Extra versäumt hatte. Ich kann wohl lesen, dachte ich jedes Mal und fühlte mich sowohl missverstanden als auch unangemessen belehrt: Die vielfältigen Drumherum-Veranstaltungen in Schule waren noch nie meine erste Priorität. Dennoch ist der Satz mir hängengeblieben – mit Beigeschmack.

Gestern landete ein Paket wieder bei mir, das ich vor etwa vier Wochen an meine Tochter in Sambia losgeschickt hatte. Gefahrgut ist außen angekreuzt; innen finde ich einen Zettel. Leider hätte man in diesem Paket `Inhalte festgestellt, die von der Beförderung im internationalen Postverkehr ausgeschlossen sind`. Auf einem weiteren Zettel steht, was alles dazu gehört; unter anderem Parfüm, ein entflammbarer Kosmetikartikel. Wer lesen kann, schießt es mir durch den Kopf, oder besser: Wer AHNEN kann, dass man irgendwo etwas Wichtiges lesen kann, ist klar im Vorteil.

Für das nächste Mal weiß ich (hoffentlich) Bescheid – es sei denn, es existiert noch eine dritte Schwierigkeitsstufe. Ich bin gespannt.

Wie gut!

Mein Heimweg von der Arbeit beträgt achteinhalb Kilometer und fällt heute in die Zeit am Tag, in der es durchgängig regnet – das ist nicht so gut. Ich habe meine Regenhose an und die warme Winterjacke – das ist gut. Weil ich noch Linsen fürs Abendbrot kaufen will, halte ich beim Supermarkt an. Von hier aus ist es nur noch ein knapper Kilometer – auch gut. Meine Jacke ist zwar warm, aber nicht wasserdicht – wieder nicht so gut. Bis zum Supermarkt bin ich unten drunter nur nass, aber nicht kalt – wieder gut. Die von mir präferierten Linsen sind gerade nicht da; von den Marken-Linsen kostet die halbe Menge anderthalbmal so viel – wieder nicht so gut … Als ich wieder auf mein Rad steige, bin ich nicht nur nass, sondern auch kalt – jetzt reicht´s mir aber.

Zehn Minuten später bin ich zu Hause und alles ist gut. Eine Gedichtzeile zischt mir durch den Kopf, nach Recherche weiß ich, dass sie von Nietzsche ist: „Bald wird es schnei´n – wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!“

Der erste Schnee!

Es schneit und taut aber fast gleichzeitig. Kleine, nasse Flöckchen fallen zu Boden und verwandeln Straßen und vor allem Radwege in matschige Rutschbahnen. Ich habe keine Lust auf diese Art von Winter und begebe mich vorsichtig auf den Weg nach Hause. Es ist nass-kalt, aber meine Jacke ist warm; außerdem radele ich mich warm. Nach zehn Minuten macht mir das Wetter nichts mehr aus – im Gegenteil: Ich freue mich darüber, in der frischen, feuchten Luft unterwegs zu sein. Noch etwas später begegnen mir zwei Mütter mit vier Kindern und zwei Schlitten. „Schön, jemanden zu sehen, der sich über den Schnee freut“, rufe ich den beiden Frauen zu. „Wir müssen uns aber beeilen“, antwortet eine, „es ist ja gleich wieder vorbei.“

Der erste Schnee diesen Winter ist vielleicht der erste Schnee, den zwei der Kinder in ihrem Leben bewusst wahrnehmen. Es kann eine positive Erfahrung werden – egal, wie nass die sechs am Ende ihres Ausflugs sein werden. Entscheidend sind die Mütter: dass sie sich die Mühe machen, überhaupt rauszugehen, und wie fröhlich und staunend sie selbst mit der vergänglichen `weiß-grauen Pracht´ umgehen.

Der Mond ist aufgegangen

Eine Bekannte von mir stellt Schülern ein Rätsel. Für sie unerwartet kennt keiner der jungen Menschen den Entertainer Günther Jauch. „Die sind doch gar nicht so viel jünger als ich“, wundert sie sich. Mich überrascht diese Bildungslücke nicht – schließlich wandelt sich das Unterhaltungsangebot in einem rasanten Tempo und sind Stars von heute schon morgen buchstäblich wieder vorgestrig. Die Medien- und Erfahrungswelten der Generationen überlappen immer weniger.

In meiner Jugend, trafen sich Großeltern, Eltern und Kinder zum gemeinsamen Fernsehabend: Alle kannten oder wussten von Serien wie Denver Clan, Dallas oder Magnum beziehungsweise Samstagabend-Shows wie Einer wird gewinnen mit Hans-Joachim Kulenkampff, Dalli Dalli von Hans Rosenthal, Wetten, dass …? unter wechselnder Moderation … und eben auch Günther Jauchs Wer wird Millionär?

