Mein Tos (sprich: Toss)

„Da ist es wieder, dein Tos“, sagt mein Mann und lächelt dabei. Sofort versuche ich, meine Gesichtszüge zu entspannen und die Stirn zu glätten. Manchmal will ich es nicht wahrhaben: „Da ist gar kein Tos!“, antworte ich dann. Aber es nützt nichts, mein Mann sieht es trotzdem.

Ihm selbst fehlt das Tos komplett, was ich sehr merkwürdig finde. Für mich gehört es zur Grundausstattung jedes ganz normalen Gesichts. Mein Mann verfügt nicht über dieses wichtige Instrument. Ich frage mich zum einen, woran das liegt; zum anderen wundert mich, wie er ohne Tos zurechtkommt!

Das Tos ist ein Spiegel der Seele, ein Tor in der Fassade der (oft unbewussten) Selbstdarstellung. Es ermöglicht non-verbale Kommunikation erster Güte: Sobald ich konzentriert nachdenke oder mich ärgere, zieht sich meine Stirn in der Mitte zusammen – und ganz von selbst erscheint die sogenannte Zornesfalte (englisch: triangle osadness), das Tos. Es offenbart nicht nur meinem Mann etwas über mein Innenleben, sondern auch mir selbst. Denn manchmal merke ich gar nicht, wie angespannt ich innerlich bin. Aber dann sieht mein Mann das Tos – und wir wissen beide Bescheid.

Zeitlos schön

Mir begegnet eine ältere Dame. Sie sieht aus, als wäre sie dem letzten Jahrhundert entsprungen: mit Hut und Lodenmantel, Spazierstock und Schuhen, die (Entschuldigung) typisch aussehen für Frauen jenseits der 75: unbequem und altmodisch, aber in ihren Augen sicherlich stilvoll.

Als diese Frau jung war, kleidete sie sich wahrscheinlich anders. Was würde wohl ihr 20-jähriges Alter Ego zu dem heutigen Outfit sagen? Auch ich werde mit 70+ nicht mehr dasselbe schön finden und anziehen, was mir heute gefällt. Kleidung ist Moden und Trends unterworfen; außerdem ändert sich der persönliche Geschmack im Laufe des Lebens.

Die Schönheit anderer Dinge ist weniger vergänglich. Mein Schlüsselanhänger zum Beispiel ist über 30 Jahre alt, ein geschätztes Überbleibsel aus meiner Studienzeit in Freising. Als vor einigen Jahren das Band zerschlissen war, fand mein Lieblingsschuster eine stabile Lösung – kostenlos. Der Anhänger ist sowohl groß als auch klein genug und noch immer genau mein Geschmack: zeitlos schön halt.

Eine besondere Fremdsprache

Im Zug sehe ich zwei Menschen, die sich in Gebärdensprache unterhalten. Es ist – natürlich – kein Ton zu hören, dennoch bekommen alle Anwesenden das Gespräch mit. Finger, Gestik und Mimik der beiden wirken wie beiläufig und automatisch. Sie müssen über ihre tonlosen Zeichen offenbar ebenso wenig nachdenken wie ich über das, was ich mit meiner Stimme mache.

Gleichzeitig sind sie konzentriert beieinander und beobachten sich genau. Ihre Mimik ist offensichtlich und ausdrucksstark. Es wird übertrieben gelächelt; im nächsten Moment gehen die Mundwinkel stark nach unten. Die zwei sprechen Bände mit ihren Gesichtern: Da ist deutliche Ablehnung zu erkennen und lebhafte Zustimmung, unterbrochen von betont gleichgültigem Kopfschütteln mit Schulterzucken.

Zwei Menschen sprechen eine mir vollkommen unbekannte Sprache. Ich höre nichts und verstehe kein Wort. Aber ich bilde mir ein, ihre Stimmung lesen zu können … 

Keine Chance? Früher anfangen!

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“
Sacharja 4, 6

Sein Sohn fordere Taschengeld ein, halte sich nicht an Absprachen und tue Dinge einfach nicht, erzählt mir ein flüchtiger Bekannter, den ich beim Spazierengehen treffe. Schuld sind aus seiner Sicht die Umstände: Schon die Kleinsten wüssten heutzutage, welche Rechte sie hätten, sagt er: „Was kannst du als Eltern noch erziehen? Die Kinder lassen sich doch von uns schon im Kindergartenalter nichts mehr sagen!“ Er klingt resigniert. So habe ich das nicht erlebt, aber unsere Kinder waren auch immer nur ein paar Stunden fremdbetreut. Die letzte Autorität damals waren wir: Wir haben geprägt, erzählt, diskutiert, Werte vermittelt, Grenzen gesetzt, Konsequenzen folgen lassen … was man so macht eben.

