Geteilter Ärger

Im Garten beim Zurückschneiden und Häckseln; die Sonne scheint. Wir kommen gut voran, quatschen ein bisschen, scherzen und nähern uns dem Ende. Als vorletzten Busch für heute stutzt mein Mann eine Korkenzieher-Hasel – großzügig, denn wir hatten sie jahrelang wachsen lassen. Die verdrehten Äste lassen sich nicht gut häckseln und wir kommen gar nicht mehr gut voran. Mein jüngster Sohn und ich häckseln jetzt schweigend und ernst vor uns hin, dann hilft auch mein Mann.

Es ist eine mühselige Angelegenheit, immer mal wieder unterbrochen davon, dass der eine oder andere sich kurz abwendet: Ausdruck mühevoll unterdrückten Frusts. Zwischendurch würde ich am liebsten jemanden anschreien oder alles kurz und klein schlagen. Aber ich tue es nicht, denn niemand und nichts ist schuld an der Misere. Also beiße ich mich durch, genau wie Mann und Sohn.

Ich staune mal wieder, wie viel Ärger in mir steckt: in diesem Fall nur, weil eine Arbeit nicht geschmeidig vorangeht. Es ist gut, diesem Ärger keinen Raum und dadurch auch keine Macht über mich zu geben – und es fällt mir viel leichter, weil wir zu dritt hier stehen. Irgendwann sind wir fertig, denn auch unangenehme Tätigkeiten sind am Ende nur eine Frage von Zeit, Fleiß und Geduld.

Arbeit versus Leben?

Menschen wünschen sich eine vier-Tage-Woche, eine geringere Wochenarbeitszeit oder sonst etwas in der Richtung. Das Ziel ist eine bessere work-life balance, was zu bedeuten scheint, möglichst wenig zu arbeiten und möglichst viel zu leben. Es klingt, als hätte unsere Arbeit nichts zu tun mit unserem Leben, fast so, als würden beide sich gegenseitig ausschließen – als ob ich umso weniger lebe, desto mehr ich arbeite.

Sehe ich meine Arbeit nur als leider notwendiges Übel, um meine Rechnungen zu bezahlen, dann ist die Lösung natürlich, mit minimaler Arbeit maximal Geld zu verdienen. In diesem Fall wären Langzeitarbeitslose die glücklichsten Menschen unter der Sonne – beglichene Rechnungen vorausgesetzt.
Empfinde ich dagegen meine Arbeit als etwas sehr Befriedigendes, dann bin ich (glücklich) rund um die Uhr damit beschäftigt, ohne Zeit zum Leben zu haben. Beide Szenarien sind natürlich Quatsch.

Klüger wäre es, Arbeit als zum Leben zugehörig zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Denn stimmt es einfach nicht, dass wir entweder arbeiten oder leben. Schließlich leben wir rund um die Uhr und arbeiten deutlich länger als von 8 bis 5. Generationen vor uns wussten sehr genau: Leben ist (manchmal harte) Arbeit – auch abseits des Broterwerbs. Daher werde ich, solange ich lebe, höchst selten arbeits-los sein – auch abseits des Broterwerbs. Oft fühle ich mich gerade dann am lebendigsten, wenn ich etwas tue, was einem anderem dient.

Ich bezweifle, dass meine work-life balance sich verbessert, sobald ich weniger arbeite und dafür in der Freizeit mehr erlebe. Ausbalancierter werde ich eher, wenn ich meine Perspektive ändere und dankbar bin, in meinem Leben eine (wie auch immer brauchbare) Arbeit erledigen zu können – egal, ob für Lohn oder nicht. Es ist müßig und nicht besonders schlau, Arbeit und Leben in ein Gleichgewicht bringen zu wollen. Generationen vor uns wussten auch das.