Heutzutage schauen Eltern mit ihren Sprösslingen gemeinsam Kinderfilme, bis die Kleinen alt genug sind, allein vor dem Bildschirm zu sitzen. Von da an interessieren diese sich für ständig neue Videos oder Serien, die in unfassbarer Geschwindigkeit am Medienhimmel auftauchen. Viele von ihnen sind für den Geschmack der Eltern zu hektisch, zu lang und zu laut (und irgendwie alle gleich). Ebenso schnell wandelt sich die Musik, die man so hört. Selbst jahrhundertealte Volks- und Kirchenlieder verschwinden innerhalb einer einzigen Generation unaufhaltsam und vielleicht unwiderruflich.

Ich beobachte diese Entwicklung ein wenig wie von der Seitenlinie – und finde sie in manchen Fällen sehr bedauerlich. Natürlich muss man Günther Jauch und Kollegen nicht kennen, um gut durchs Leben zu kommen. Um `Der Mond ist aufgegangen´ tut es mir erheblich mehr leid …

Auf ein Neues

Als ich vor einem Jahr neu in einem Büro anfing, reagierte mein Rücken mit einem Hexenschuss. Offenbar muss ich mich an stundenlanges Sitzen erst gewöhnen, dachte ich. Nachdem sich die Muskeln wieder entspannt hatten, kam ich beschwerdefrei durch die folgenden Monate.

Dieses Jahr geht es genauso los – neuer Job, neues Büro, neuer Hexenschuss. Meine neue Chefin reagiert mitfühlend und erzählt, dass sie jeden Morgen eine Viertelstunde Gymnastik macht. „Ich auch“, erwidere ich müde und schmerzgeplagt. Offenbar reicht das nicht, denke ich – genau wie letztes Jahr.

Eine Kollegin hört uns zu und lächelt: „Ich mache keine Gymnastik und bin“, sie bewegt sich grazil hin und her, „beweglich wie eine junge Gazelle!“ Schön für dich, denke ich, will aber nicht neidisch sein. Ich weiß, es ist eine Frage der Zeit. Bald werde ich mich wieder so frei wie sie in alle Richtungen beugen und drehen können. Bis dahin ist die Wärmflasche mein liebster Begleiter. Ich werde, wenn möglich, zwischen Sitzen und Stehen wechseln und insgesamt vorsichtiger sein. Immerhin kann ich noch Rad fahren, darüber freue ich mich – genau wie letztes Jahr.

Schule der Gladiatoren

Eine junge Familie ist in unsere Nachbarschaft gezogen. Der Mann war früher Lehrer, arbeitet jetzt aber als IT-Experte. Es interessiert mich, wieso er ausgestiegen ist. Mit dem Lehrersein an sich habe dies nichts zu tun, versichert er mir. Aber alle wollten mitreden: Eltern, die Schüler selbst, Bekannte, die selbst noch nie vor einer Klasse gestanden haben. Außerdem habe es wenig Respekt gegeben den Lehrern gegenüber und keine Möglichkeit, darauf zu reagieren: „Schule ist, als würde man wie ein Gladiator in die Arena geschickt – nur ohne Waffen und ohne Rüstung. Und was macht man dann? Sterben.“

Nicht jeder Lehrer empfindet es wohl ebenso, einige vielleicht doch. Das ist schade. Mir tut es leid um jeden, der gern unterrichten würde und es aber wegen der schwierigen Bedingungen doch nicht tut – verständlicherweise: Im Gegensatz zu den Gladiatoren in Rom ist es hier und heute möglich, sich gegen die Arena zu entscheiden.

Vom Leben und Sterben

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Psalm 90, 12

Freunde von uns haben in den vergangenen Wochen einen ihrer besten Freunde begleitet, der im Sterben liegt. Dafür verbrachten sie einige Wochenenden in der Ferne bei ihm und nicht hier, wo sie zu Hause sind. Heute waren sie nach langer Zeit wieder bei uns im Gottesdienst. Sie sind emotional ausgelaugt und doch dankbar für die Zeit, die sie mit ihrem Freund verbringen konnten. Andererseits freuen sie sich zunächst wieder über Alltag und Normalität – der eigene Haushalt, Arbeit, Kollegen, Nachbarn … Leben halt.

Das Sterben ihres Freundes geht weiter. So gern sie daran Anteil nehmen und ihm nahe sein möchten: Momentan tut ihnen die räumliche und gedankliche Distanz gut. Es braucht eine gesunde Ambivalenz im Umgang mit dem Tod. Denn er gehört zum Leben dazu – 100 Prozent Mortalitätsrate, wie eine Bekannte es sagt. Nur der Zeitpunkt ist unbekannt. Sie hat recht; es ist gut, sich bewusst zu machen, dass unser Leben enden wird. Das ist nicht morbide oder masochistisch, sondern realistisch und heilsam. Es hilft, unsere Prioritäten schlau zu setzen: Wie wollen wir leben, reden, agieren und uns einbringen? Wir haben eben nicht ewig Zeit dafür, auch wenn es uns inmitten des täglichen Einerleis so vorkommen könnte. Und trotzdem darf unser Leben-Wollen nicht vom Sterben-Müssen überlagert werden. Den Gedanken an letzteres halten wir nur dosiert aus. Zu leben bedeutet eben auch, die kostbaren einzelnen Momente in vollen Zügen zu genießen, ohne traurig auf das baldige Ende zu warten.