All das war wichtig, denn ein paar Jahre später ist es anders. Bei Teenagern können wir als Eltern tatsächlich weniger ausrichten; sie wollen und müssen sich abgrenzen (dürfen). In der Pubertät prallen unsere Argumente ab, treffen unsere gut(gemeint)en Ratschläge auf taube Ohren, wirken unsere Prinzipien nicht überzeugend, sind unsere Interessen nicht ansteckend, pellen die geliebten `Kleinen´ sich ein Ei auf unsere Bedenken … In dieser Lebensphase müssen sie ihren eigenen Stil finden, ihre eigenen Erfahrungen machen, ihre eigenen Grenzen kennenlernen (und überschreiten), auf ihre eigene Nase fallen – und ihre eigenen Erfolge feiern. Wir können sie liebhaben, nachfragen (in Maßen), ermutigen und für sie beten. Wie sie dann ihr Leben gestalten, liegt nicht in unserer Hand: Gott sei Dank!

Kommunikation `leicht´

Meist schreibe ich Textnachrichten. Nur selten nutze ich die Aufnahmefunktion, denn in der Regel finde ich Sprachnachrichten zu lang. Wenn ich doch eine verschicke, versuche ich deshalb, mich sehr kurz zu fassen. Zufällig bin ich dabei, als mein Sohn eine Sprachnachricht von mir abhört – in anderthalbfacher Geschwindigkeit. Ach ja, denke ich, kann man machen.

Meine Stimme klingt fröhlich, schwungvoll bis leicht hektisch und wie durch Lachgas verändert: Ich höre mich an wie Mickey Mouse, ein wenig außer Atem. Zwar verstehe ich nicht alles auf Anhieb, aber der Inhalt ist zweitrangig. Allein schon die Geschwindigkeit bringt mich zum Schmunzeln; es kann sich nicht um ein trauriges oder ernstes Thema handeln. Nur die Hälfte verstehen und ein Audio-Erlebnis im Comic-Stil: Könnte man ohne technische Hilfsmittel so reden, wäre für Trübsal wenig Platz – und Kommunikation immer von einem Lächeln begleitet.

Oh Mann!

Ich begleite meine Tochter zu einem Seminartag fern der Heimat. Während sie sitzt und zuhört (oder so), beantworte ich Mails, schreibe Texte und gehe spazieren (und so). Die Gegend ist schön; wir sind im Bergischen.

Aus Celle bin ich ähnlich plattes Land gewohnt wie die Ostfriesen. Hier dagegen geht es munter hoch und runter – zum Wandern schön, beim Radfahren und Laufen sicherlich herausfordernd bis nervig. „Nimm deine Wanderschuhe mit“, hatte mein Mann mir vorher geraten. Da ich inzwischen meistens auf ihn höre, bin ich bestens gerüstet.

Als ich mich das zweite Mal auf den Weg mache, biege ich gleich am Anfang anders ab, ohne es zu merken. Nach einer Weile erscheint mir alles fremd und neu, was nicht verwundert. Irgendwann finde ich den alten Weg wieder – und biege später noch einmal anders ab … Ich will nicht behaupten, dass ich die Gegend dadurch besser kennenlerne; aber anschließend wirkt die vierstündige Rückfahrt wie eine schöne (und gemütliche) Perspektive.

Formal – für wen?

Ich beherrsche kein Amtsdeutsch. Wenn ich so schreibe, wie ich es für verständlich halte, erhalten meine Mails (auch die offiziellen) leicht einen nahbaren Ton. Es fällt mir einfach schwer, mich förmlich und formal auszudrücken – und ich mag es auch nicht. Schließlich ist der Empfänger meiner Nachricht immer noch ein Mensch!

Kürzlich telefonierte ich mit der Pressestelle einer Behörde, weil ich ein paar Fragen hatte. Der Mann am anderen Ende der Leitung war sehr freundlich: „Schicken Sie mir mal Ihre Fragen“, sagte er, „ich schreibe Ihnen dann eine Antwort.“ Wir verabschiedeten uns auf baldiges Wiederlesen. Normal halt. Einen Tag später kam seine Antwort: kein persönliches Wort bis auf die Anrede und das übliche `Mit freundlichen Grüßen´ am Ende. Dazwischen nur absolut steifes Behördendeutsch. Oh, Mann, dachte ich, muss das sein? Wenn ich mich konzentriere, verstehe ich zwar auch diese leicht gestelzte Sprache. Dennoch frage ich mich, warum mancherorts der Form derart Genüge getan werden muss – buchstäblich. Es klingt schön offiziell, einheitlich und ist nicht angreifbar. Aber wer, bitte, mag sowas lesen? Ich kenne niemanden! 

Sanftmut

„Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Keuschheit.“
Galater 5, 22

Ich höre eine Predigt von Timothy Keller, einem amerikanischen Theologen, der vergangenes Jahr gestorben ist. Es geht um die Frucht des Geistes, nämlich Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Keuschheit. Laut Timothy Keller ist das ein bunter Blumenstrauß großartiger Eigenschaften. Sie sind in jedem Christen vorhanden, sagt er, allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt. Jeder könne sich fragen, in welchem Charakterzug er am meisten Luft nach oben sieht.