Ich war nicht gemeint …

Kurz vor dem Ende meiner Laufrunde muss ich eine Straße kreuzen, auf der viele Autos an der Seite parken. Von vorn kommt ein Mercedes; der Fahrer macht das Aufblendlicht an und will mich offenbar durchlassen. Ich lächle und will mich winkend bedanken, da kommen mir Zweifel – und ich schaue mich um. Siehe da, hinter mir ist ein anderes Auto auf Kollisionskurs, dessen Fahrer eine Ausweichmöglichkeit zwischen den parkenden Autos sucht. IHM will der Mercedes-Fahrer die Vorfahrt gewähren, nicht mir.

Bis die beiden das unter sich ausgemacht haben, bin ich über die Straße und weg. Es wäre sehr aufmerksam und rücksichtsvoll gewesen, denke ich, aber ich war nicht gemeint … 

Gern wieder!

Wir besitzen nur ein Auto und das steht tagsüber auf dem Parkplatz vor dem Büro, in dem mein Mann (seit einigen Monaten) seine Arbeitstage verbringt. Wenn ich während dieser Zeit für irgendetwas ein Auto brauche, muss ich mir eins leihen. Nicht jeder verborgt seinen fahrbaren Untersatz gern und bereitwillig; man hört das an den zögerlichen Reaktionen: Sie sind nicht eindeutig ablehnend, aber weder herzlich noch einladend. Es ist nicht leicht für mich, trotzdem darum zu bitten. Diese Woche fragte ich eine Freundin, die mir bisher aus unerfindlichen Gründen nicht eingefallen war. „Na, klar, wann brauchst du es“, war ihre spontane Antwort und einige Augenblicke später: „Soll ich dich fahren? Dann musst du das Auto nicht holen und wiederbringen.“ Soweit ging meine Bequemlichkeit dann doch nicht: Ich holte das Auto ab und stellte es zwei Stunden später wieder vor ihre Tür. „Gern wieder!“, schrieb sie mir am Abend und ich dachte: Genau!

Mein ostwestfälischer Schatz

In einer Tageszeitung, die ich digital abonniert habe, lese ich einen Artikel über die Ostwestfalen. Mein Mann weist mich darauf hin: Er ist selbst einer, genau wie der Autor. Sie gälten wahlweise als stur oder spröde, steht da, mundfaul oder schüchtern, engstirnig oder langweilig, aber eigentlich seien sie doch ganz nett – still halt. Von Geradlinigkeit und Bodenständigkeit ist die Rede, ebenso von ostwestfälischer Schaffenskraft und Zurückhaltung. „Die Selbstdarstellung ist nicht sein Ding“, lese ich. Und dass die Deutschen auf Vieles verzichten müssten ohne den Erfindergeist und den Fleiß dieses Völkchens in der Provinz zwischen Hannover und Dortmund. Stolz auf seine Erfolge empfinde der Ostwestfale durchaus, teile ihn aber lieber in der Familie als mit der breiten Öffentlichkeit. Und zu guter Letzt: „Neuerungen werden durchweg mit einer gewissen Skepsis betrachtet … Mehr Begeisterung wäre Übermut – und der tut ja bekanntermaßen selten gut. Vielleicht bräuchte Deutschland einfach mehr Ostwestfalen?“

Der Artikel ist wertschätzend und humorvoll geschrieben; in sehr vielen Bemerkungen erkenne ich meinen Mann wieder und seine erweiterte Sippe. So geballt bringt mich die liebevolle Aufzählung ostwestfälischer Eigenarten mehrmals zum Schmunzeln. Am Ende bin ich neu dankbar, dass ich bei der Wahl meines Ehemannes gerade an diesen geraten bin – wundere mich aber nicht: Ich hatte eben schon damals das richtige Gespür für verborgene Schätze.