Ich denke eine Weile darüber nach. Verglichen zu früher bin ich sicher geduldiger geworden und gelassener (habe deutlich mehr inneren Frieden), vor allem in Bezug auf Dinge, die ich nicht kontrollieren kann. Wachstumspotential sehe ich unter anderem bei Sanftmut, dieser schwer greifbaren Wesensart: sich selbst zurücknehmend, wohlwollend und gnädig umzugehen mit der Andersartigkeit seiner Mitmenschen. Zwar bin ich längst nicht mehr so schnell auf 180 wie vor zwanzig Jahren, aber Sanftmütigkeit ist noch immer nicht `mein Gefährt´.

Ich erzähle meinem Mann davon; insgeheim wünschte ich mir den Zuspruch, ich sei viel zu kritisch mit mir. Aber er ist wie immer ehrlich, lächelt und bestätigt meine nicht ganz so angenehme Selbsterkenntnis. Gleichzeitig vermittelt er, dass er mich sehr liebt. Ohne Parallelen ziehen zu wollen: Gott sieht mich ebenso. Ich könnte mich also zurücklehnen, wissend, dass ich halt so bin – in bestimmten Fragen mit Luft nach oben. Aber interessanterweise motiviert mich genau diese sanftmütige Akzeptanz dazu, mich selbst genau in dieser Richtung weiterzuentwickeln.

Wie gewohnt

Einer unserer Supermärkte schließt von Samstagmittag bis einschließlich Mittwoch – es wird umgebaut. Entsprechend sind am Samstagmorgen die Regale nicht mehr wie gewohnt vollständig gefüllt. Dafür bekommt man Produkte aus der SB-Kühltheke zum halben Preis. Es herrscht schon jetzt eine gewisse Hektik, die Verkäufer wirken leicht gestresst. Denn das Abbauen und Verrücken der Regale hat an einigen Stellen bereits begonnen. Ab heute Mittag werden die Mitarbeiter ausräumen, umbauen, neu installieren und am Ende wieder einräumen, was das Zeug hält. Mindestens einer muss den Überblick behalten, damit am Donnerstag alles wieder zu finden ist – wie gewohnt kundenfreundlich hübsch drapiert.

„Hier bekommen wir heute nicht mehr alles, was wir suchen“, raunt eine Bekannte mir enttäuscht zu. Ich erinnere sie daran, dass wir in unmittelbarer Nähe, nämlich weniger als einen halben Kilometer entfernt, ZWEI weitere Supermärkte haben. „Ja, das stimmt“, sagt sie und klingt ergeben in ihr Schicksal: Manches gibt es eben nur hier genauso, wie wir es gewohnt sind.

Die Schließung wirft ihre Schatten voraus und an den Kassen drängen sich ein paar mehr Kunden als an einem gewöhnlichen Samstagmorgen. Uns nähert sich ein Bewohner einer in der Nähe befindlichen Behinderteneinrichtung. Er spricht `meine Kassiererin´ an – ohne höfliche Zurückhaltung, sprich: ohne abzuwarten, dass sie fertig abkassiert hat. Die Kassiererin bleibt freundlicherweise freundlich und hört ihm zu, ein Kunde in der Schlange nicht. „Hey“, ruft er ungeduldig, „die Frau kassiert doch gerade.“ Allerdings scheint es ihm weniger um die Frau an der Kasse zu gehen als darum, dass seine Wartezeit sich verlängern könnte.

Nachdenklich fahre ich nach Hause. Normalerweise macht man etwas neu oder baut um, damit es hinterher schöner ist als vorher. In diesem Fall sind wir als Kunden die Zielgruppe dieser Verschönerungsmaßnahme. Einige von uns waren heute Morgen weder voller Vorfreude noch verständnisvoll, sondern einfach nur genervt: Weil es kurzzeitig mal nicht so läuft wie gewohnt. 

Keine Zeit?

„Dafür habe ich keine Zeit“, sagt eine Freundin: Sie komme einfach nicht dazu, sich die Hände einzucremen. Auch ich creme mir nicht oft die Hände ein, aber es liegt nicht an der fehlenden Zeit – die hätte ich. Ich putze mir schließlich auch dreimal am Tag die Zähne (vielleicht etwas übertrieben), treibe regelmäßig Sport (völlig freiwillig), schreibe Briefe an meine Kinder (anrufen ginge schneller), gehe spazieren, lese heute Nachrichten (die morgen schon wieder von gestern sind) … – und tue noch viel unnötigeren Kram.

Wenn man´s genau nimmt, hat jeder von uns `alle Zeit der Welt´. Es ist nur die Frage, wofür wir sie nutzen. Ich jedenfalls nehme mir ab und zu Zeit, meine Hände einzucremen.