Der Ritterschlag

Seit einiger Zeit löse ich das ZEIT-Rätsel und schicke meinem Schwiegervater mein Ergebnis per Mail – teilweise mit kleinen Lücken. Gern hilft er mir bei dem, was mir bis zuletzt unklar geblieben ist. Er hat mehr Erfahrung im Um-die-Ecke-Denken und ein breiteres Allgemeinwissen. „Nicht verzweifeln“, schrieb er mir ganz am Anfang und nach meinem dritten gelösten Rätsel: „Du machst dich.“ Vorgestern durchzuckte mich ein Geistesblitz, eine nachträgliche Erklärung für ein Lösungswort, das sich `so ergeben hatte´. Als ich meinen Schwiegervater daran teilhaben ließ, schrieb er zurück: „Eine sehr gute Idee, ich kann viel von dir lernen.“ Der Ritterschlag.

Nicht nur irgendein Feiertag

Passend zum gestrigen Tag der Deutschen Einheit finde ich in der ARD-Mediathek `Ballon´: einen Film über die Flucht zweier Familien aus der DDR in einem Heißluftballon. Eine ehemalige Kollegin meines Mannes flüchtete mit Eltern und Geschwistern in den Kofferräumen dreier Autos. Ich selbst kenne Menschen, die lange vor dem Mauerfall ausreisen durften, nachdem sie jahrelang auf die Genehmigung gewartet hatten. Viele aus meinem damaligen Bekanntenkreis verließen die DDR im Sommer 1989 – über die Prager Botschaft oder Ungarn. Die meisten schafften es in den Westen, aber da war der Osten eh schon am Ende.

Die Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik ist nicht zu vergleichen mit dem, was Menschen aus Krisen- oder Kriegsgebieten heute auf sich nehmen, um nach Europa zu kommen. Aber auch diejenigen, die zwischen 1961 und 1989 die DDR verlassen wollten, waren bereit, ALLES hinter sich zu lassen: Besitz, Freunde, Arbeitsstelle, Verwandte …, Heimat. Eine eventuelle Rückkehr war nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen; das Wiedersehen alter Freunde sehr unwahrscheinlich oder zumindest in weite Ferne gerückt.

Viele meiner Freunde und Bekannten hier und heute sind entweder zu jung für die Erinnerung an den Mauerfall oder einfach nicht betroffen. An ihnen ist der Osten heute nicht näher dran als vor 35 Jahren. Das ist nicht gut oder schlecht, es ist einfach so; mir geht es mit dem Saarland ganz genauso – und mit Thüringen. Ich bin die Letzte, die noch unterscheiden möchte zwischen Osten und Westen, kann aber diesen Teil unserer Geschichte nicht vergessen. In meinem Herzen bin und bleibe ich `Eine von drüben´. Die ehemaligen Wachtürme an der A2 erinnern mich die Grenze, die ich 19 Jahre lang nicht passieren durfte. Der Film `Ballon´ erzählt nicht nur eine wahre Begebenheit, sondern hat etwas mit meiner Geschichte zu tun. Ich kann ihn nicht schauen, ohne zu weinen und sehr dankbar zu sein: dass die Zeit des geteilten Deutschlands vorbei ist. 

Noch nicht, aber schon!

Vor mir liegt ein schwieriges Gespräch, das eigentlich gar nicht schwierig ist … Aber ich ahne, dass ich mich unter Druck fühlen werde, die Erwartungen zu erfüllen, die an mich herangetragen werden. Denn im Vorfeld erläuterte mir meine Gesprächspartnerin ihre sehr klaren Vorstellungen einer künftigen Zusammenarbeit. Weil wir uns kennen, fällt es mir schwer, mich nicht verpflichtet zu fühlen. Ich wäre in dem Gespräch gern selbstbewusst, freundlich und klar und bete darum, dass ich es sein kann.

Das Gespräch verläuft dann anders, als ich hoffte: Ich fühle mich eben nicht frei, sondern unter Druck, dass ich den Auftrag nicht nur übernehme, sondern auch zu einem guten Preis. Dadurch winde ich mich ein wenig, schaffe es aber, mir Bedenkzeit zu erbitten. Es hätte besser laufen können, denke ich später – und bin trotzdem zufrieden mit mir: Vielleicht war ich nicht super selbstbewusst, aber ich habe mich nicht zu einer vorschnellen Entscheidung drängen lassen. Dafür bin ich dankbar.

Nicht immer werden meine Gebete in Gänze so erhört, wie ich es mir vorstelle – besonders auch, was meine persönliche Entwicklung angeht. Man ändert sich eben nicht über Nacht und macht eher kleine Schritte als große Sprünge. Es ist an mir, ob ich mich ärgere über das, was noch nicht ist, oder dankbar bin für das, was schon ist.

Früher oder später fertig

Im Supermarkt an der Kasse steht ein Mann vor mir, den ich kenne: Sein jüngstes Kind war mit meinem jüngsten Kind im Kindergarten. Ob mein Jüngster jetzt auch schon in der Ausbildung sei, fragt er mich, seine Tochter habe gerade angefangen. Ich verneine, mein Sohn ist erst in Klasse zehn. Ach so, sagt er, bei ihm seien jetzt alle fertig mit ihrer Ausbildung, das sei schön.

Das Gespräch hallt in mir nach; von meinen Kindern ist noch keins fertig mit irgendwas, das wird noch dauern. Ich rechne: Geht man nach der zehnten Klasse ab und lernt einen Beruf, dann ist man mit 19 Geselle – und steht spätestens dann auf eigenen Füßen. Macht man stattdessen nach 13 Jahren Schule sein Abitur und studiert hinterher, fängt man erst mit 24 Jahren an, finanziell unabhängig zu werden. Dazwischen gibt es Schattierungen in grau (sozusagen), schließlich wählen immer mehr Abiturienten einen Ausbildungsberuf.

Menschen sind unterschiedlich begabt und wollen nicht alle dasselbe machen; ein Weg ist nicht besser oder schlechter als der andere. Zwischen den einzelnen Möglichkeiten liegen drei bis acht Jahre, bis die Kinder fertig werden. Was mir in dem Moment aufgeht: Von unseren fünf Sprösslingen könnten schon drei in ein sehr langes, vor ihnen liegendes Arbeitsleben eingestiegen sein. Sind sie aber nicht.

Egal, für welchen beruflichen Werdegang unsere Kinder sich entscheiden und wo sie mal landen. Ich wünsche ihnen, dass sie etwas finden, was ihren Gaben entspricht und sie (bei allen Herausforderungen) zufriedenstellt – wie bald auch immer. Dennoch freue ich mich, dass wir ihnen diese paar mehr Jahre ermöglichen können, in denen sie einfach noch nicht fertig sind.

Keine Pronomen! Und wieso ist das wichtig?

In einer Zeitschrift lese ich kurze Portraits von jungen Studenten in Sachsen, die von sich erzählen: was sie machen, was ihnen wichtig ist, wo sie sich engagieren, ob sie in der Stadt bleiben oder aufs Land zurückgehen möchten. Zwei von ihnen schreiben gleich nach ihrem Namen: „… ich benutze keine Pronomen …“ Das bedeutet meines Wissens, dass sie sich als non-binär definieren, eine geschlechtliche Zuordnung (oder Nicht-Zuordnung). Ich frage mich, warum sie das erwähnen. Keine(r) von den anderen schreibt, dass er oder sie ein Mann oder eine Frau ist.

Die Information zum jeweiligen Geschlecht ist ja auch total unwichtig in dem Zusammenhang – und im Grunde überhaupt. Sie ist irrelevant dafür, was man studiert, wofür man sich engagiert, welche Hobbys man hat und auch ob man lieber auf dem Land oder in der Stadt wohnt. Meiner Wahrnehmung nach kämpfen Menschen, die sich keinem eindeutigen Geschlecht zuordnen wollen, genau dafür: dass dieses eben keine Rolle spielt. Daher empfinde ich es als paradox, dass sie sich dennoch so explizit über ihre Geschlechtlichkeit definieren.